Symposium Rödermark, 11. Okt. 14 Profil Naturphilosophie: Quantenphysik verstehen
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1 Symposium Rödermark, 11. Okt. 14 Profil Naturphilosophie: Quantenphysik verstehen Michael Esfeld Université de Lausanne 1
2 Naturphilosophie Aristoteles (4. Jhr. v.chr.): physis: der Bereich dessen, was durch sich selbst existiert; Physik: die Wissenschaft dieses Bereichs Metaphysik: die allgemeinen Prinzipien des Seienden Newton: Philosophiae naturalis principia mathematica (1687) Physik und Philosophie in einem: Physik auf der Grundlage der Definition grundlegender Naturbegriffe contra Positivismus: mathematischer Formalismus spricht nicht für sich selbst contra Metaphysik aus dem Lehnstuhl: ohne empirische Sachkenntnis keine Erkenntnis über die Natur Aristoteles, Descartes, Leibniz, Newton, Einstein
3 Drei Fragen 1) Was ist die Materie? 2) Was sind die Eigenschaften der Materie, so dass bestimmte Gesetze deren zeitliche Entwicklung beschreiben? 3) Wie folgen aus dem, was die zeitliche Entwicklung der Materie bestimmt, die beobachtbaren Phänomene?
4 Klassische Mechanik (Newton) 1) Was ist die Materie? Konfiguration von Teilchen im Raum (Teilchen = Raumpunkt besetzt statt leer) 2) Was sind die Eigenschaften der Materie, so dass bestimmte Gesetze deren zeitliche Entwicklung beschreiben? Masse, Ladung Kräfte (Gravitation, Elektromagnetismus) Kraftgesetze d(mv) dt = F Gesetze, welche die zeitliche Entwicklung (= die Bewegung) der Teilchen im Raum beschreiben
5 Klassische Mechanik (Newton) 3) Wie folgen aus dem, was die zeitliche Entwicklung der Materie bestimmt, die beobachtbaren Phänomene? Makro-Objekte sind aus Teilchen zusammengesetzt; deren Verhalten erklärt sich durch die Anordnung der Teilchen und die Kräfte, welche die Teilchen aufgrund ihrer Masse und Ladung erzeugen
6 Quantenmechanik: das Problem Schrödinger-Gleichung gibt zeitliche Entwicklung der Wellenfunktion eines Systems an erlaubt es, Wahrscheinlichkeiten für Messergebnisse von Observablen zu berechnen zeitliche Entwicklung dieser Wahrscheinlichkeiten i Y t t = H Y t
7 Quantenmechanik: das Problem Schrödinger-Gleichung beschreibt nicht Übergang zu der Tatsache, dass Messung ein bestimmtes Ergebnis hat beschreibt nicht zeitliche Entwicklung des Systems von einer Messung zur nächsten: Observablen beschreiben, wie sich Quantenobjekte in Mess-Situationen verhalten. Quantenobjekte antworten auf diese Fragen aufgrund ihrer Eigenschaften. Aber Observablen sind nicht Eigenschaften von Quantenobjekten. keine Antwort auf die drei Fragen i Y t t = H Y t
8 unreflektierte Schnellschüsse QM gibt Messungen / Beobachtern eine Sonderstellung in der Natur (Kopenhagen) keine Definition von Messungen / Beoachtern möglich; Messgeräte physikalische Systeme, Messungen physikalische Interaktionen, Beobachter aus unbelebter Materie entstanden QM erfordert es, logische Gesetze zu ändern (Quantenlogik) kein Resultat QM sagt, dass es Wahrscheinlichkeiten in der Natur gibt (im Unterschied zu Wahrscheinlichkeiten in der klassischen Physik, die ungenaues Wissen betreffen) Schrödinger-Gleichung deterministisch; Wahrscheinlichkeiten für Messergebnisse
9 unreflektierte Schnellschüsse QM erfordert eine Ontologie von Möglichem statt Faktischem (Heisenberg) alles, was möglich ist, basiert auf Faktischem (= Wirklichem) QM macht nur Aussagen über Messungen, lässt keine Aussagen über physikalische Wirklichkeit zu (Kopenhagen, Quanten-Bayesianismus) Formalismus erlaubt, Theoreme zu formulieren, die Aussagen über die physikalische Wirklichkeit machen, nämlich dass diese nicht klassisch ist Was genau ist an der Wirklichkeit, welche die QM beschreibt, nicht klassisch?
10 Einsteins Kasten (1927) Kasten mit genau einem Teilchen in Rödermark präpariert. Kasten wird in zwei Hälften geteilt. Die eine Hälfte wird nach New York geschickt, die andere nach Tokio. QM-Formalismus: Wellenfunktion stellt Teilchen so dar, dass es über beide Hälften gleich verteilt ist (Superposition) = Wahrscheinlichkeit, Teilchen in New York zu finden, und Wahrscheinlichkeit, Teilchen in Tokio zu finden, ist je 50%. Alice in Tokio öffnet ihren Kastenteil und findet ihn leer vor. Damit steht fest, dass Bob in New York ein Teilchen in seinem Kastenteil findet. QM-Formalismus: Wellenfunktion stellt Teilchen so dar, dass es in Tokio lokalisiert ist ( Kollaps der Wellenfunktion ). 10
11 Das Interpretationsproblem Kollaps der Wellenfunktion: epistemisch, Aktualisieren der uns verfügbaren Information Teilchen ist die ganze Zeit entweder im Kastenteil nach New York oder im Kastenteil nach Tokio (= bewegt sich auf klassischer Bahn). Wenn Alice den Kastenteil in Tokio öffnet, stellt sie fest, wo das Teilchen ist. QM unvollständig: beschreibt Wahrscheinlichkeiten für Messergebnisse, aber nicht reale Entwicklung der Objekte Kollaps der Wellenfunktion: ontologisch, Prozess in der Natur Wenn Alice den Kastenteil in Tokio öffnet, schafft sie die Tatsache, dass ein Teilchen im Kastenteil in New York lokalisiert ist. Einstein: spukhafte Fernwirkung
12 Einstein-Podolsky-Rosen (1935) (EPR) 12
13 Le théorème de Bell 13
14 Bells Theorem (1964) keine Verschwörung : a und b sind unabhängig von λ (Voraussetzung für jedes Experiment) Lokalität: gegeben λ sind a und A unabhängig von b und B (und umgekehrt); die Wahrscheinlichkeit für ein bestimmtes A verändert sich nicht, wenn b und B gegeben sind (und umgekehrt) P (A / a, b, B, λ) = P (A / a, λ) P (B / a, b, A, λ) = P (B / b, λ) Es kann keine Theorie geben, welche mit den Voraussagen der QM überein-stimmt und welche Lokalität erfüllt. Aussage über die Natur & Auflage für jede zukünftige physikalische Theorie 14
15 Quanten-Nichtlokalität klassische Mechanik / klassischer Zustand: lokale Eigenschaften, die jedem Teilchen für sich genommen zukommen (wie Masse, Ladung), bestimmen die Zeitentwicklung der Teilchen QM / Quantenzustand (repräsentiert durch Ψ): Bells Theorem lokale Eigenschaften bestimmen nicht Zeitentwicklung der Quantenobjekte Einstein widerlegt: Quantenobjekte bewegen sich im allgemeinen nicht auf klassischen Bahnen Ψ nicht nur Recheninstrument, muss etwas mit der Wirklichkeit zu tun haben
16 Quanten-Wirklichkeit Problem: Wie kommen wir von Ψ als Instrument, um Wahrscheinlichkeiten für Messergebnisse auszurechnen, zu Y als Beschreibung der Welt? Hypothese: wie Masse und Ladung Eigenschaften je einzelner Teilchen sind, die durch Kräfte deren zeitliche Entwicklung bestimmen, so steht Ψ für eine holistische Eigenschaft letztlich aller Quantenobjekte zusammengenommen, die deren Zeitentwicklung bestimmt. Ψ bezieht sich auf Materiekonfiguration im Raum und bestimmt deren zeitliche Entwicklung; deshalb einsetzbar, um Wahrscheinlichkeiten für Messergebnisse auszurechnen Übergang von der klassischen zur Quantenmechanik: Antwort auf Frage (2) ändert sich; kein Grund, Antwort auf Fragen (1) und (3) zu ändern selbe Objekte: Materiekonfiguration im Raum, anderes Gesetz
17 Bells Überlegung alle Messergebnisse = definiter Ort von Messapparatur Wenn Makro-Objekte im Raum lokalisiert sind, dann sind die Mikro-Objekte, aus denen sie bestehen, auch lokalisiert. Makro-Objekte sind unabhängig davon im Raum lokalisiert, ob jemand sie beobachtet (mysteriös wie lokalisierter Beobachter Makro-Objekte durch Beobachtungsakt lokalisieren könnte). Die Mikro-Objekte, aus denen die Makro-Objekte bestehen, sind unabhängig davon lokalisiert, ob jemand sie beobachtet. Die Mikro-Objekte sind immer lokalisiert. Mysteriös wie lokalisierter Beobachter / Messapparatur mit etwas interagieren könnte, das nicht lokalisiert ist, und dieses lokalisieren könnte. Insofern es Materie im Raum gibt, ist diese auch im Raum lokalisiert (Einstein OK). Einstein falsch: Materie bewegt sich gemäß lokalen Kräften lokalisierte Materie non lokale Kräfte
18 Bells Version (1966, 1982) der Theorie von de Broglie (1927) und Bohm (1952) 1) Teilchenkonfiguration im Raum 2) Gesetz für deren zeitliche Entwicklung: dq dt = vyt Ψ hat die Aufgabe, gegeben den Ort der Teilchen zu t, deren Geschwindigkeit zu t festzulegen Geschwindigkeit jedes Teilchens zu t hängt von Ort aller Teilchen ab; die Bewegung jedes Teilchens trägt Information über alle anderen Teilchen Holismus: Ψ beschreibt Eigenschaft der gesamten Teilchenkonfi-guration (statt Eigenschaft einzelner Teilchen wie Masse, Ladung lokale Kräfte), die deren zeitliche Entwicklung festlegt nicht-lokale Korrelationen erklärt ohne spukhafte Fernwirkung
19 Bells Version (1966, 1982) der Theorie von de Broglie (1927) und Bohm (1952) 3) Wie folgen aus dem, was die zeitliche Entwicklung der Materie bestimmt, die beobachtbaren Phänomene? durch Dekohärenz effektive Wellenfunktionen für einzelne Systeme nicht-lokale Korrelationen & klassische Alltagswelt erklärt: Teilchen im Kasten klassische Bahn, EPR verschränkter Zustand Unkenntnis der exakten Anfangsbedingungen = Unkenntnis der exakten Verteilung der Teilchen im Raum, typische Verteilung QM-Wahrscheinlichkeitskalkül für Messungen herleitbar Zusätzlicher Parameter zu Y: Materiekonfiguration im Raum; aber nicht verborgen und nicht nicht-lokal
20 Schlussfolgerung Quantenphysik beantwortet die grundlegenden Fragen an die Natur ebenso wie jede andere physikalische Theorie Unterschied zur klassischen Physik: Holismus: Eigenschaft der gesamten Materiekonfiguration, repräsentiert durch Ψ, die deren zeitliche Entwicklung bestimmt (statt lokaler Kräfte) offene Fragen beim Übergang von QM zu QFT und QG: (1) was sind die fundamentalen Objekte diskret mit kontinuierlicher Identität (Teilchen mit Trajektorien), diskret ohne intertemporale Identität (Teilchenerzeugung und -vernichtung), kontinuierlich mit kontinuierlicher Identität (Materiefeld); (2) ist das Gesetz der Zeitentwicklung deterministisch oder stochastisch?
21 Naturphilosophie Newton: Philosophiae naturalis principia mathematica Physik und Philosophie in einem: Physik auf der Grundlage der Definition grundlegender Naturbegriffe Diese Einheit geht in der Entwicklung der QM aus kontingenten historischen Gründen verloren (Solvay 1927: Bohr-Heisenberg contra Schrödinger und de Broglie; Feynman: shut up and calculate ) Folge: unreflektierte Schnellschüsse über die Natur & unserer Wissen der Natur Zurück zur Naturphilosophie!
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