Die einsame Socke Rita

Transkript

1 Die einsame Socke Rita Rita war in dieser Nacht die unglücklichste rot-weiß geringelte Socke der Welt. Mutterseelenallein lag sie auf dem Boden des Kinderzimmers. Ralf, ihr rechter Partner, war verschwunden. Bisher war sie noch nie ohne Ralf irgendwohin gegangen. Hat einer Ralf gesehen?, fragte sie. Vielleicht ist er noch im Badezimmer?, sagte der Clown Alfons. Rita lief ins Bad. Hat einer Ralf gesehen?, fragte sie. Bestimmt ist er in der Waschmaschine, wie alle schmutzigen Socken, meinte der Waschlappen. Der Deckel zur Waschmaschine stand offen. Rita sah hinein. Sie war leer. Ich hab gehört, dass die Waschmaschine ab und zu Socken frisst, behauptete die Seife. Es gibt schließlich in letzter Zeit noch mehr Einzelgänger wie dich! Eine Unverschämtheit!, protestierte die Waschmaschine. Ich hab noch nie 1/8

2 im Leben eine Socke verschluckt. Höchstens mal einen Knopf oder eine Sicherheitsnadel. Und auch das nur, weil sie freiwillig hinter meinen Trommelrand geschlüpft sind, um zu entwischen. Das würde mein Ralf nie tun, schluchzte Rita. Na siehste, antwortete die Waschmaschine. Dann darfst du auch nicht auf die schlimmen Geschichten hereinfallen, die dir andere erzählen. Ich ein Sockenfresser! Pff! Sieh doch mal unterm Bett nach!, riet die Zahnbürste. Die meisten Socken verstecken sich unter den Betten. 2/8

3 Aber auch unter dem Kinderbett war Ralf nicht. Rita suchte ihn auf dem Flur, in der Küche, im Wohnzimmer, in der Besenkammer. Aber Ralf war nirgends zu finden. Du solltest dir einen anderen Partner suchen, riet der Teddybär, als sie ins Kinderzimmer zurückkam. Es gibt Tausende von einsamen Socken auf der Welt. Ich will aber meinen Ralf wiederhaben, jammerte Rita. Weg ist weg, sagte das Krokodil. Hast du ihn etwa ge?, fragte Rita entsetzt. Ich denke nicht mal im Traum daran, mir den Magen mit einer Stinkesocke zu verderben, protestierte das Krokodil. Nun werde nicht beleidigend, schluchzte Rita. Mein Ralf stinkt nicht! Nur - tick - mit - tick - der - tick - Ruhe. Wer - tick - suchet, -tick- der -tick- wird - tick - finden, tickte die Wanduhr, deren großer Zeiger mittlerweile schon auf die Morgenstunden vorrückte. Du solltest dich hinlegen und schlafen, liebe Rita, riet die Puppe. 3/8

4 Ja, gib endlich Ruhe, klagte die Prinzessin aus dem Kasperletheater. Man kriegt ja kein Auge zu wegen deiner ewigen Sucherei. Ab ins Bett mit dir, sonst fange ich an zu klingeln!, drohte der Wecker. Todmüde zog sich Rita auf den zusammengeknüllten Pullover zurück, der auf dem Stuhl neben dem Bett lag. Erschöpft schlief sie ein. Am nächsten Morgen, als die ersten Sonnenstrahlen durchs Fenster fielen, schlief sie immer noch. 4/8

5 Auch als der Wecker klingelte, wachte sie nicht auf. Aber dann stand das Kind auf. Es machte ziemlichen Krach. Die Mutter kam herein und hob den Pullover hoch. Da fiel Rita auf den Boden. Schon wieder eine einzelne Socke!, rief die Mutter. Und warf Rita in den Papierkorb. Da stand das Kind auf. Als es in seine Jeans schlüpfte, fiel eine zerknüllte rotweiß gestreifte Socke heraus. Rita! Wo ist meine Rita?, rief die Socke. Doch die dummen Menschen, die die Sockensprache nicht verstanden, hörten es nicht. Aber Rita! Hier bin ich!", rief sie. Im Papierkorb. Du kannst mich nicht sehen. Aber hören!, sagte Ralf und hüpfte zu ihr hin. Als das Kind beim Frühstück war, warfen der Teddy und das Krokodil mit 5/8

6 vereinter Kraft den Papierkorb um, damit Rita herausschlüpfen konnte. War das eine Freude, als sich Ralf und Rita wiederhatten! Na so was! Da ist ja die zweite Socke, sagte die Mutter, als sie ins Kinderzimmer kam, um die Betten aufzuschütteln. Stattdessen schüttelte sie verwundert den Kopf, als sie im Papierkorb nachschaute. Dabei hätte ich schwören können, dass ich die andere gerade hineingeworfen habe! Aber so kann sich auch eine Mama manchmal irren. 6/8

7 Die einsame Socke Rita Geschichte aus: Erst ich ein Stück, dann du - Das große Buch der Gutenachtgeschichten Autor: Ursel Scheffler Illustration: Maria Bogade Verlag: cbj Alterseinstufung: ab 5 Jahren ISBN: /8

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