Die MISSA ( ) von Dieter Schnebel
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- Gundi Krämer
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1 Magdalena Zorn Die MISSA ( ) von Dieter Schnebel Das Experiment einer Versöhnung sinefonia 17 wolke
2 Dieser Band erscheint als Band 17 in der Reihe sinefonia Magdalena Zorn alle Rechte vorbehalten Wolke Verlag Hofheim, 2012 Umschlaggestaltung: Friedwalt Donner, Alonissos unter Verwendung eines Ausschnitts aus der Partitur der MISSA, koloriert von Dieter Schnebel ISBN
3 Inhalt Vorbemerkung Einleitung Momente der Vermittlung in Leben und Werk Heimat und Neuland Musik und Theologie Das Experiment Heiligungen des Alltags Kunst und Gesellschaft Gesellschaftskritische Impulse Von der Notwendigkeit des Neuen Theologische Bezugspunkte Dialektische Theologie bei Barth, Bultmann und Bonhoeffer Wissendes Nichtwissen bei Barth Entmythologisieung des Neuen Testaments bei Bultmann Bonhoeffers tiefe Diesseitigkeit Schnebels Konzept einer geistlichen Musik Das Geistliche an der Musik Verweltlichung und Entweltlichung Das pneuma: Geist und Atem zugleich Zum Sprachcharakter von Schnebels Musik Verständlichkeit und Unverständlichkeit Musik als Sprache unsagbar und ursprünglich Beispiel: Für Stimmen ( missa est) (1956/69) Verweltlichung des Heiligen und Heiligung des Profanen Grade der Verständlichkeit zwischen Sprache und Musik Zum Kontext der MISSA: Der Werkzyklus Tradition Tradition als Empfangen und Weitergeben Das serielle Prinzip der Vermittlung Avantgarde, Postmoderne, Posthistoire MISSA (I) Zur Einführung Entstehung, Uraufführung, Kritik Zur Entstehungsgeschichte Die MISSA in der Kritik Zur Textgrundlage Der lateinische Messtext und seine Projektionen
4 5.3 Die MISSA als Formelkomposition Zum Begriff der Formel Tradition als Formel Zur Funktion der jüdischen Rezitative Die Geräusche-Schicht der MISSA Weltliches als Musique concrète Zum Klangraum der MISSA MISSA (II) Zu den einzelnen Messsätzen Kyrie Musikalische Parameter und das Prinzip der seriellen Skalierung Christliche Symbolsprache Instrumentalmusik als Sprache Der cantus firmus im Christe Gloria Ekstase und Entrückung im Lobpreis Credo Schnebels theologisches Bekenntnis Zu den Hymnen im Credo Sanctus Mystik und Ekstase Agnus Dei Das reale Drama Coincidentia oppositorum in der MISSA Literatur Abbildungsverzeichnis Anhang 1: Zur Textstruktur der MISSA Anhang 2: Orchesterbesetzung Anhang 3: Tempi der MISSA Anhang 4: Notenbeispiele
5 Vorbemerkung Die vorliegende Publikation widmet sich mit der MISSA einem der geistlichen Hauptwerke des Komponisten und Theologen Dieter Schnebel und dient der Einführung in zentrale Aspekte seines musikalischen und theologischen Gehalts. Mit dieser Veröffentlichung erscheint zugleich die erste Monographie über das Werk. Sie entstand auf der Grundlage einer im Jahr 2008 am Institut für Musikwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München verfassten Magisterarbeit. Die Autorin dankt insbesondere Prof. Dr. Wolfgang Rathert, der die musikwissenschaftliche Abschlussarbeit in wertvollen Gesprächen anregte und den entscheidenden Anstoß zur Veröffentlichung gab. Dem Direktor der Paul-Sacher-Stiftung Basel, Dr. Felix Meyer, gilt mein außerordentlicher Dank für die großzügige finanzielle Unterstützung durch die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Der Leiterin der Evangelischen Stadtakademie München, Jutta Höcht-Stöhr, danke ich für ihre unentbehrlichen Antworten auf meine theologischen Fragen. Carmen Schöpf bin ich für die graphische Umsetzung der Abbildungen und Johanna Zorn für ihre Lektoratstätigkeit zu besonderem Dank verpflichtet. Magdalena Zorn (München/Innsbruck) 7
6 Einleitung Als der Komponist und Theologe Dieter Schnebel im Jahr 2007 über sein Verhältnis zur europäischen Musiktradition sprach, fiel seine Rede bald auf den amerikanischen Komponisten John Cage, mit dem er seit den 1960er Jahren befreundet war: Ich habe Cage sehr geschätzt, aber mir war stets auch bewusst, wie unterschiedlich wir waren. Ich habe mich seit meinem zehnten Lebensjahr mit der Musik Bachs, Haydns, Mozarts und Beethovens beschäftigt. Die klassisch-romantische Musiktradition steckte mir sozusagen in den Knochen. Bei Cage war das ganz anders! Ich besuchte ihn in Los Angeles und trat dort an die pazifische Küste. Da lag dieser riesige Ozean vor mir und ganz weit hinten Japan, China und Indonesien. Dann habe ich mich umgedreht und an den Kontinent gedacht, der sich vor mir nun über 3000 Kilometer hinweg erstreckt, sodann an das Meer, das ihn vom europäischen Festland trennt Europa war aus dieser Perspektive so unendlich weit weg! (Zorn 2007) Cage war in der Weite des amerikanischen Raums groß geworden und zeichnete sich durch einen anderen Umgang mit Zeit aus. Er fühlte sich weder einem kulturellen Traditionsbegriff verpflichtet (vgl. dazu Heilgendorff 2002: 105ff.) noch interessierte er sich besonders für die abendländische Musikgeschichte. Im Gegenteil, als Schnebel Cage Ende der 1950er Jahre kennenlernte, waren ihm weder Schubert noch Bruckner ein Begriff [...], geschweige denn die Musik des Mittelalters (1992b: 62). Trotz ihrer Unterschiedlichkeit gab es kaum einen anderen Komponisten, mit dem Schnebel so häufig in Verbindung gebracht wurde, sodass er im Laufe der Jahre sogar den Ruf erlangte, ein deutscher Cage (Schroeder 1990: 65) zu sein. Seine experimentellen Werke aus den 1960er Jahren zeugten ebenso wie seine musikpädagogischen Projekte aus den 1970er Jahren von der umfassenden Auseinandersetzung mit der Ästhetik Cages (vgl. Schnebel 1978 und 1992b). Zugleich stimmte er in wesentlichen musikalischen Belangen nicht mit seinem amerikanischen Kollegen überein. Als Menschendarsteller (Hirsch 1990: 347) konnte vor allen Dingen Cages Aversion gegen die Kategorie des musikalischen Ausdrucks nie teilen (Zorn 2012). Dabei gehörte Schnebel Anfang der 1950er Jahre selbst einem Kreis europäischer Komponisten an, die Subjektivität aus ihrer Musik ausschließen wollten. Aus der Sicht der Nachkriegsavantgardisten war nach der großen politischen Zäsur durch den Zweiten Weltkrieg auch eine Abkehr vom musikalischen Erbe des 19. Jahrhunderts und seiner romantischen Ausdrucksästhetik notwendig geworden. Kompositionstechnische Regeln sollten für ihre entschieden ausdruckslose und traditionsferne Musik bürgen, und manche von Schnebels Kollegen befolgten diese Maxime offenbar ein Leben lang. So erinnerte er sich im Jahr 2007, dass es in gewissen fundamentalistisch eingestellten Avantgardekreisen selbst in den 1980er Jahren noch verpönt war, tonal zu komponieren (Zorn 2007). 9
7 Einleitung Schnebel, dem auch als Theologe orthodoxe Einstellungen stets unlieb waren, setzte sich jedoch schon relativ bald über diesen Fundamentalismus hinweg und gab seiner Liebe zur europäischen Musiktradition zunehmend nach. Unter dem Überbegriff der Tradition und im gleichnamigen Werkzyklus komponierte er seit den 1980er Jahren sogar wieder für die alten, ehrwürdigen Gattungen (Zorn 2007) Messe, Symphonie und Oper. Seine Traditions-Stücke riefen Verwunderung aber auch Ärgernis (Zorn 2007) bei seinen Kollegen hervor und führten in der Fachliteratur sogar zur Metapher vom Bruch (Kalisch 2005: 37), die auf eine Kehrtwende des Avantgardisten hindeuten sollte. Daneben gab es aber auch Stimmen, die in den Werken des Traditions-Zyklus einen Akt der Versöhnung (Nauck 1995: 28) verwirklicht sahen. In Schnebels MISSA ( ), seiner ökumenisch ausgerichteten, lateinischen Messe für Soli, Chor und Orchester, schien das versöhnliche Moment in der Tat zentral zu sein. Seiner mittleren von insgesamt drei Messen fehlte nämlich der ausgeprägt provozierende Gestus des frühen, experimentellen Werks Für Stimmen ( missa est) ( ). 1 Stattdessen wurden in ihr zeitgenössische Musik in die Form des Ordinarium Missae eingelassen und Avantgarde und Tradition auf diese Weise vermittelt. Das Moment des Brückenschlagens prägte nicht nur die MISSA, sondern Schnebels Leben insgesamt. Es führte bald zu seiner beruflichen Doppelexistenz als Komponist und Theologe sowie zum entschlossenen Versuch, mit neuer Musik zwischen Kunst und Gesellschaft zu vermitteln. Der Verdeutlichung von Schnebels grundlegendem Vermittlungsanspruch dient das erste Kapitel des Buches, das ausgewählte biographische Aspekte und musikhistorische Zusammenhänge beleuchtet. Das Zweite führt anschließend in jene theologischen Konzepte ein, die sein Denken nachhaltig prägten und bis in die MISSA hinein ihre Spuren hinterließen. Wie Schnebel musikalische und theologische Theoriebildung ineinander verzahnte, um daraus seine geistliche Musik abzuleiten, soll das dritte Kapitel veranschaulichen. Das Vierte ist der historisch-ästhetischen Kontextualisierung des Traditions-Zyklus gewidmet und verortet die MISSA im Spannungsdreieck von Avantgarde, Postmoderne und Posthistoire. Ziel dieser in Biographie, Gesamtwerk und Ästhetik Schnebels einführenden und die Werkanalyse vorbereitenden Kapitel ist es, neben den Brüchen auch Kontinuitäten im Œuvre Schnebels aufzuzeigen. Der musikwissenschaftlichen Darstellung der MISSA in Kapitel fünf und sechs folgen sodann abschließende Gedanken zur coincidentia oppositorum, dem philosophischen Programm des Werks. Für die nachstehenden Ausführungen stellten vor allem die zahlreichen Essays und Kommentare Schnebels, die in zwei Bänden vorliegen, eine wesentliche Quelle dar. Unter dem Titel Denkbare Musik (vgl. Schnebel 1972a) sind sämtliche seiner wichtigen Aufsätze aus den Jahren 1952 bis 1972 zusammengestellt. Der Sammelband Anschläge Ausschläge (Schnebel 1993a) umfasst demgegenüber neuere Texte zur Ästhetik und zur Musik ande- 1 Schnebels dritte Messe trägt den Titel missa brevis ( ) und ist ebenfalls Bestandteil des Werkzyklus Tradition. 10
8 rer Komponisten. Zudem dienten Schnebels Gespräche, darunter die beiden Interviews, die er der Autorin in den Jahren 2007 und 2012 gegeben hat, als wichtige Dokumente. Musikwissenschaftler und Theologen setzten sich in der Vergangenheit im Rahmen umfassender biographischer, musikästhetischer und theologischer Betrachtungen bereits eingehend mit dem Hauptwerk Schnebels auseinander: Von der Musikwissenschaftlerin Gisela Nauck stammt die bislang einzige Gesamtdarstellung zu Leben und Werk (vgl. Nauck 2001), die wertvolle Ausführungen zur MISSA beinhaltet. In seiner Schrift Neue Musik als spekulative Theologie (vgl. Gottwald 2003: 85ff.) erörterte der Komponist, Chorleiter und Musikwissenschaftler Clytus Gottwald vor allem die musikphilosophische Substanz der Messe. Heinz-Klaus Metzger verfasste zentrale Aufsätze zu den geistlichen Werken Schnebels, aus denen ihr grundlegend politischer Gehalt hervorgeht (vgl. Metzger 1967, 1990). Constantin Gröhn befasste sich in seiner Dissertation, erschienen unter dem Titel Dieter Schnebel und Arvo Pärt. Komponisten als Theologen (vgl. Gröhn 2006a), schließlich aus der Perspektive eines Theologen mit dem vorliegenden Gegenstand. Neben musikwissenschaftlicher und theologischer Sekundärliteratur erwiesen sich insbesondere philosophische, psychologische und kulturtheoretische Abhandlungen als besonders hilfreich, um Schnebels die Disziplinen verschränkendem Denken Rechnung zu tragen und die ästhetische Vielgestaltigkeit (Freyer 1990: 361) seiner MISSA hinreichend zu erfassen. 11
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