Nordgrat des Bec d Epicoune, wenige hundert Meter unter dem Gipfel

Transkript

1 Proposte di gite Tourentipp Foto: Laurent Scheurer Suggestions de courses Bec d Epicoune und Aiguillette à la Singla Skitouren bei Arolla Wer die dreitägige Rundtour von Arolla zu Bec d Epicoune und Aouille Tseuque unternimmt, kann eine bekannte Region abseits der Touristenströme durchqueren. Diese Vorschläge richten sich an erfahrene Tourenfahrer, denn der Schwierigkeitsgrad liegt zwischen «ziemlich schwierig» und «sehr schwierig». Haute Route, Patrouille des Glaciers, Pigne d Arolla es ist wohl überflüssig, die Region Arolla vorzustellen. Ihr Ruf als viel besuchtes Tourengebiet soll aber nicht etwa jene abschrecken, die Unberührtheit und Einsamkeit schätzen. Problemlos können hier sehr schöne Touren abseits von Skifahrerhorden unternommen werden. Die auf der Grenze zu Frankreich liegenden Gipfel Bec d Epicoune, Aouille Tseuque und Pointes d Oren ermöglichen eine Tour über dem Glacier d Otemma und der Haute Route. Von Arolla zum Bivouac de l Aiguillette à la Singla An einem sonnigen Wochenende Ende Saison schnallen wir wenige hundert Meter vom Parkplatz in Arolla die Ski an. Wir suchen eine Spur, die uns erlaubt, die Ski bis zur Moräne anzubehalten. Hinter uns ragt die Aiguille de la Tsa stolz wie eine Kathedrale in den Himmel. Sobald wir aus dem Wald treten, liegt mehr Schnee, und wir erreichen den Glacier de Pièce, den wir auf seiner rechten Seite bis zur Cabane des Vignettes CAS hochsteigen. In der Nordwand des Pigne d Arolla, die in den letzten Jahren weniger Schnee erhalten hat, sind im oberen Teil zahlreiche Felsen sichtbar. Bei der Hütte machen wir Halt für ein Picknick. Weil wir die einzigen Mittagsgäste sind, hat die Hüttenwartin Zeit für ein Schwätzchen. Als wir wieder aufbrechen, verdichten Nordgrat des Bec d Epicoune, wenige hundert Meter unter dem Gipfel sich die Wolken, und die Orientierung wird schwieriger. Im Col de Charmotane ziehen wir die Felle ab, gleiten über den Glacier d Otemma und peilen dabei den NW-Sporn der Singla an. Wir sind mitten in einer vergletscherten Welt, ohne irgendwelche Zivilisationsspuren. Schliesslich steigen wir den Glacier de Blanchen hinauf ins Bivouac de l Aiguillette à la Singla CAS. Grossartig, dass wir allein sind für die Nacht! Dank dem auf dem Dach schmelzenden Schnee steht ein wenig Wasser zur Verfügung, und im Innern der Hütte ist es fast warm. Nur der Wind unterbricht die Stille. Aber schliesslich begleitet er uns in dieser unberührten und so ruhigen Natur in einen tiefen Schlaf. Vom Bivouac de l Aiguillette zum Bec d Epicoune und zurück Wir stehen früh und bei Kälte auf. Nach einem schnellen Frühstück im Stehen schnallen wir die Ski an. Während der Mond noch über der Aouille Tseuque steht, beleuchten bereits die ersten Sonnenstrahlen den Gipfel des Pigne d Arolla. Es wird ein wunderschöner Tag werden. DIE ALPEN 1/

2 TOURENTIPP Blick vom Bec d Epicoune nach Osten auf die Dent d Hérens, das Matterhorn und das Monte- Rosa-Massiv Fotos: Laurent Scheurer

3 Der Schnee ist gefroren, und wir folgen dem linken Rand des Glacier d Otemma bis an sein Ende oberhalb des Jardin des Chamois. Wir steigen erst auf der Moräne, dann auf der rechten Seite des Glacier d Epicoune bis zu einer Terrasse auf. Von hier sieht man den Bec d Epicoune. Der Hang wird vor dem N-Grat steiler und zwingt uns, die Steigeisen anzuziehen. Rund 200 m südlich von P stehen wir am N-Grat, einer unglaublich ästhetischen Linie, luftig und unberührt. Wir folgen ihm bis zu den Gipfelfelsen, die wir erklettern. Der Blick vom Gipfel des Bec d Epicoune bietet ungewohnte Perspektiven. Die Abfahrt über die Aufstiegsroute ist technisch anspruchsvoll und bis 3000 m ausgesetzt, denn die Hänge sind steil, stellenweise bis 40 bis 45. Wir kurven etwas zögerlich hinab, geniessen aber auch die Herausforderung, welche die Steilheit des Geländes stellt. Weiter unten toben wir uns dann in weichem Schnee aus. Welche Erleichterung zu wissen, dass der technische Teil des Tages hinter uns liegt! Wir brauchen noch Praktische Informationen Route: Arolla, 2006 m Cabane des Vignettes CAS Bivouac de l Aiguillette à la Singla CAS, 3179 m; 1433 m Aufstieg, 260 m Abfahrt; 6 Std.; ZS Bivouac de l Aiguillette à la Singla Bec d Epicoune, 3531 m Bivouac de l Aiguillette à la Singla; 1700 m Aufstieg, 1700 m Abfahrt; 9 Std.; S bis SS; Bedingung für die Besteigung des Bec d Epicoune ist gut verfestigter Schnee! Bivouac de l Aiguillette à la Singla Aouille Tseuque, 3554 m Pointes d Oren, 3535 m-arolla ; 1100 m Aufstieg, 2200 m Abfahrt; 8 Std.; ZS bis S Std. unter brütender Sonne für den Aufstieg ins Biwak. Den Nachmittag verbringen wir damit, den Lawinen zuzusehen, die von den Portons hinabstürzen. Karten/Führer: LK 1:25 000, Blatt 1346 Chanrion, 1347 Matterhorn, 1366 Mont Vélan; LK 1:50 000, Blatt 283 S Arolla und 293 Valpelline. Stéphane Albasini, Ski alpin Bas- Valais. Du lac Léman au vallon de Tourtemagne, Verlag SAC, Bern Unterkunft: Bivouac de l Aiguillette à la Singla, 12 Plätze, Decken, Kochutensilien (Gaskartuschen mitnehmen), Reservation bei Claude-Alain Montandon, Tel Beste Jahreszeit: März bis Mai Bivouac de l Aiguillette Aouille Tseuque Pointes d Oren Arolla Auch am nächsten Morgen ist das Wetter gut. Vom Biwak gleiten wir während einiger hundert Meter über den Glacier de Der Grand Combin und der Glacier du Mont Durand Nordgrat des Bec d Epicoune mit dem Glacier d Otemma DIE ALPEN 1/

4 TOURENTIPP Blick von der Aouille Tseuque auf den Nordgrat des Bec d Epicoune Die Dent d Hérens, die im Col du Petit Mont Collon erscheint Fotos: Laurent Scheurer 16

5 Kleine Schneerutsche in der Nordwand der Pointes d Oren Les Portons, Pigne d Arolla und Col de Charmotane von der Aouille Tseuque aus gesehen l Aiguillette, bevor wir die Felle aufziehen. Vor uns erreichen die ersten Sonnenstrahlen die NE-Wand der Aouille Tseuque, die wir nun schon seit zwei Tagen vor uns haben, liegt sie doch dem Biwak direkt gegenüber. Wir brennen darauf, sie von nahem zu betrachten. Während wir den grössten Teil des Hangs problemlos mit den Ski bewältigen, müssen wir sie über die letzten paar Dutzend Meter unter P tragen. Von hier aus steigen wir wieder mit den Fellen bis zum Gipfel auf. Das Panorama ist grandios: Grand Combin, Pigne d Arolla, Matterhorn, Dent d Hérens, Monte Rosa und Bec d Epicoune, auf dem wir am Vortag gestanden waren. Die Gipfelrast gibt uns Gelegenheit, auch die italienische Seite des Panoramas zu geniessen. Einziges Anzeichen für menschliche Anwesenheit: braungräulicher Smog über dem Aostatal. Die Abfahrt von der Gipfelkuppe ist exponiert und genussreich. Der nachfolgende Hang läuft sanft aus. Wir gehen am Biwak vorbei, nehmen mit, was wir zurückgelassen haben, und gleiten bis zum Glacier d Otemma. Von dort steigen wir in Richtung Col du Petit Mont Collon in einem verlassenen, wilden Talkessel auf. Am Fuss der Pointes d Oren, der wir entlanggehen, liegen die Überreste kleiner Schneerutsche, die an Faltenwürfe eines Vorhangs erinnern. Wir steigen hinauf und fahren auf der anderen Seite hinunter, um den Col de l Evêque zu erreichen und treffen hier zu unserem Leidwesen auf Scharen von Sonntagsausflüglern. Unseren Tag beschliessen wir mit der langen Abfahrt über den Haut Glacier d Arolla nach Arolla. Während dreier Tage haben wir eine grandiose Landschaft durchquert und mutterseelenallein zwei Gipfel erstiegen, die von den Hunderten von Alpinisten auf der Haute Route links liegen gelassen werden. Es lohnt sich, etwas mehr Aufwand zu betreiben und gleichsam hinter die Kulissen zu schauen! a Laurent Scheurer, Bulle (ü) DIE ALPEN 1/