Zündstoff. Die große Wörterfabrik. Theaterpädagogisches Material zum Aufhorchen, Anpacken, Abschweifen

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Transkript:

Zündstoff. Theaterpädagogisches Material zum Aufhorchen, Anpacken, Abschweifen von Agnès de Lestrade und Valeria Docampo in einer Fassung von Kalma Streun ~ Puppentheater ~ 4+

Auf die Plätze Zündstoff los! Ein Theaterbesuch - egal ob als Kitagruppe, als Familie oder mit FreundInnen: Wir möchten Sie und Euch mit diesem Material dazu einladen, sich aufhorchend einen ersten Impuls zur Inszenierung zu holen, sich anpackend in direkte thematische Auseinandersetzungen zu stürzen oder sich abschweifend zu theoretischen Auseinandersetzungen verführen zu lassen. Aufhorchen Anpacken Abschweifen Wir wünschen Ihnen und Euch eine gute Lektüre, erfrischende Gespräche und einen anregenden Theaterbesuch. Das Team der tjg. theaterakademie #tjgtheaterakademie

Zur Inszenierung Wie ergeht es Kindern in einem Land, in dem Sprechen Geld kostet? Wie abhängig ist dort ihr Spracherwerb von ihrer sozialen Herkunft, den finanziellen Mitteln ihrer Eltern und deren Bedürfnis, den eigenen Kindern zu sprachlichem Reichtum zu verhelfen? Was bedeutet das für die Kommunikation innerhalb einer Gesellschaft, wenn schon einzelne Wörter sehr teuer sind, (komplexe) Sätze aber ein wahres Vermögen kosten? Die Kinder in der Geschichte leben in jenem Land mit diesem Mangel an Sprache und hebeln ihn gleichzeitig aus. Sie kommunizieren ihre Bedürfnisse durch Kichern, Schreien, non-verbal mit Gesten oder mit den wenigen zur Verfügung stehenden Wörtern durch die verschiedenen Mittel der Stimme. So werden KIRSCHE STAUB STUHL zum Ausdruck intensiver Zuneigung und diese drei Wörter von Paul, die er an Marie richtet, sagen mehr als Oskars floskelhafte lange Sätze. In der Inszenierung produziert die Wörterfabrik Wörter aus den Dingen, mit denen sie befüllt wird. So macht sie einerseits für die ZuschauerInnen ab 4 Jahren bildlich erlebbar, wie zusammengesetzte Wörter gebildet werden und welchen Spielraum das einzelne Wort bietet. Dadurch, dass das Wort zur Ware wird, erleben die ZuschauerInnen andererseits aber auch die Beschränkungen in dieser Welt der Wörterfabrik. Sie spüren die Unsicherheit Pauls, ob Marie versteht, was er ihr sagen will. Anregen möchten wir zum Austausch darüber, wie wertvoll oder wichtig (gesprochene) Sprache in unserem gesellschaftlichen Leben ist und welche anderen Mittel eine gelingende Kommunikation beeinflussen. #tjgwörterfabrik

Fragen für davor, danach und mittendrin ~ Wer lebt im Land der großen Wörterfabrik? ~ Wie stellt die Wörterfabrik Wörter her? ~ Was muss man tun, um ein Wort im Land der großen Wörterfabrik aussprechen zu können? ~ An manchen Tagen fliegen Wörter durch die Luft. Welches Wort würdest Du gern finden? ~ Was hat Paul zu Marie mit seinen gefundenen Wörtern gesagt?

~Übung für Kleingruppen Art Dauer Anforderungen Ziel Nachbereitung 30 Minuten Bildkarten Fantasie fördern, Wortschatz erweitern stellt Wörter aus Dingen her. Aus einer FEDER und einem BALL entsteht das Wort FEDERBALL und aus einer TASCHE und einer LAMPE wird eine TASCHENLAMPE. und ergibt HANDSCHUH und ergibt TASCHENLAMPE Ihr seid nun in der großen Wörterfabrik. Auf den Bildkarten seht Ihr Dinge, aus denen Wörter hergestellt werden sollen. Schaut Euch alle Dinge an und überlegt, welche zwei Bilder jeweils ein gemeinsames Wort ergeben. Ihr könnt dabei nach Wörtern suchen, die es bereits gibt, oder auch ganz neue Wörter erfinden. Wenn Ihr ein paar Wörter gefunden habt, sucht Euch ein Lieblingswort aus und stellt dieses den anderen in der Gruppe vor. Bildkarten zur Übung Für die Bildkarten auf den folgenden Seiten wurden diese Wörter verwendet: Löwenzahn, Kindergarten, Taschenlampe, Fußball, Baumhaus, Ameisenbär, Fischstäbchen. Es können aber auch ganz andere Wörter damit entstehen. Die Bildergalerie kann um weitere Bilder ergänzt werden, die Ihr aus Zeitungen oder Prospekten ausschneidet. Das Der letzte Gewitterbahnhofstrand Schaf UA

Der Gewitterbahnhofstrand

Der Gewitterbahnhofstrand

KIRSCHE STAUB STUHL ~Übung für Groß- und Kleingruppen Art Dauer Anforderungen Ziel Nachbereitung 20 Minuten ein Beutel, Bunte Zettel (in drei Farben Fantasie und Wortspiel Im Land der großen Wörterfabrik muss man Wörter kaufen, um sie aussprechen zu können. Kinder wie Paul, die wenig Geld haben, können sich deshalb keine (neuen) Wörter leisten. An manchen Tagen aber fliegen Wörter durch die Luft und alle können sich ein neues Wort fangen. Trefft Euch im Kreis und überlegt, welches Wort Ihr gern fangen wollt. Fangt Euch dann gemeinsam Eure Wörter aus der Luft. Haltet Euch Eure gefangenen Wörter ans Ohr und hört, wie sie klingen. Ist es ein lustiges Wort? Oder ein ganz langes? Ist es ein rätselhaftes oder ein ganz schönes Wort? Stellt Euch dann nacheinander Eure gefangenen Wörter vor. Probiert dann aus, was sich alles mit nur einem Wort sagen lässt. Wie würde es klingen, wenn man mit nur diesem einen Wort versuchen würde, jemandem zu sagen, dass ~ man ihn gern hat. ~ man wütend ist. ~ man sich entschuldigen möchte. ~ man traurig ist. ~ Gibt es etwas, was sich auf diese Weise nicht sagen lässt?

Wort Schatz I Welchen Einfluss hätten die Regeln des Landes der großen Wörterfabrik auf unsere Sprach- und Sprechfähigkeiten? Schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in die Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: Morgen Jungs, wie ist das Wasser? Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter und schließlich wirft der eine dem anderen einen Blick zu und sagt: Was zum Teufel ist Wasser? (David Foster Wallace: Das hier ist Wasser, 2005) Sprache, Wortschatz und Wörter sind uns nicht nur selbstverständlich, sondern auch wichtig und verraten auch etwas über unsere derzeitige gesellschaftliche Lage. Der Standardwortschatz eines Erwachsenen liegt bei 70.000 Wörtern, hinzu kommen Fachsprachen, Jargons und regionale Dialekte. Das zehnbändige Große Wörterbuch der deutschen Sprache aus dem Duden-Verlag zählt 200.000 Stichwörter. Der Direktor des Max-Planck-Instituts für Psycholinguistik und Leiter des Digitalen Wörterbuchs der Deutschen Sprache Wolfgang Klein meint, es könne von irgendeiner Verarmung des Deutschen keine Rede sein: Die heutige deutsche Sprache verfügt über einen überaus reichen Wortschatz, der weit jenseits dessen liegt, was je in einem Wörterbuch beschrieben worden ist. [ ]In einem Textkorpus der deutschen Gegenwartssprache, das eine Milliarde Textwörter lang ist, kommen etwa 5,3 Millionen lexikalische Einheiten also Wörter, so wie sie im Wörterbuch stehen vor. * In Deutschland wird stets das Wort und das Unwort des Jahres gewählt. Für das Jugendwort des Jahres reichten auch 2018 Jugendliche aus Deutschland, Österreich und der Schweiz ihre Lieblingswörter beim Verlag Langenscheidt ein und die Jury wählte aus zehn Favoriten im November schließlich Ehrenmann / Ehrenfrau (Jemand, der etwas Besonderes für Dich tut). Viele Portale wie beispielsweise Spiegel Online sammeln und stellen die witzigsten und kreativsten Wortschöpfungen von Kindern aus, wie unter den folgenden Links zu finden:

Links zu Wortschatz, Wortschöpfungen im Kindesalter, Familiensprache *Mehr dazu unter: https://www.welt.de/kultur/article124064744/die-deutsche-sprache-hat- 5-3-Millionen-Woerter.html (DIE WELT, 21.01.2014) http://www.spiegel.de/panorama/sprachentwicklung-bei-kindern-wennbabys-ihr-erstes-wort-sagen-a-1049920.html http://www.spiegel.de/panorama/kinderworte-wenn-kinder-richtig-witzig-reden-a-1092075.html https://www.herder.de/kizz/kinderentwicklung-erziehung/kinder-foerdern/ wortschoepfungen-von-kindern-die-eigene-familiensprache/ Link zum Jugendwort des Jahres https://www.langenscheidt.com/jugendwort-des-jahres https://www.hna.de/welt/jugendwort-2018-voting-onl-10181038.html

Welche Folgen würden die Bedingungen des Landes der großen Wörterfabrik für den menschlichen Spracherwerb haben? Spracherwerb und Sprachinput Sprache ist ein komplexes System, das aus einer Reihe verschiedener Komponenten besteht, deren Zusammenspiel die Produktion und das Verstehen von Sätzen möglich macht. Die sind zum einen die Sprachlaute (Phonologie), die Wörter (Lexikon) und die Grammatik (Syntax). Alle Sprachen der Welt verfügen über diese Komponenten, auch wenn sie jeweils unterschiedlich realisiert sind. Neben den Wörtern variieren die verschiedenen Sprachen der Welt vor allem bezüglich ihrer Grammatik, was uns das Lernen einer Fremdsprache im Erwachsenenalter oft schwer macht. Faszinierend ist, dass jedes Kind jede Sprache mühelos lernt. Interessant ist auch, dass die Entwicklungsverläufe des Spracherwerbs in allen Sprachen der Welt gleich ablaufen: von der Schreiphase über die Lallphase zur ersten Wortproduktion und von da aus über die Phase der Zwei-Wort-Sätze hin zu komplexeren Satzstrukturen. Diese Beobachtungen legen nahe, dass der kindliche Spracherwerb einem biologischen Programm folgt, welches, sofern das Kind Sprachinput bekommt, automatisch abläuft. Ist Sprachinput nicht gegeben, wie bei dem berühmten Fall Kaspar Hauser, entwickelt sich die volle Sprachfähigkeit nicht. Quelle: Angela D. Friederici: Wie Sprache im Gehirn entsteht. In: C. M. Schmitz / J. E. Weiss (Hg.) Sprache. Ein Lesebuch von A bis Z. Perspektiven aus Literatur, Forschung und Gesellschaft. Dresden: Wallstein Verlag, 2016 Ohne Sprache zu hören und selbst zu produzieren ist also auch kein umfangreicher Wortschatz möglich der sonst bereits bei sehr kleinen Kindern täglich reicher wird und lebenslang anwächst, wie der folgende Text beschreibt. Spracherwerb und Wortschatz Wenn [ein] Kind innerhalb des zweiten Lebensjahres genügend Wörter gesammelt hat (nämlich ungefähr 50 verschiedene) und wenn es genügend Erfahrungen gesammelt hat, wie die Wörter gebraucht werden können (als Frage, als Antwort, um meinen Besitz anzuzeigen und vieles mehr), dann beginnt es die Wörter zu kombinieren. Dieser Zeitpunkt galt lange als der eigentliche Beginn der Sprachentwicklung, und das dritte Lebensjahr (zwischen dem 2. und dem 3. Geburtstag) galt als das Jahr der Sprachentwicklung. Tatsächlich sind die Veränderungen in der Sprache eines Kindes gewaltig. Mit den Wortkombinationen (den sogenannten Zwei-Wort-Sätzen) beginnt die Satzentwicklung und gleichzeitig beginnt die

sogenannte Wortschatzexplosion. Mit 2,5 Jahren wächst der Wortschatz weiter. Wörter, die das Kind erfindet, zeigen die große Kreativität, mit der Kinder ihre Sprache entfalten (z.b. Mannhaare für Bart oder Augenfedern für Wimpern). Die Sätze werden immer länger. Statt wie bisher nur zwei Wörter kann ein Kind jetzt drei oder mehr Wörter aneinander reihen. Das Tätigkeitswort (Verb) gebraucht es meist noch in der Grundform (z.b. in der Äußerung Tina auch essen ). Vereinzelt gebraucht das Kind auch schon die richtigen Endungen, z.b. Paul malt. Aber die Reihenfolge in den Kindersätzen folgt sehr häufig noch der Wichtigkeit und muss noch nicht der Erwachsenengrammatik entsprechen. Quelle: Christina Kauschke: Kindlicher Spracherwerb im Deutschen. Verläufe, Forschungsmethoden, Erklärungsansätze. Berlin/Boston: De Gruyter, 2012 Wort-Schatz II Was macht den Tisch zum Tisch? Im Land der großen Wörterfabrik tragen die Wörter Kirsche, Staub, Stuhl eine andere Botschaft als die bloße Bezeichnung der genannten Dinge. Was passiert, wenn die von einer SprecherInnengemeinschaft festgelegte, d.h. konventionalisierte Kombination von Wort (Bezeichnendes) und Sache (Bezeichnetes) plötzlich gänzlich aufgebrochen wird? Welche Regeln von Sprache offenbaren sich und welche Bedeutung haben sie für die Kommunikation innerhalb der Gesellschaft? Ein Tisch ist ein Tisch von Peter Bichsel Ich will von einem alten Mann erzählen, von einem Mann, der kein Wort mehr sagt, ein müdes Gesicht hat, zu müd zum Lächeln und zu müd, um böse zu sein. Er wohnt in einer kleinen Stadt, am Ende der Straße oder nahe der Kreuzung. Es lohnt sich fast nicht, ihn zu beschreiben, kaum etwas unterscheidet ihn von anderen. Er trägt einen grauen Hut, graue Hosen, einen grauen Rock und im Winter den langen grauen Mantel, und er hat einen dünnen Hals, dessen Haut trocken und runzelig ist, die weißen Hemdkragen sind ihm viel zu weit. Im obersten Stock des Hauses hat er sein Zimmer, vielleicht war er verheiratet und hatte Kinder, vielleicht wohnte er früher in einer andern Stadt. Bestimmt war er einmal ein Kind, aber das war zu einer Zeit, wo die Kinder wie Erwachsene angezogen waren. Man sieht sie so im Fotoalbum der Großmutter. In seinem Zimmer sind zwei Stühle, ein Tisch, ein Teppich, ein Bett und ein Schrank. Auf einem kleinen Tisch steht ein Wecker,

daneben liegen alte Zeitungen und das Fotoalbum, an der Wand hängen ein Spiegel und ein Bild. Der alte Mann machte morgens einen Spaziergang und nachmittags einen Spaziergang, sprach ein paar Worte mit seinem Nachbarn, und abends saß er an seinem Tisch. Das änderte sich nie, auch sonntags war das so. Und wenn der Mann am Tisch saß, hörte er den Wecker ticken, immer den Wecker ticken. Dann gab es einmal einen besonderen Tag, einen Tag mit Sonne, nicht zu heiß, nicht zu kalt, mit Vogelgezwitscher, mit freundlichen Leuten, mit Kindern, die spielten - und das besondere war, dass das alles dem Mann plötzlich gefiel. Er lächelte. Jetzt wird sich alles ändern, dachte er. Er öffnete den obersten Hemdknopf, nahm den Hut in die Hand, beschleunigte seinen Gang, wippte sogar beim Gehen in den Knien und freute sich. Er kam in seine Straße, nickte den Kindern zu, ging vor sein Haus, stieg die Treppe hoch, nahm die Schlüssel aus der Tasche und schloss sein Zimmer auf. Aber im Zimmer war alles gleich, ein Tisch, zwei Stühle, ein Bett. Und wie er sich hinsetzte, hörte er wieder das Ticken, und alle Freude war vorbei, denn nichts hatte sich geändert. Und den Mann überkam eine große Wut. Er sah im Spiegel sein Gesicht rot anlaufen, sah, wie er die Augen zukniff; dann verkrampfte er seine Hände zu Fäusten, hob sie und schlug mit ihnen auf die Tischplatte, erst nur einen Schlag, dann noch einen, und dann begann er auf den Tisch zu trommeln und schrie dazu immer wieder: Es muss sich etwas ändern. Und er hörte den Wecker nicht mehr. Dann begannen seine Hände zu schmerzen, seine Stimme versagte, dann hörte er den Wecker wieder, und nichts änderte sich. Immer derselbe Tisch, sagte der Mann, dieselben Stühle, das Bett, das Bild. Und zu dem Tisch sage ich Tisch, zu dem Bild sage ich Bild, das Bett heißt Bett, und den Stuhl nennt man Stuhl. Warum denn eigentlich? Die Franzosen sagen zu dem Bett li, zu dem Tisch tabl, nennen das Bild tablo und den Stuhl schäs, und sie verstehen sich. Und die Chinesen verstehen sich auch. Warum heißt das Bett nicht Bild, dachte der Mann und lächelte, dann lachte er, lachte, bis die Nachbarn an die Wand klopften und Ruhe riefen. Jetzt ändert es sich, rief er, und er sagte von nun an zu dem Bett Bild. Ich bin müde, ich will ins Bild, sagte er, und morgens blieb er oft lange im Bild liegen und überlegte, wie er nun zu dem Stuhl sagen wolle, und er nannte den Stuhl Wecker. Hie und da träumte er schon in der neuen Sprache, und dann übersetzte er die Lieder aus seiner Schulzeit in seine Sprache, und er sang sie leise vor sich hin. Er stand also auf, zog sich an, setzte sich auf den Wecker und stützte die Arme auf den Tisch. Aber der Tisch hieß jetzt nicht mehr Tisch, er hieß jetzt Teppich. Am

Morgen verließ also der Mann das Bild, zog sich an, setzte sich an den Teppich auf den Wecker und überlegte, zu wemer wie sagen könnte. Zu dem Bett sagte er Bild. Zu dem Tisch sagte er Teppich. Zu dem Stuhl sagte er Wecker. Zu der Zeitung sagte er Bett. Zu dem Spiegel sagte er Stuhl. Zu dem Wecker sagte er Fotoalbum. Zu dem Schrank sagte er Zeitung. Zu dem Teppich sagte er Schrank. Zu dem Bild sagte er Tisch. Und zu dem Fotoalbum sagte er Spiegel. Also: Am Morgen blieb der alte Mann lange im Bild liegen, um neun läutete das Fotoalbum, der Mann stand auf und stellte sich auf den Schrank, damit er nicht an den Füßen fror, dann nahm er seine Kleider aus der Zeitung, zog sich an, schaute in den Stuhl an der Wand, setzte sich dann auf den Wecker an den Teppich, und blätterte den Spiegel durch, bis er den Tisch seiner Mutter fand. Der Mann fand das lustig, und er übte den ganzen Tag und prägte sich die neuen Wörter ein. Jetzt wurde alles umbenannt: Er war jetzt kein Mann mehr, sondern ein Fuß, und der Fuß war ein Morgen und der Morgen ein Mann. Jetzt könnt Ihr die Geschichte selbst weiter schreiben. Und dann könnt Ihr, so wie es der Mann machte, auch die andern Wörter austauschen: läuten heißt stellen, frieren heißt schauen, liegen heißt läuten, stehen heißt frieren, stellen heißt blättern. So dass es dann heißt: Am Mann blieb der alte Fuß lange im Bild läuten, um neun stellte das Fotoalbum, der Fuß fror auf und blätterte sich aus dem Schrank, damit er nicht an den Morgen schaute. Der alte Mann kaufte sich blaue Schulhefte und schrieb sie mit den neuen Wörtern voll, und er hatte viel zu tun damit, und man sah ihn nur noch selten auf der Straße. Dann lernte er für alle Dinge die neuen Bezeichnungen und vergaß dabei mehr und mehr die richtigen. Er hatte jetzt eine neue Sprache, die ihm ganz allein gehörte. Aber bald fiel ihm auch das Übersetzen schwer, er hatte seine alte Sprache fast vergessen, und er musste die richtigen Wörter in seinen blauen Heften suchen. Und es machte ihm Angst, mit den Leuten zu sprechen. Er musste lange nachdenken, wie die Leute zu

den Dingen sagen. Zu seinem Bild sagen die Leute Bett. Zu seinem Teppich sagen die Leute Tisch. Zu seinem Wecker sagen die Leute Stuhl. Zu seinem Bett sagen die Leute Zeitung. Zu seinem Stuhl sagen die Leute Spiegel. Zu seinem Fotoalbum sagen die Leute Wecker. Zu seiner Zeitung sagen die Leute Schrank. Zu seinem Schrank sagen die Leute Teppich. Zu seinem Spiegel sagen die Leute Fotoalbum. Zu seinem Tisch sagen die Leute Bild. Und es kam soweit, dass der Mann lachen musste, wenn er die Leute reden hörte. Er musste lachen, wenn er hörte, wie jemand sagte: Gehen Sie morgen auch zum Fußballspiel? Oder wenn jemand sagte: Jetzt regnet es schon zwei Monate lang. Oder wenn jemand sagte. Ich habe einen Onkel in Amerika. Er musste lachen, weil er all das nicht verstand. Aber eine lustige Geschichte ist das nicht. Sie hat traurig angefangen und hört traurig auf. Der alte Mann im grauen Mantel konnte die Leute nicht mehr verstehen, das war nicht so schlimm. Viel schlimmer war, sie konnten ihn nicht mehr verstehen. Und deshalb sagte er nichts mehr. Er schwieg, sprach nur noch mit sich selbst, grüßte nicht einmal mehr.

Impressum tjg. theater junge generation Kraftwerk Mitte 1 01067 Dresden T 0351. 3 20 42 777 service@tjg-dresden.de tjg-dresden.de Spielzeit 2018/2019 Intendantin Felicitas Loewe Redaktion Anna Lubenska, Ulrike Carl Anfragen Anna Lubenska Theaterpädagogin T 0351. 3 20 42 504 anna.lubenska@tjg-dresden.de Das Fotografieren sowie Film- und Tonaufnahmen während der Vorstellung sind nicht gestattet. Die Der große Gewitterbahnhofstrand Wörterfabrik