Wie wirksam ist das Grippemittel Tamiflu? MMag. Bernd Kerschner Mag. Jörg Wipplinger, MA Österreich hat viele Millionen Euro für das Grippemittel Tamiflu ausgegeben im Falle einer Epidemie soll damit den Erkrankten geholfen werden, die Ausbreitung soll zumindest reduziert werden, und es müssten weniger Menschen ins Spital eingeliefert werden. Doch kann Tamiflu das überhaupt leisten? Die Geschichte um das Grippemittel Tamiflu (Wirkstoff Oseltamivir, ein Neuraminidase Hemmer) ist ein Medizin-Krimi um zurückgehaltene Daten und viel Geld. Als 2009 die Schweingrippe berühmt wurde, haben Regierungen Milliarden investiert, um im Falle einer Epidemie das Medikament zur Verfügung zu haben. Die Erwartungen an Tamiflu waren hoch: einer zusammenfassende Bewertung (Meta- Analyse) von 10 klinischen Studien zufolge sollte das Mittel nicht nur die Schwere und Dauer einer Grippeinfektion (Influenza) senken, sondern auch ernste Begleiterscheinungen deutlich reduzieren. Voraussetzung sei die Einnahme innerhalb der ersten 48 Stunden nach Beginn der Symptome das war zumindest das Ergebnis einer Studie, bei der vier von sechs Autoren beim Hersteller Roche arbeiteten und ein fünfter als Berater von Roche bezahlt wurde. Eine Infektion mit Influenza-Viren ( echte Grippe ) äußert sich meistens in Symptomen wie Fieber, Gliederschmerzen, Husten und Mattheit und dauert für gewöhnlich eine Woche oder etwas länger. Es können auch Komplikationen durch zusätzliche bakterielle Infektionen auftreten, beispielsweise Lungenentzündung, gerade bei älteren Menschen oder bestimmten Risikogruppen. Seite 1 von 5
Empfehlungen der internationalen Gesundheitsorganisation WHO sowie nationaler Gesundheitsbehörden zufolge sollte Tamiflu Komplikationen verhindern und die Ausbreitung der Infektionen abschwächen. Die laut Roche 50 prozentige Reduktion von schweren Krankheitsverläufen und die um ebenfalls behaupteten beinahe 60 Prozent reduzierten Aufnahmen in Spitäler waren Argumente für die WHO, um den Wirkstoff Oseltamivir in die offizielle Liste der Essentiellen Medikamente aufzunehmen. Widersprüchen auf der Spur Die Cochrane Collaboration ist eine internationale Vereinigung von Ärzten und Wissenschaftlern, die unabhängig von wirtschaftlichen Interessen Studien zur Wirksamkeit von Medikamenten zusammentragen und analysieren (www.cochrane.at). Die daraus entstehenden Übersichtsarbeiten gehören zu den wichtigsten Informationsquellen, wenn es darum geht, die Wirksamkeit eines Medikaments zu beurteilen. Im Falle von Tamiflu haben Forscher der Cochrane Collaboration Unstimmigkeiten in den Daten der publizierten Studienberichte gefunden, die nicht geklärt werden konnten. Außerdem drängte sich der Verdacht auf, dass nur jene Studien veröffentlicht wurden, die ein positives Ergebnis hatten. Tatsächlich hatte der Hersteller Roche rund 60 Prozent aller Patientendaten nicht veröffentlicht. Daher bemühten sich die Wissenschaftler der Cochrane Collaboration alle Dokumente aus den Zulassungsverfahren zu bekommen; was nach einer langwierigen Medienkampagne und gegen den anfänglichen Widerstand des Herstellers auch gelang. Mit den Daten der Zulassungsbehörden in Großbritannien, USA und Japan und der European Medicines Agency (EMA) waren die Forscher in der Lage, alle vorhandenen Erkenntnisse auszuwerten. Was Tamiflu kann Die Auswertung aller Daten ergab inzwischen, dass der Wirkstoff bei Patienten mit Grippe-Symptomen die Krankheitsdauer im Durchschnitt um weniger als einen Tag verkürzte. Während die Patienten in der Gruppe, die nur ein Scheinmedikament (Placebo) erhielt, knapp 7 Tage (160 Stunden) krank waren, brachte eine Behandlung mit Tamiflu eine um 17 Stunden frühere Genesung mit sich. (http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/14651858.cd008965.pub4/abstract) Seite 2 von 5
Tamiflu ist also prinzipiell wirksam als Medikament, es verkürzt die Krankheitsdauer, wenn man sich eine Grippe eingefangen hat. Doch wie sieht es mit den anderen Behauptungen aus? und was wahrscheinlich nicht Kein Unterschied zeigte sich in der Rate der Grippe-bedingten Spitalsaufenthalte. Diese waren allerdings moderat und betrafen auch ohne Tamiflu-Behandlung nur etwa acht von tausend Patienten. Ob Tamiflu zusätzliche bakterielle Infektionen wie etwa Lungenentzündungen, Bronchitis oder Mittelohrentzündungen verhindern kann, ließ sich ursprünglich aufgrund der fehlenden Daten nicht einschätzen. Die nun vollständig vorliegenden Ergebnisse zeigen: Das Risiko für Lungenentzündungen, Bronchitis oder Mittelohrentzündungen bleibt auch nach der Einnahme von Tamiflu gleich hoch wie bei der Einnahme eines Scheinmedikaments. Schwere Komplikationen einer Influenza kann das Medikament nicht verhindern. Ein wichtiges Argument für die Bevorratung des Arzneimittels für den Fall einer Grippe-Epidemie war die Behauptung des Herstellers, Tamiflu könne die Ausbreitung von Influenza unterdrücken; doch aufgrund von Mängeln in der Durchführung der Studien lässt sich diese Behauptung nicht belegen. Die Cochrane Collaboration kam aufgrund der Auswertung der Zulassungsdokumente (mehr als 160000 Seiten) auch zu dem Schluss, dass für viele Studien sowohl das Studiendesign, die Durchführung, die Berichtsqualität als auch die Verfügbarkeit der Daten problematisch waren. Die Ergebnisse sind also immer noch nur bedingt vertrauenswürdig. Nebenwirkungen Der Vergleich mit Studien eines ähnlich wirksamen Grippemedikaments (Wirkstoff Zanamivir, Markenname Relenza) weckte zudem den Verdacht, dass die unerwünschten Nebenwirkungen nicht korrekt bewertet wurden. In einigen Studien wurden Placebos verwendet, die selbst Nebenwirkungen auslösen dann schneidet das Medikament im Vergleich dazu besser ab. Wurden diese Unterschiede allerdings berücksichtigt, zeigte sich, dass Tamiflu wahrscheinlich rund dreimal häufiger zu Übelkeit und Erbrechen Seite 3 von 5
führte und etwa eineinhalb Mal häufiger Durchfall verursachte als ohne Einnahme des Wirkstoffes. Intelligent entscheiden Aus dem Medizin-Krimi ist inzwischen ein Expertenstreit geworden, gewissermaßen eine normale wissenschaftliche Debatte. Dank einer kritischen Öffentlichkeit und der Cochrane Collaboration liegen alle Daten vor. Doch was heißt das für die Patienten? Und was für die Entscheidungsträger im Gesundheitssystem? Soll Tamiflu weiterhin für viel Geld gehortet werden oder bleibt es jedem einzelnen überlassen, wie er sich mit dem Grippemittel versorgt? Die Cochrane Collaboration empfiehlt jedenfalls, die Richtlinien im Umgang mit Tamiflu neu zu bewerten, ob Österreich dieser Empfehlung folgt bleibt abzuwarten. In anderen Ländern gibt es ein Berechnungssystem, mit dem Gesundheitsmaßnahmen in ihrem Nutzen bewertet werden: Grob gesagt wird berechnet, wie viele Menschen wie stark von einer Maßnahme profitieren und natürlich zu welchem Preis. So wird es möglich unterschiedliche medizinische Investitionen zu vergleichen und Geldmittel sinnvoll einzusetzen. In Österreich werden Entscheidungen nicht so systematisch getroffen, aber es bleibt zu hoffen, dass wenigstens die Wirksamkeit und die Belege zur Wirksamkeit die Grundlage der gesundheitsrelevanten Entscheidungen sind sowohl in der Politik als auch bei allen mündigen Patienten. Quellen: Cochrane Review: Jefferson T, Jones MA, Doshi P, Del Mar CB, Hama R, Thompson MJ, Spencer EA, Onakpoya I, Mahtani KR, Nunan D, Howick J, Heneghan CJ. Neuraminidase inhibitors for preventing and treating influenza in healthy adults and children. Cochrane Database of Systematic Reviews 2014, Issue 4. Art. No.: CD008965. http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/14651858.cd008965.pub4/abstract Medizin-transparent.at über Tamiflu: http://www.medizin-transparent.at/belege-fuer-wirksamkeit-von-grippemittel-tamiflu-fragwuerdig Seite 4 von 5
Über die Autoren: MMag. Bernd Kerschner Mag. Jörg Wipplinger, MA Bernd Kerschner und Jörg Wipplinger arbeiten als Medizinjournalisten für die Österreichische Cochrane Zweigstelle. Sie überprüfen auf www.medizin-transparent.at Gesundheitsberichte österreichischer Tageszeitungen und Magazine auf deren wissenschaftliche Stichhaltigkeit. Die Österreichische Cochrane Zweigstelle ist am Department für Evidenzbasierte Medizin und klinische Epidemiologie an der Donau-Universität Krems angesiedelt. Impressum Im Letter LAUT GEDACHT stellen namhafte und erfahrene Experten Überlegungen zur Umsetzung der Patientenrechte an. Der Letter erscheint unregelmäßig seit Juli 2001 und findet sich auf www.patientenanwalt.com zum kostenlosen Download. Herausgeber: NÖ Patienten- und Pflegeanwaltschaft, A 3109 St. Pölten, Rennbahnstrasse 29 Tel: 02742/9005-15575, Fax: 02742/9005-15660, E-Mail: post.ppa@noel.gv.at Daten und Fakten sind gewissenhaft recherchiert oder entstammen Quellen, die allgemein als zuverlässig gelten. Ein Obligo kann daraus nicht abgeleitet werden. Herausgeber und Autoren lehnen jede Haftung ab. auszugsweise Weiterverwendungen nur mit Zustimmung des Herausgebers. Zitate mit voller Quellenangabe sind zulässig. Seite 5 von 5