Die Stellung der Soziologie innerhalb der geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen



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Transkript:

Die Stellung der Soziologie Die Stellung der Soziologie innerhalb der geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen 1 Einer weit verbreiteten Meinung zufolge hat sich die Soziologie in den letzten hundert Jahren zunehmend von den ihr benachbarten Disziplinen emanzipiert. Wurde sie einstmals noch den Geistes-, Staats- oder Kulturwissenschaften zugerechnet, sei spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts ein Zustand erreicht worden, dem zufolge die moderne Soziologie gemäß einem berühmten Diktum von René König nichts anderes mehr als Soziologie sein möchte. 1 Allerdings wird wohl niemand bestreiten wollen, daß die moderne Soziologie ihrerseits nur eine Teildisziplin der Sozialwissenschaften darstellt, zu denen je nach Standpunkt auch die Politikwissenschaft und die Wirtschaftswissenschaften gehören. Letztere haben sich im vergangenen Jahrhundert zwar ihrerseits von dieser disziplinären Einbindung zu befreien versucht, indem sie zunehmend das Soziale aus ihrem Wahrnehmungshorizont ausgeklammert haben. Insofern stellt sich das Verhältnis der Soziologie zum neoklassischen Mainstream der Wirtschaftswissenschaften etwas spannungsreicher dar als dies noch vor hundert Jahren der Fall war. Zwar hielten so versierte Wissenschaftstheoretiker wie Jürgen von Kempski und Hans Albert noch Mitte des 20. Jahrhunderts an der umstrittenen Einheit der Sozialwissenschaften fest, die ihrer Meinung nach nicht nur die Soziologie und die Politikwissenschaft, sondern auch die modernen Wirtschaftswissenschaften mit einschließt. 2 Dies waren aber Einzelstimmen, welche den weltweiten Siegeszug der als Modellplatonismus bekannt gewordenen abstrakt-mathematischen Form der wirtschaftswissenschaftlichen Theoriebildung nicht zu verhindern vermochten. Heute ist die Diskussion über das spannungsreiche Verhältnis von Ökonomie und Soziologie erneut im vollen Gang. Denn zum einen hat die neoklassische Wirtschaftstheorie ihr Instrumentarium zunehmend auf Bereiche angewendet, 1 René König (Hrsg.), Fischer Lexikon Soziologie. Erweiterte Neuausgabe Frankfurt am Main 1967, Einleitung, S. 8. 2 Jürgen von Kempski, Über die Einheit der Sozialwissenschaft (1956), in: ders., Schriften 2: Recht und Politik. Studien zur Einheit der Sozialwissenschaft, Frankfurt am Main 1992, S. 458-474; Hans Albert, Nationalökonomie als Soziologie. Zur sozialwissenschaftlichen Integrationsproblematik (1960), in: ders., Marktsoziologie und Entscheidungslogik. Ökonomische Probleme in soziologischer Perspektive, Neuwied / Berlin 1967, S. 470-509. Rep.: Soziologie Forum der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Jahrgang 39, Heft 3 2010, S. 279-85.

2 deren Analyse ursprünglich eine Domäne der Soziologie darstellte. Zum anderen macht die Konjunktur der Neuen Wirtschaftssoziologie deutlich, daß sich auch Soziologinnen und Soziologen wieder verstärkt mit Themen und Fragestellungen beschäftigen, die noch bis vor Kurzem als ureigenste Domäne der Wirtschaftswissenschaften galten. Zwar ist man hier noch weit von einer einvernehmlichen Arbeitsteilung entfernt. Aber es bleibt festzuhalten, daß die Dinge inzwischen wieder in Bewegung gera ten sind und daß deshalb das letzte Wort in dieser Angelegenheit noch nicht gesprochen worden ist. Überdies zeigt die im Gefolge der aktuellen Krise des internationalen Finanzsystems provozierte Debatte über die ordnungspolitischen Voraussetzungen von funktionierenden Märkten, daß das am Prinzip des Eigennutzens orientierte Modell des homo oeconomicus inzwischen selbst in den Wirtschaftswissenschaften in die Kritik geraten ist. Auch das Verhältnis zwischen Politikwissenschaft und Soziologie stellt sich spannungsreicher dar, als dies auf den ersten Blick der Fall zu sein scheint. Zwar gibt es in Gestalt der Politischen Soziologie einen Überschneidungsbereich beider Disziplinen, in dem Politikwissenschaftler mit dem gleichen wissenschaftstheoretischen Selbstverständnis und den gleichen Forschungsmethoden wie die Soziologen empirisch arbeiten. Aber die auf eine lange ethische und moralphilosophische Tradition zurückgehende normative Demokratietheorie und die damit verbundene Suche nach einer gerechten Ordnung in den internationalen Beziehungen der Staatengemeinschaft zeigen, daß auch heute noch bezüglich der Möglichkeit der Konstruktion und Begründung normativer Ordnungen himmelweite Meinungsunterschiede zwischen Politikwissenschaftlern und Soziologen zu bestehen scheinen. Denn die Suche nach Kriterien für eine gute Gesellschaft ist innerhalb der Soziologie aus guten Gründen schon seit längerem in den Hintergrund getreten. Hier hat der vor hundert Jahren im Verein für Socialpolitik ausgebrochene Werturteilsstreit zumindest in der Soziologie bleibende Spuren hinterlassen. 3 Denn ihr Selbstverständnis als eine empirisch verfahrende Wissenschaft bewahrt sie heute vor der Versuchung, immer wieder neue kontrafaktische Geltungsansprüche zu vertreten. Es ist insofern kein Zufall, daß im Frankfurter Exzellenzcluster Die Herausbildung normativer Ordnungen bisher keine Soziologin bzw. kein Soziologe als principal investigator mitwirkt. 4 Denn dies stellt eine logische Konsequenz des innerhalb der Soziologie seit ihrer Gründung als einzelwissenschaftliche Dis- 3 Vgl. Dieter Lindenlaub, Richtungskämpfe im Verein für Sozialpolitik 1890-1914, Wiesbaden 1967. 4 Vgl. http://www.normativeorders.net/de/organisation/principal-investigators (Zugriff vom 20.4.2010). www.protosociology. de On Comtemporary Sociology ProtoSociology

Die Stellung der Soziologie 3 ziplin immer wieder zum Ausdruck kommenden Unmut dar, sie nachträglich doch wieder dem überlieferten Kanon der Geistes- und Kulturwissenschaften einzuverleiben. Dieser berechtigte Unmut steht offensichtlich in einem auffallenden Widerspruch zu der schon seit längerem zu beobachtenden internationalen, primär von den Geisteswissenschaften ausgehenden Tendenz dar, die Soziologie nun ihrerseits als eine Kulturwissenschaft zu dekonstruieren und in die zeitgenössischen cultural studies zu integrieren. Vielleicht sollte man in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß kein Geringerer als Max Weber in seiner Auseinandersetzung mit dem neukantianischen österreichischen Rechts- und Sozialphilosoph Rudolf Stammler bereits um 1900 energisch darauf hingewiesen hatte, daß ein strikt erfahrungswissenschaftliches Verständnis von Norm, Geltung, Maximen und legitimen Ordnungen etc. in einem erheblichen Kontrast zu den rein philosophischen Begründungen und Rechtfertigungen von Normativität steht. Der Hiatus zwischen Sein und Sollen läßt sich eben doch nicht vorschnell überbrücken, ohne die schon seit David Hume bewährten erfahrungswissenschaftlichen Kriterien gänzlich über Bord zu werfen. 5 Die diesbezüglich oft anzutreffende legitimatorische Bezugnahme auf die Transzendentalphilosophie von Immanuel Kant führt diesbezüglich schlicht in die Irre. Und auch die auffallende Konjunktur der bereits von Hegel widerlegten philosophischen Vertragstheorien angelsächsischer Provenienz hilft uns diesbezüglich keinen Schritt weiter. 6 Insofern besteht nicht nur bezüglich der Philosophie, sondern auch bezüglich des Verhältnisses der Soziologie zu den modernen Geistes- und Kulturwissenschaften ein erheblicher Klärungsbedarf. Was das Verhältnis der Soziologie zu den Geisteswissenschaften betrifft, sind es primär wissenschaftsgeschichtliche Gründe, die zu einer entsprechenden Distanz zwischen beiden Disziplinen geführt haben. Im deutschen Sprachraum war es insbesondere Wilhelm Dilthey, der in seiner 1883 erschienenen Einleitung in die Geisteswissenschaften im Rahmen seines Versuchs einer Kritik der historischen Vernunft die englische und französische Soziologie des 19. Jahrhunderts als spekulative Geschichtsphilosophie aus dem geisteswissenschaftlichen Kanon ausschloß. Versuche, so etwas wie eine geisteswissenschaftliche Soziologie zu entwickeln, sind in der Folgezeit deshalb sehr selten gewesen und wenig erfolgreich geblieben. Überdies hat auch die Entwicklung der Soziologie 5 Vgl. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 6. Aufl. Tübingen 1985, S. 291 ff.; ferner David Hume, Essays and treatises on several subjects [1770], edited with notes by T. H. Green and the Reverend T. H. Grose, 2. vols., London 1875. 6 Vgl. Manfred Riedel, Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, Frankfurt am Main 1969, S. 42 ff. Rep.: Soziologie Forum der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Jahrgang 39, Heft 3 2010, S. 279-85.

4 im 20. Jahrhundert dazu geführt, daß sich letztere ihrerseits zunehmend von den geisteswissenschaftlichen Disziplinen abzugrenzen begann. Auch das Verhältnis der Soziologie zu den modernen Kulturwissenschaften darf als spannungsreich bezeichnet werden. Zwar waren die nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstandenen Schriften Max Webers, die immer wieder als Beleg für die Möglichkeit einer kulturwissenschaftlichen Soziologie herangezogen werden, zunächst stark von den im südwestdeutschen Neukantianismus entwickelten Verständnis von Kulturwissenschaft geprägt. Je mehr sich Weber nach 1910 jedoch zum Soziologen entwickelte, desto stärker haben sich seine Arbeiten aber von diesem kulturwissenschaftlichen Bezugsrahmen emanzipiert und seinem Werk jene Gestalt gegeben, die ihn als einen der bedeutendsten Soziologen berühmt gemacht hat. 7 Auch der sogenannte cultural turn, der bereits seit längerem weltweit zu beobachten ist und mit dem der Versuch verbunden ist, die traditionellen Geisteswissenschaften in Richtung auf eine universalistische Ansprüche stellende Kultur- und Medienwissenschaft zu modernisieren, hat zu keiner grundsätzlichen Änderung des Selbstverständnisses innerhalb der Soziologie geführt. Zwar ging dieses modische Remake der einzelnen geisteswissenschaftlichen Disziplinen mit einer bemerkenswerten Renaissance der Kultursoziologie einher, die sich auch heute noch als sogenannte Bindestrich-Soziologie großer Beliebtheit erfreut. Der Versuch, die Soziologie insgesamt als eine Kulturwissenschaft zu etablieren, darf jedoch endgültig als gescheitert betrachtet werden. 8 Eingangs wurde gesagt, daß die Soziologie eine Teildisziplin der modernen Sozialwissenschaften darstellt. Von Socialwissenschaft wird gesprochen, seitdem es eine sociale Frage und eine diesbezügliche Socialpolitik gibt. Es handelt sich übrigens um den gleichen Zeitraum, in dem auch die Wissenschaft von der Gesellschaft bzw. die Gesellschaftslehre entstanden ist. 9 Dies wirft die Frage auf, in welchem Verhältnis die Soziologie eigentlich zu den Gesellschaftswissenschaften steht. Im Bundesland Hessen wurden Anfang der 1970er Jahre Fachbereiche gleichen Namens gegründet, bei denen in Kassel neben der Politikwissenschaft und der Soziologie auch die Geschichtswissenschaft 7 Vgl. Pietro Rossi, Vom Historismus zur historischen Sozialwissenschaft. Heidelberger Max Weber-Vorlesungen 1985, Frankfurt am Main 1987, besonders S. 20-62. 8 Vgl., Soziologie als Kulturwissenschaft? Zur Rolle des Kulturbegriffs in der Selbstreflexion der deutschsprachigen Soziologie, in: Soziologie. Forum der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Heft 1 (2001), S. 5-21; ders., Der Streit um den Kulturbegriff in der Soziologie, in: Ralf Konersmann (Hrsg.), Das Leben denken Die Kultur denken, Band 2: Kultur. Freiburg / München 2007, S. 58-78. 9 Vgl. Eckart Pankoke, Sociale Bewegung Sociale Frage Sociale Politik. Grundprobleme der deutschen Socialwissenschaft im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1971. www.protosociology. de On Comtemporary Sociology ProtoSociology

Die Stellung der Soziologie 5 miteinbezogen wurde, während im gleichnamigen Frankfurter Fachbereich Gesellschaftswissenschaften neben der Politikwissenschaft und Soziologie auch eine tiefenhermeneutische Variante der Sozialpsychologie eine akademische Heimstätte gefunden hat. Beide Fachbereiche sind seitdem überdies maßgeblich an der grundwissenschaftlichen Lehrerausbildung in Hessen beteiligt. Man darf insofern davon ausgehen, daß auch das Selbstverständnis der Lehrerausbildung in Hessen seit dieser Zeit ein gesellschaftswissenschaftliches ist. Wo kommt dieser Begriff eigentlich her? Und welche Rolle hat er in der Geschichte der Soziologie gespielt? Es ist insbesondere den beiden Staats- und Verwaltungswissenschaftlern Lorenz von Stein und Robert von Mohl zu verdanken, daß der Begriff Gesellschaft im deutschen Sprachraum seit Mitte des 19. Jahrhunderts zum Schlüsselbegriff der modernen Gesellschafts- und Staatswissenschaften avanciert ist. 10 Während Stein sich als erster darum bemühte, das in der Literatur des französischen Frühsozialismus zum Ausdruck kommende Gesellschaftsverständnis einem breiteren deutschsprachigen Publikum bekannt zu machen, verband Mohl damit zugleich das Ansinnen, einer neuen Disziplin nämlich der Gesellschaftswissenschaft in Abgrenzung zum überlieferten System der Staatswissenschaften zum Durchbruch zu verhelfen. Jedoch stieß dieser Versuch, die neue Gesellschaftslehre an den deutschen Universitäten zu etablieren, auf erhebliche innerakademische Widerstände. Dies erklärt auch, warum sich namhafte deutsche Soziologen um 1900 gezwungen sahen, die Soziologie in Deutschland unter weitgehendem Verzicht auf den Gesellschaftsbegriff noch einmal völlig neu zu begründen. 11 Es besteht seitdem ein spannungsreiches Verhältnis zwischen der Soziologie und den Gesellschaftswissenschaften bzw. der Gesellschaftslehre. Denn die von Georg Simmel und Max Weber unternommene Anstrengung, die Soziologie unter Verzicht auf den vielfach belasteten Begriff der Gesellschaft als akademische Disziplin zu etablieren, stand im Kontrast zu dem Versuch, 10 Vgl. Erich Angermann: Zwei Typen des Ausgleichs gesellschaftlicher Interessen durch die Staatsgewalt. Ein Vergleich der Lehren Lorenz von Steins und Robert Mohls, in: Werner Conze (Hrsg.), Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815-1848, Stuttgart 1962, S. 173-205. 11 Vgl., Von der Gesellschaft zur Vergesellschaftung. Zur deutschen Tradition des Gesellschaftsbegriffs, in: Bettina Heintz / Richard Münch / Hartmann Tyrell (Hrsg.), Weltgesellschaft. Theoretische Zugänge und empirische Problemlagen (= Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft Weltgesellschaft ), Stuttgart 2005, S. 68-88; ders., Soziologie und Anti-Soziologie um 1900. Wilhelm Dilthey, Georg Simmel und Max Weber, in: Peter-Ulrich Merz-Benz / Gerhard Wagner (Hrsg.), Soziologie und Anti-Soziologie. Ein Diskurs und seine Rekonstruktion, Konstanz 2001, S. 17-35. Rep.: Soziologie Forum der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Jahrgang 39, Heft 3 2010, S. 279-85.

6 die verschiedenen Varianten des Linkshegelianismus als Gesellschaftswissenschaft akademisch hoffähig zu machen. Im letzteren Fall waren dabei zugleich universalistische Ansprüche verbunden, die ein Fach wie die Soziologie hoffnungslos überfordern mußten. Entsprechend groß ist inzwischen die Resignation innerhalb der Soziologie aufgrund der schnellen Verfallszeit von gesamtgesellschaftlichen Utopien. Der Begriff,Gesellschaft hat deshalb innerhalb der zeitgenössischen Soziologie in vielerlei Hinsicht einen Mißmut hervorgerufen, auch wenn immer noch diverse Vertreter dieses Faches daran glauben, daß es dennoch dereinst so etwas wie eine seriöse soziologische Gesellschaftstheorie geben könnte. 12 Man sollte deshalb endgültig dazu übergehen, den Begriff Gesellschaftswissenschaft als gesunkenes Kulturgut der gescheiterten Revolution von 1848 zu betrachten und im übrigen der hessischen Wissenschaftsverwaltung eindringlich nahelegen, diesen endlich aus dem Verkehr zu ziehen. Das deutsche Wort Gesellschaftswissenschaften läßt sich ohnehin nur als social sciences ins Englische übersetzen. Es brauchen diesbezüglich deshalb nur die entsprechenden Konsequenzen gezogen werden. Rep. Soziologie Forum der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Jahrgang 39, Heft 3 2010, S. 279-85. Prof. Dr., Professor für Soziologie, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main Fachbereich Gesellschaftswissenschaften www.gesellschaftswissenschaften.uni-frankfurt.de/klichtblau 12 Bezeichnenderweise hat selbst Habermas schon vor vielen Jahren öffentlich die Ansicht vertreten, daß dies ein Irrweg der Soziologiegeschichte sowie seiner eigenen intellektuellen Biographie gewesen sei. Habermas sprach diesbezüglich übrigens nicht zufällig von einer etwas chaotischen Gemengelage. Vgl. Jürgen Habermas, Soziologie in der Weimarer Republik, in: Helmut Coing u.a., Wissenschaftsgeschichte seit 1900. 75 Jahre Universität Frankfurt, Frankfurt am Main 1992, S. 51 ff. Die in diesem Sammelband veröffentlichten Beiträge wurden im Wintersemester 1989/90 im Rahmen der Ringvorlesung Wissenschaftsgeschichte seit 1900 an der Goethe-Universität Frankfurt gehalten. www.protosociology. de On Comtemporary Sociology ProtoSociology