Serbien: Behandlung einer schwer behinderten jungen Roma-Frau Gutachten der SFH-Länderanalyse



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Transkript:

Serbien: Behandlung einer schwer behinderten jungen Roma-Frau Gutachten der SFH-Länderanalyse Rainer Mattern Bern, 29. August 2005

Einleitung Aufgrund der Anfrage gehen wir von folgendem Sachverhalt aus: Die 1987 geborene Klägerin ist Roma und Staatsangehörige von Serbien und Montenegro. Sie war vor ihrer Ausreise in Belgrad wohnhaft. Sie ist schwerst mehrfachbehindert. Der Anfrage entnehmen wir ausserdem die Fragen, ob die Klägerin in Serbien medizinisch behandelt werden kann, ob die Behandlung kostenlos zur Verfügung steht bzw. welche Kosten für die Klägerin anfallen. Insbesondere: Können regelmässige Kontroll- und Zwischenuntersuchungen in Form von neurologischen, internistischen Untersuchungen, EEG-Untersuchung und orthopädische Untersuchung durchgeführt werden? Sind die von der Klägerin benötigten Hilfsmittel (Rollstuhl, Sitzschale, Stehständer, sprunggelenksübergreifende Orthesen und Badewannenlifter) kostenlos verfügbar? Ist eine Überwachung und Anpassung der Hilfsmittel an Gewicht, Grösse und Haltung der Klägerin möglich? Ist eine regelmässige physiotherapeutische Behandlung (zwei- bis dreimal pro W oche) möglich? Ist eine Versorgung und pädagogische Förderung der Klägerin in einer Einrichtung für Körper- und Geistigbehinderte in Serbien (kostenlos) möglich und wenn ja welcher Art wäre diese Einrichtung? Wir beobachten die Entwicklungen in Serbien seit mehreren Jahren. Sehr spezifische Fragestellungen klären wir möglichst mit der Hilfe von Organisationen und Personen vor Ort ab, weil wir erfahrungsgemäss so die zuverlässigsten Informationen erhalten. Die von uns beauftragte Menschenrechtsorganisation «Grupa 484» hat die gestellten Fragen einer klinischen Psychologin in Belgrad 1 vorgelegt. Aufgrund ihrer und eigener Recherchen nehmen wir zu den Fragen wie folgt Stellung. 1 Lage des serbischen Gesundheitssystems, besonders in Bezug auf Schwerstbehinderte Das serbische Gesundheitssystem ist wesentlich durch Beiträge der Arbeitnehmer- Innen finanziert. 2 Diese Beiträge gehen an einen Krankenversicherungs-Fonds, der 80 Prozent der Ausgaben abdeckt. Nach der gesetzlichen Idee würde dieser Fonds für alle BürgerInnen einen Krankenversicherungsschutz bilden. Die Verschlechte- 1 2 Die klinische Psychologin G. M. (Name der SFH bekannt) arbeitet an der Klinik für Neurologie und Psychiatrie für Kinder und Heranwachsende in Belgrad. Für «Grupa 484» ist sie in Programmen für Kinder mit geistiger Behinderung und in psychosozialen Programmen für Flüchtlinge tätig. Sie überprüfte die vorliegend gegebenen Informationen gemeinsam mit Ärzten und Sozialarbeitern auf ihre Richtigkeit. International Federation for Human Rights, Serbia: discrimination and corruption, the flaws in the health care system, April 2005. SFH-Gutachten vom 29.8.2005 Seite 2 von 6

rung der Qualität der Gesundheitsdienste, die Ausbildung eines informellen Arbeitsmarktes und Korruption im Gesundheitssystem haben die Effektivität einer Krankenversicherung erschwert und den Anreiz in der serbischen Bevölkerung, Beiträge an den Versicherungsfonds zu leisten, vermindert. Im Verlauf der 1990er Jahre ging die Zahl der Beitragsleistenden stark zurück. Das hat zu einer erheblichen Unterfinanzierung des Gesundheitssystems geführt und dazu, dass sich ein privates Gesundheitssystem auf Kosten des öffentlichen etabliert hat. Viele Ärzte im öffentlichen Sektor haben zugleich Privatpraxen oder Privatkliniken, der private Sektor ist nicht reguliert oder staatlich überwacht. Das kann dazu führen, dass die im öffentlichen Sektor angeblich nicht mögliche Behandlung in der Privatpraxis angeboten wird. Behandlungen, die dort vorgenommen werden, werden von der Versicherung nicht übernommen und sind von den PatientInnen zu bezahlen. Der Haushalt der Regierung hätte zwar die Kosten der unversicherten und verletzlichen Kreise (Arbeitslose, alleinstehende Mütter, Flüchtlinge, Vertriebene, Roma) abzudecken, doch ist es in den vergangenen Jahren nicht gelungen, die entsprechenden Beträge zuzuteilen. De facto werden Behandlungskosten allenfalls in der Primärversorgung übernommen, nicht aber, wenn es sich um komplexe und kostspielige Therapien handelt. Das öffentliche Kliniksystem ist heute ebenfalls weitgehend durch Barzahlungen der PatientInnen an Ärzte und anderes Personal finanziert. Zu den besonders verletzlichen Gruppen zählen in Serbien die körperlich und geistig Behinderten. Unter ihnen ist das Verarmungsrisiko drei Mal höher als bei der übrigen Bevölkerung. Die Dienstleistungen für diese Gruppe sind inadaequat. 80 Prozent der behinderten Kinder leben von ihren Eltern getrennt, es existiert keine Form der Unterbringung in Pflegefamilien. Um die Lage des Gesundheitssystems in Serbien richtig einschätzen zu können, ist entscheidend, der Betrachtung nicht die gesetzliche Lage zugrunde zu legen. Diskriminierung beruht nicht auf offen diskriminierenden Gesetzen. Die Gesetze und Bestimmungen im Gesundheitsbereich sind sogar oft recht fortschrittlich, haben aber wenig mit den gesellschaftlichen Realitäten zu tun. Ausschlaggebend ist viel eher, dass die ökonomischen Voraussetzungen für eine umfassende, bedarfsgerechte oder gar kostenfreie Medizin nicht gegeben sind, und dass die Betroffenen die ihnen theoretisch zustehenden Rechte nicht einklagen. 2 Kostenlose Behandlung, Kontrollen Leistungen aus der Krankenversicherung an die Klägerin kämen überhaupt nur dann in Frage, wenn ihre Eltern Arbeit haben, am Wohnort regulär registriert und beim Arbeitsamt gemeldet sind. Für eine rückkehrende Roma-Familie erscheint eine solche Perpektive unwahrscheinlich. Aber selbst wenn die oben genannten Voraussetzungen erfüllt wären, würden kompliziertere diagnostische und therapeutische Methoden wie Magnetresonanzverfahren oder andere bildgebende Verfahren in der Regel von der Krankenversicherung nicht übernommen. Wegen der knappen Ressourcen und der technischen Limiten könnte die Klägerin nur bei einer Hospitalisierung und nur als Notfall solche Verfahren in Anspruch nehmen. Regelmässige Kontrollen wären möglich, es gibt medizinische Institutionen und Dienste dafür, aber für die meisten der diagnostischen Verfahren gibt es lange War- SFH-Gutachten vom 29.8.2005 Seite 3 von 6

telisten und organisatorische Schwierigkeiten aufgrund technischer und infrastruktureller Probleme (schadhafte Geräte, Mangel an Fachleuten). Oft bleibt in solchen Fällen als Ausweg, die Behandlung/Kontrolle in Privatkliniken oder bei Privatärzten durchführen zu lassen, wofür jedoch die Krankenversicherung nicht aufkommt. Verschiedene Untersuchungs- und Behandlungsmethoden stehen mangels Ausstattung und Material überhaupt nicht zur Verfügung (Molekular- oder genetische Laboruntersuchungen, komplizierte chirurgische und orthopädische Eingriffe). Medikamente sind teuer oder nicht auf dem Markt, so dass die Eltern eines schwerbehinderten Kindes sie in der Regel selbst kaufen müssen. Ohnedies ist die Liste der kostenfreien Medikamente relativ kurz (sie bezieht sich vor allem auf Medikamente für Herzleiden, einige chronische Erkrankungen und die am häufigsten gebrauchten Medikamente). Falls es die Notwendigkeit sehr spezieller Pharmakotherapie gibt, können die Medikamentpreise die finanziellen Möglichkeiten der Eltern rasch übersteigen, insbesondere dann, wenn die Medikamente im Ausland gekauft werden müssen. Beim Auftreten von Komplikationen kann zudem der Einsatz teurer Medikamente wie Corticosteroide nötig werden, die ebenfalls privat bezahlt werden müssen. 3 Hilfsmittel und deren Anpassung Moderne orthopädische Mittel stehen nicht zur Verfügung, sondern müssen im Ausland gekauft werden. Das gilt für sämtliche genannten Hilfsmittel. Ihre Anschaffung wird nicht von der Krankenversicherung übernommen, bestenfalls übernimmt diese einen Teil der Kosten von billigen und alten Modellen (bis zu 10'000 bis 15'000 Dinar, 110-180 Euro), jedoch nur in Ausnahmesituationen, eine solche wäre nach der Einschätzung der klinischen Psychologin im Fall der Klägerin nicht gegeben. Ein neuer Rollstuhl kostet mehrere Tausend Euro, die Kosten dafür sind privat zu tragen. Rollstühle für Personen aus wirtschaftlich schwachen Familien sind gebraucht und oft reparaturbedürftig. Die Bedingungen für eine Anpassung an die individuellen Bedürfnisse von heranwachsenden Kindern sind kaum zu definieren, weil gar nicht genügend Rollstühle als Alternativen zur Verfügung stehen. Erste Voraussetzung für den angemessenen Einsatz der Hilfsmittel ist das Leben in einer Wohnung, die überhaupt Platz dafür bietet, etwa für die Bewegung eines Rollstuhls. Besuche beim Arzt sind grundsätzlich möglich, doch haben die meisten Ambulanzen oder «Health Centres» keinen Lift, um zum Arzt oder ins Labor zu gelangen. Im vorliegenden Fall würde die Patientin den Transport in einem Auto benötigen, das ihrer Familie gehören müsste, weil es keinerlei Transport-Hilfe seitens der sozialen und medizinischen Dienste gibt, ausser in Notfällen. Eine Behandlung oder Betreuung zu Hause käme nur dann in Frage, wenn die Familie das bezahlen könnte. Limiten der Bewegungsfreiheit in den Institutionen des Gesundheitssystems und in Alltagssituationen sind in Belgrad oder in anderen serbischen Städten allgegenwärtig, so ist der Transport eines solchen Kindes mit öffentlichen Bussen oder Trams wegen der hohen Stufen nicht möglich, das gilt auch für Läden, Märkte, Apotheken etc. Es gibt keine Spielplätze für Kinder mit speziellen Bedürfnissen. Nichtregierungsorganisationen bieten zwar Treffpunkte an, jedoch meist für Kinder mit gerin- SFH-Gutachten vom 29.8.2005 Seite 4 von 6

ger geistiger Behinderung oder mit besseren motorischen Fähigkeiten als das bei der Klägerin der Fall ist. Theoretisch wären auch Gelegenheiten für Ferienaufenthalte, intensive Physio- oder Hydrotherapie vorhanden, doch müssen auch dafür die Eltern für die anfallenden Kosten einstehen. 4 Physiotherapie Es gibt Institute für Rehabilitation, die Behandlungen anbieten, doch sind sie nur mit geeigneten Fahrzeugen zu erreichen. Falls eine Physiotherapie im Haus der Patientin möglich wäre, müssten die Eltern eine solche bezahlen. Andere infrastrukturelle Probleme sind alltäglich, so ist zum Beispiel die Physiotherapie-Abteilung in der Klinik, in der die klinische Psychologin tätig ist, wegen Umbaumassnahmen sechs Monate lang geschlossen. 5 Unterbringung von körperlich oder geistig Behinderten Eine Unterbringung von körperlich oder geistig Behinderten würde zwar den gesetzlichen Bestimmungen entsprechen und wäre auch theoretisch kostenfrei. Doch leiden die meisten Institutionen an einem Mangel an ausgebildetem Personal, das zudem auch sehr schlecht bezahlt und demotiviert ist (Monatslohn: 200 Euro). Deswegen sind solche Kinder oft stark vernachlässigt, angefangen von den hygienischen Verhältnissen bis hin zu völliger sozialer Isolierung. Die im Jahr 2000 eingeleiteten Reformprozesse in diesem Bereich sind zum Halt gekommen oder verlaufen sehr langsam. In Belgrad gibt es keine Institutionen für eine dauernde Unterbringung von Kindern mit schwerer motorischer Retardierung, die Eltern hätten zwischen 100 und 200 Kilometer zu reisen, wenn sie die Tochter besuchen möchten, was weitere Kosten verursachen und ein Herausreissen des Kindes aus der Familie bedeuten kann. Die meisten dieser Institutionen sind geschlossene Institutionen, die Unterbringung in ihnen zieht eine Ghettoisierung dieser Kinder und Heranwachsenden nach sich. Pädagogische Massnahmen beschränken sich auf die Aufrechterhaltung hygienischer Regeln, doch gibt es kaum individuelle defektologische Behandlungen 3. Es gibt Institutionen für Kinder mit geringfügigen Einschränkungen, diese setzen auch Beschäftigungs- und Arbeitstherapie ein. Solche Massnahmen bleiben im Fall der Klägerin wegen ihres Behinderungsgrades ausser Betracht. Die Möglichkeit, ein Kind mit so gravierenden motorischen Einschränkungen täglich oder wöchentlich in einer Institution unterzubringen, existiert nicht. 3 «Defektologisch» orientiert sich daran, was der Patient nicht kann; es handelt sich um einen Ansatz, der vor allem in früheren Ostblockstaaten vertreten wird. SFH-Gutachten vom 29.8.2005 Seite 5 von 6

6 Die Situation behinderter Roma-Kinder Zu den Gruppen, die am meisten marginalisiert sind, zählen in Serbien die Roma und die in illegalen Siedlungen untergebrachten Personen (oft ebenfalls Roma). Ihre Wohnungen sind meist ohne hygienische Infrastruktur, sie gehören zu dem Bevölkerungsteil mit den niedrigsten Einkünften, der niedrigsten Bildung und der höchsten Beschäftigungslosigkeit. Die Chancen für die Eltern der Klägerin, eine Arbeit zu finden und so zur Lösung der Behandlungs- und Unterbringungsprobleme der Tochter beizutragen, sind gering. Die vielfache Einschränkung des Kindes bedeutet vollkommene Abhängigkeit und die ständige Inanspruchnahme einer anderen Person zur Unterstützung und Nahrungsaufnahme. Sozialhilfe zu erhalten, wäre für eine solche Familie möglich, doch sind die monatlichen Beiträge niedrig (3000 bis 5000 Dinar, entspr. 35-50 Euro, pro Haushalt). Diese werden unregelmässig ausgezahlt. Die Sozialhilfe ist in keiner Weise geeignet, zusätzlich zum Lebensunterhalt auch medizinische Massnahmen oder weitere, mit der Behinderung der Klägerin in Zusammenhang stehende Aufwendungen zu finanzieren. SFH-Publikationen zu SERBIEN-MONTENEGRO und anderen Herkunftsländern von Flüchtlingen finden Sie unter WWW.OSAR.CH / HERKUNFTSLÄNDER Der Newsletter Länder-Recht informiert Sie über aktuelle Publikationen. Anmeldung unter WWW.OSAR.CH / ASYLPOLITIK SFH-Gutachten vom 29.8.2005 Seite 6 von 6