Gruppenpsychotherapie in einer stationären Einrichtung der Suchtkrankenhilfe unter besonderer Berücksichtigung der Borderline-Persönlichkeitsstörung



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Transkript:

Katholische Fachhochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Köln Masterstudiengang Suchthilfe (Master of Science in Addiction Prevention and Treatment) Gruppenpsychotherapie in einer stationären Einrichtung der Suchtkrankenhilfe unter besonderer Berücksichtigung der Borderline-Persönlichkeitsstörung Masterarbeit vorgelegt von: Markus Beyler Erstprüfer: Wolfgang Scheiblich Zweitprüfer: Prof. Dr. Wolfgang Schwarzer Duisburg, April 2006

Erklärung Ich versichere hiermit, dass ich die vorliegende Arbeit selbständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel verwendet habe. Duisburg, den 24.04.06

Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung... 1 2 Persönlichkeitsstörungen... 4 2.1 Persönlichkeitsstörungen im Diagnostischen und Statistischen Manual (DSM)... 4 2.2 Diagnostik... 6 2.3 Die spezifischen Persönlichkeitsstörungen... 9 2.4 Dimensionale Modelle der Persönlichkeit... 10 2.5 Allgemeine Anmerkungen zur Therapie der Persönlichkeitsstörungen... 13 3 Die Borderline-Persönlichkeitsstörung... 15 3.1 Einführung... 15 3.2 Das Konzept der Borderline-Persönlichkeitsstörung in DSM-IV und ICD-10... 16 3.3 Kernbergs Konzept der Borderline-Persönlichkeitsorganisation... 18 3.4 Zahlen und Fakten zur Borderline-Persönlichkeitsstörung... 20 3.4.1 Prävalenz... 20 3.4.2 Verlauf... 20 3.4.3 Komorbidität... 21 3.5 Störungsmodelle... 21 3.5.1 Psychoanalytischer Ansatz... 21 3.5.2 Verhaltenstherapeutischer Ansatz... 23 3.5.3 Kognitive Ergänzung... 24 3.5.4 Die Borderline-Persönlichkeitsstörung als chronisch komplexe Posttraumatische Belastungsstörung... 24 4 Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung... 26 4.1 Psychodynamische Ansätze... 26 4.1.1 Grundzüge psychodynamischer Therapie bei Borderline-Patienten... 26 4.1.2 Die Übertragungsfokussierte Psychotherapie (Transference Focused Psycho-therapy, TFP)... 27 4.2 Kognitiv-Verhaltenstherapeutische Ansätze... 30 4.2.1 Die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) nach Linehan... 30 4.2.2 Die Rational-Emotive Verhaltenstherapie nach Ellis (REVT)... 32 4.2.3 Die Kognitive Therapie nach Beck... 33

4.3 TFP und DBT im Vergleich...34 4.3.1 Gemeinsamkeiten...34 4.3.2 Unterschiede...35 4.4 Die Therapeut Klient Beziehung als unspezifischer Wirkfaktor psycho-therapeutischen Handelns...36 4.5 Anmerkungen zur Pharmakotherapie bei Borderline-Patienten...38 5 Gruppe und Gruppenpsychotherapie...40 5.1 Das Konzept der Gruppe als sozialer Mikrokosmos...41 5.2 Wirkfaktoren der Gruppenpsychotherapie nach Yalom (2003)...43 5.3 Zum Problem der Indikation von Gruppenpsychotherapie...46 5.4 Homogenität vs Heterogenität der Gruppenzusammensetzung...48 5.5 Gruppenpsychotherapeutische Verfahren...49 5.5.1 Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppenpsychotherapie als ein Psychodynamisches Verfahren...50 5.5.2 Verhaltenstherapeutische Gruppentherapie...53 5.5.3 Unterschiede bei der Beachtung der Gruppendynamik...54 6 Gruppentherapie in der Therapeutischen Wohngemeinschaft (TWG)...57 6.1 Beschreibung der Einrichtung...57 6.2 Fallvignette...59 6.3 Exkurs: Gruppentherapie mit Borderline-Patienten...61 6.3.1 Vorteile des stationären Gruppensettings bei Borderline-Patienten...62 6.3.2 Kombination mit Einzeltherapie...64 6.3.3 Homogene Borderline-Gruppen...65 6.3.4 Die Aufgaben des Gruppentherapeuten...66 6.3.5 Die Bedeutung der haltenden Umgebung...68 6.3.6 Schwierigkeiten bei der gruppentherapeutischen Behandlung...69 6.4 Gruppentherapeutische Praxis in der TWG...70 6.4.1 Struktur...70 6.4.2 Inhalt...70 6.5 Schlussfolgerungen und Empfehlungen für die Praxis...71 7 Literatur...76

1 Einleitung 1 1. Einleitung Unabhängig davon, ob die Suchterkrankung als Ausdruck einer tiefer liegenden Störung, einer maladaptiv gelernten Verhaltensweise oder als das Ergebnis gestörter interpersoneller Beziehungen konzipiert wird, hat sich der gruppenpsychotherapeutische Zugang in der Suchtkrankenbehandlung gegenüber der Einzelpsychotherapie als alleiniges Verfahren durchgesetzt (Weber u. Tschuschke 2001) Von niemandem wird heute ernsthaft bestritten, dass Gruppenpsychotherapie bei der Behandlung von Suchtkranken wirkungsvoll ist. Die vorliegende Masterarbeit bemüht sich deshalb auch nicht mit um den erneuten Beleg dieser Aussage, sondern beschäftigt sich mit einem Problem, welches sich dem Autor bei seiner gruppenpsychotherapeutischen Arbeit in einer stationären Einrichtung der Suchtkrankenhilfe immer wieder stellt. Wie gestalte ich gruppentherapeutische Sitzungen unter besonderer Berücksichtigung der verschiedenen Persönlichkeitsstile und der davon (mit-)bedingten Fähigkeiten der Klienten 1, sich selbstkritisch mit bestehenden Problemen zu beschäftigen. Insbesondere Klienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung können sich in Gruppen, in denen die Veränderung interpersoneller Verhaltensweisen im Vordergrund steht, schnell unter Druck gesetzt fühlen und mit den für diesen Persönlichkeitsstil typischen Abwehrmechanismen reagieren. Dies kann im Extremfall aber eine für alle Klienten nutzbringende Therapie verhindern oder zumindest erschweren. Vor diesem Hintergrund entstand bei mir der Wunsch, mich noch einmal eingehender mit der vorhandenen Literatur zum Thema Gruppenpsychotherapie zu beschäftigen. Ziel dieser Arbeit soll es sein, die gruppentherapeutische Praxis in der Einrichtung, in der ich arbeite, der Therapeutischen Wohngemeinschaft Mülheim an der Ruhr, zu reflektieren und eventuell Verbesserungsvorschläge zu machen. Dazu habe ich in Kapitel 2 den Versuch unternommen, einen notwendigerweise stark verkürzten Überblick über das insbesondere in den letzten Jahrzehnten verstärkt beachtete Thema Persönlichkeitsstörungen zu geben und auf einige Schwierigkeiten aufmerksam zu machen, die sich bei der Beschäftigung mit diesem Thema vor allem in den Bereichen Diagnostik und Therapie ergeben. Dies kann natürlich nur ein skizzenhafter Einstieg sein, da die Literatur zu diesem Gebiet inzwischen ganze Bibliotheksregale füllt. 1 im Folgenden werden die Begrifflichkeiten Klient und Patient synonym verwendet

1 Einleitung 2 Kapitel 3 dient der näheren Beschreibung der Persönlichkeitsstörung, die in dieser Arbeit von besonderem Interesse ist, nämlich der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Dabei wird sowohl der in den offiziellen Diagnosesystemen (ICD-10 und vor allem DSM-IV) gewählte Weg der Beschreibung dargestellt, als auch Kernbergs Konzept der Borderline- Persönlichkeitsorganisation gewürdigt. Im weiteren Verlauf werden sowohl psychoanalytische als auch verhaltenstherapeutische Störungsmodelle und der Versuch, die Borderline-Störung als eine komplexe Posttraumatische Belastungsstörung zu fassen, skizziert. Der Therapie dieser Störung ist dann das Kapitel 4 gewidmet, in dem wiederum insbesondere der psychoanalytische und der verhaltenstherapeutische Ansatz dargestellt werden. Diese nach Schulen getrennte Darstellung der therapeutischen Möglichkeiten muss trotz gewisser, in den letzten Jahren feststellbarer Annäherungen der verschiedenen Ansätze - vor allen Dingen eben im Bereich der Therapie der Borderline- Persönlichkeitsstörung - aufgrund des Fehlens einer integrativen, störungsspezifischen Psychotherapie der Persönlichkeitsstörungen gewählt werden. Zwei Verfahren, die derzeit besonders breit diskutiert werden, werden ausführlicher beschrieben. Es handelt sich dabei zum einen um die von der Gruppe um Kernberg entwickelte Übertragungsfokussierte Psychotherapie (TFP) und die im weitesten Sinne verhaltenstherapeutisch ausgerichtete Dialektisch-Behaviorale-Therapie (DBT) von Linehan. Einem Vergleich der beiden Verfahren folgt ein kurzer Überblick über die von allen Therapieverfahren betonte Bedeutung der Therapeut-Klient-Beziehung bei der Therapie und Anmerkungen zum pharmakotherapeutischen Vorgehen. Kapitel 5 beschäftigt sich mit den Grundlagen der Gruppenpsychotherapie, dem Konzept der Gruppe als sozialer Mikrokosmos, den Wirkfaktoren der Gruppentherapie, dem Problem der Indikation und der Frage der Homogenität beziehungsweise Heterogenität der Gruppenzusammensetzung. Es schließen sich theoretische Überlegungen zur Gestaltung der Gruppenpsychotherapie an, wobei auch hier wieder psychodynamische und verhaltenstherapeutische Ansätze getrennt dargestellt werden. Das Kapitel 6 letztendlich widmet sich dem oben dargestellten Problem, wie eine Therapie der Abhängigkeit unter Einschluss von Borderline-Persönlichkeiten in einer Einrichtung der Suchtkrankenhilfe mithilfe gruppentherapeutischer Methoden möglich ist. Dazu fasst ein längerer Exkurs noch einmal allgemeine Erkenntnisse zum Thema Gruppentherapie mit Borderline-Patienten zusammen. Im Anschluss wird dann auch die Therapeutische Wohngemeinschaft selbst vorgestellt und zur Veranschaulichung der Arbeit eine

1 Einleitung 3 ausführliche Fallvignette gegeben. Als letztes schließen sich Schlussfolgerungen aus dem bis dahin dargestellten Material an und es wird der Versuch gemacht, einige konzeptionelle Verbesserungsvorschläge zu machen. An dieser Stelle sei noch darauf hingewiesen, dass es sich bei der verwendeten Literatur fast ausschließlich um Beiträge tiefenpsychologischer und (kognitiv-) verhaltenstherapeutischer Autoren handelt. Damit soll nicht gesagt werden, dass andere Therapieschulen nicht auch wichtiges zum Gelingen einer solchen Arbeit hätten beitragen können insbesondere den interpersonellen Ansatz von Lorna Smith Benjamin halte ich für eine interessante Ergänzung und Bereicherung. Dennoch erschien mir diese meinen Vorkenntnissen geschuldete Beschränkung notwendig, da eine entsprechende Berücksichtigung der gesamten Literatur zum Thema Borderline-Störung und Gruppenpsychotherapie den Rahmen dieser Arbeit gesprengt hätte.

2 Persönlichkeitsstörungen 4 2 Persönlichkeitsstörungen 2.1 Persönlichkeitsstörungen im Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM) Seit der Einführung des von der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA) herausgegebenen DSM-III im Jahr 1980, in dem die Persönlichkeitsstörungen zusammen mit den Entwicklungsstörungen auf einer eigenen Achse beschrieben werden, nimmt die Beschäftigung mit diesem Störungsbild in Form klinisch-empirischer Studien beständig zu (Bronisch 1999). Auch im aktuellen Diagnosemanual DSM-IV (deutsch: Saß, Wittchen u. Zaudig 1996) werden die Persönlichkeitsstörungen in einem eigenen Kapitel als auf der Achse-II zu kodierende Störungen beschrieben. Sie zeichnen sich im Gegensatz zu den Symptomstörungen der Achse-I (wie zum Beispiel Angststörungen oder Affektiven Störungen) durch ein überdauerndes, unflexibles, den Betroffenen oder seine Umwelt schädigendes Muster von innerem Erleben und Verhalten aus, welches über einen langen Zeitraum bestehen bleibt und nicht auf den Einfluss äußerer Faktoren (Medikamente, Drogen) oder auf hirnorganische Schädigungen und Psychosen zurückzuführen ist. Das Muster weicht in bedeutendem Maß von den Erwartungen der soziokulturellen Umgebung ab und zeigt sich insbesondere in den Bereichen Kognition, Affekt, Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen und Impulskontrolle. Zusätzlich problematisch ist, dass die oben beschriebenen Symptome von den Betroffenen zunächst eher selten als störend, abweichend und normverletzend erlebt werden; man spricht in diesem Zusammenhang von der Ich-Syntonie der Persönlichkeitsstörungen. Die Auffälligkeiten werden von den Betroffenen als zu sich gehörend wahrgenommen, so dass das Leid sich nicht selten erst an den Folgen der starren Interaktionsmuster festmacht. Unter anderem durch dieses Phänomen mitbedingt sind die sich ergebenden komplexen Störungen des zwischenmenschlichen Beziehungsverhaltens, weshalb man im Zusammenhang mit Persönlichkeitsstörungen auch von Interpersonellen Störungen spricht (Fiedler 1995). Es ist zu beobachten, dass die Betroffenen psychotherapeutische Hilfe oftmals nicht mit der Bitte um Veränderung ihrer Persönlichkeit aufsuchen diese wird ja von den Betroffenen selber selten als gestört erlebt. Vielmehr führen in den meisten Fällen klinische Störungsbilder der Achse-I des DSM-IV und die daraus resultierenden Beschwerden zur Aufnahme einer Behandlung. Diese Störungsbilder wiederum sind oft durch krisenförmige Zuspitzungen im psychosozialen Umfeld verursacht, welche die Bewältigungsstrategien und Ressourcen der persönlichkeitsgestörten Klienten überfordern.

2 Persönlichkeitsstörungen 5 Tab. 2.1: Allgemeine Diagnostische Kriterien einer Persönlichkeitsstörung nach DSM-IV A. Ein überdauerndes Muster von innerem Erleben und Verhalten, das merklich von den Erwartungen der soziokulturellen Umgebung abweicht. Dieses Muster manifestiert sich in mindestens 2 der folgenden Bereiche: 1. Kognition (also die Art, sich selbst, andere Menschen und Ereignisse wahrzunehmen und zu interpretieren), 2. Affektivität (also die Variationsbreite, die Intensität, die Labilität und Angemessenheit emotionaler Reaktionen), 3. Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen, 4. Impulskontrolle, B. Das überdauernde Muster ist unflexibel und tiefgreifend in einem weiten Bereich persönlicher und sozialer Situationen. C. Das überdauernde Muster führt in klinisch bedeutsamer Weise zu Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. D. Das Muster ist stabil und langdauernd, und sein Beginn ist zumindest bis in die Adoleszenz oder ins frühe Erwachsenenalter zurückzuverfolgen. E. Das überdauernde Muster lässt sich nicht besser als Manifestation oder Folge einer anderen psychischen Störung erklären. F. Das überdauernde Muster geht nicht auf die direkte körperliche Wirkung einer Substanz (zum Beispiel Droge, Medikament) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors (zum Beispiel Hirnverletzung) zurück. Laut Herpertz u. Saß (2003) fließen in die moderne, im DSM betriebene Konzeption der Persönlichkeitsstörung zwar verschiedene Traditionen psychiatrisch / psychopathologischer Sichtweisen ein (französische, deutsche, angloamerikanische), aber im Ganzen stimmt die heutige Definition in hohem Maße mit der klassischen Definition der Psychopathie von Kurt Schneider überein. Dieser verstand unter Psychopathen Menschen, die von einer nicht näher bestimmten Norm abwichen und die selber oder deren Umwelt an dieser Abweichung litten. Der Begriff Psychopath wurde inzwischen aufgrund der negativen Konnotation weitestgehend durch den Begriff Persönlichkeitsstörung ersetzt. Die Kategorie Persönlichkeitsstörung wird dabei im DSM-IV rein deskriptiv und ätiologiefrei benutzt und dient als möglichst neutraler Oberbegriff für alle dysfunktionalen Persönlichkeitsformen und beinhaltet teilweise auch das, was früher unter dem Begriff der Neurose als eher lebensgeschichtlich geprägte Störung verstanden wurde. Die zunehmende Bedeutung der Diagnose einer Persönlichkeitsstörung spiegelt vielleicht auch gesellschaftliche Anforderungen an Flexibilität und Anpassungsfähigkeit beziehungsweise das Scheitern daran wider. Auch wenn sich das DSM bezüglich der Entstehung einer Persönlichkeit relativ zurückhaltend zeigt, kann festgestellt werden, dass das seit Jahrzehnten in der psychiatrischen

2 Persönlichkeitsstörungen 6 Forschung verwendete Diathese-Stress-Modell seit einigen Jahren auch Anwendung in Bezug auf Persönlichkeitsstörungen findet. Dieses Modell geht davon aus, dass von einer Persönlichkeitsstörung Betroffene über eine erhöhte (genetisch oder traumatisch bedingte) Verletzlichkeit gegenüber dem Ausbilden einer Persönlichkeitsstörung verfügen. Diese Vulnerabilität macht die Person dann besonders empfindlich gegenüber sozialen Anforderungen und Stresssituationen. Daneben spielen auch noch soziale Einflüsse aus der Familie und der Erziehung eine Rolle, wobei Misshandlungen, Inzesterfahrungen, Gewalttätigkeit und Kriminalität der Eltern eine besondere Rolle spielen. Das Modell geht somit vom Zusammenspiel bestimmter Dispositionen, der Person und belastender Sozialisationserfahrungen aus. 2.2 Diagnostik Die einzelnen Persönlichkeitsstörungen werden innerhalb der beiden aktuellen Diagnosesysteme DSM-IV und ICD-10 anhand von sogenannten Symptomlisten beschrieben. Unter der Vorraussetzung, dass die Allgemeinen Kriterien einer Persönlichkeitsstörung (s. Tab. 2.1) erfüllt sind, berechtigt das Vorhandensein einer gewissen Anzahl von Symptomen zu der Diagnose einer spezifischen Persönlichkeitsstörung wie zum Beispiel der Histrionischen oder der Zwanghaften Persönlichkeitsstörung (s. Kap. 2.3). Diese Symptome sind aus Gründen der Objektivität und Reliabilität (Zuverlässigkeit) möglichst auf der beobachtbaren Verhaltensebene beschrieben. Es handelt sich dabei insgesamt betrachtet um einen kategorialen Ansatz, dass heißt, es wird nicht von einer kontinuierlichen Merkmalsausprägung ausgegangen, sondern entweder ist die für die Diagnose erforderliche Anzahl von Merkmalen vorhanden oder eben nicht. Zwei Personen können aber auch dieselbe Diagnose erhalten, obwohl sie recht unterschiedliche Kombinationen von Kriterien aufweisen (prototypische Diagnostik). Auch tauchen ähnlich lautende Merkmalsformulierungen in den Merkmalslisten verschiedener Persönlichkeitsstörungen auf und eine Person kann die erforderliche Mindestanzahl mehr als einer Persönlichkeitsstörung erfüllen. Insgesamt betrachtet kommen Herpertz u. Saß (2003) deswegen zu dem Urteil, dass die aktuelle Auswahl an Persönlichkeitsstörungen weder theoretisch noch empirisch wirklich begründet sei. Es handele sich weniger um theoriegeleitete Konzepte als vielmehr um Sammlungen von Verhaltensbeschreibungen. Des Weiteren ist es als problematisch anzusehen, dass die Anzahl der Kriterien, die jemand erfüllt haben muss, um als persönlichkeitsgestört diagnostiziert zu werden, relativ willkürlich aufgrund klinischer Erfahrung gewählt wurde. Bei Annahme eines kategorialen Modells wäre hingegen zu fordern, dass sich Personen mit und ohne Persönlichkeitsstörung auf verschiedenen Ebenen des Verhaltens und Erlebens qualitativ unterscheiden. Dieser qualitative Sprung,

2 Persönlichkeitsstörungen 7 der allein eine kategoriale Unterscheidung rechtfertigen würde, kann jedoch nach vorliegenden Studien nicht aufgezeigt werden (Fydrich et al. 1996). Von psychodynamischer Seite wird kritisiert, dass sowohl die kategorialen als auch die weiter unten beschriebenen dimensionalen Klassifikationssysteme zu sehr an den oberflächlichen Verhaltensweisen ausgerichtet seien, denen in Abhängigkeit von den zugrundeliegenden Persönlichkeitsstrukturen ganz unterschiedliche Funktionen zukommen könnten (Kernberg 2000). Außerdem sei das Diagnosemanual auch nur schwerlich eine Grundlage zur Therapieplanung, da identisches Verhalten bei zwei Patienten auf sehr unterschiedlichen Motivationsstrukturen beruhen kann und daher bei der Therapieplanung neben den zu beobachtenden Symptomen auch das strukturelle System Berücksichtigung finden muss. Auch der Begriff der Persönlichkeitsstörung selber ist aufgrund seiner stigmatisierenden Implikationen (wie kann eine Persönlichkeit als Ganzes gestört sein?) immer wieder Gegenstand von Kontroversen gewesen. Mehr noch als die diagnostische Feststellung bei anderen psychischen Störungen (wie bei einer Phobie, Depression oder Schizophrenie) werden durch die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung nicht nur einzelne Verhaltens- und Erlebensepisoden als störend bezeichnet. Eine diagnostizierte Persönlichkeits-Abweichung bezieht sich immer auf die Person als Ganzes- eben als eine Verallgemeinerung über konkretes Handeln hinaus (Fiedler 2003, S. 11). Lieb (1998) schlägt deshalb eine grundsätzliche Umbenennung der Persönlichkeitsstörungen in Persönlichkeitsstile vor, wobei diese Begrifflichkeit meistens noch für als nicht pathologisch angesehene Persönlichkeitsakzentuierungen reserviert ist und vor allen Dingen in dimensionalen Persönlichkeitsmodellen (wie zum Beispiel dem STAR-Modell von Kuhl u. Kazen 1997) verwendet wird. Diesem Verständnis zufolge sind Persönlichkeitsstörungen die extremen Ausprägungen der jeweiligen Persönlichkeitsstile (s. dazu auch Kap. 2.3). Teilweise werden ergänzend auch die Begrifflichkeiten Persönlichkeitsproblematik und Persönlichkeitsakzentuierung verwendet, wobei sich dafür bisher keine allgemeingültigen Definitionen etabliert haben. Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang aber auch, dass das einfühlsame Mitteilen von auffälligen Persönlichkeitszügen des Klienten, verbunden mit vorsichtigen diagnostischen Klassifizierungen mittels DSM-IV oder ICD-10, nicht zwangsläufig stigmatisierenden Charakter haben muss, sondern diesem auch das Gefühl vermitteln kann, dass es

2 Persönlichkeitsstörungen 8 therapeutische Hilfe und Hoffnung auf Verminderung des Leidens gibt und dass er nicht alleine mit diesen Problemen ist. Diese Erkenntnis kann auch zu einer deutlichen Erleichterung auf Seiten des Klienten führen und therapeutisch sinnvoller sein, als dem Klienten nach dem Mund zu reden und Auffälligkeiten nicht anzusprechen, um eine vermeintlich gute therapeutische Beziehung zu erreichen. Weitere klinische Hinweise für das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung Stellt sich die Diagnostik einer Persönlichkeitsstörung als ein ziemlich aufwendiges Unternehmen dar, so wendet Trautmann (2004) ein, dass zumindest das frühzeitige Stellen einer Verdachtsdiagnose möglich und therapeutisch sinnvoll ist, um rechtzeitig entsprechende behandlerische Maßnahmen einzuleiten. Eines der wichtigsten Warnzeichen sei die Information, dass der Klient schon zahlreiche ambulante und stationäre Therapien mehr oder weniger erfolglos hinter sich gebracht habe und wenn die Menge der Therapiemaßnahmen in keinem Verhältnis zur angeblichen Diagnose steht (jahrelange, erfolglose Behandlung wegen Agoraphobie). Daneben deuten folgende Anzeichen schon frühzeitig auf eine Persönlichkeitsstörung hin: Tab. 2.2: Klinische Hinweise zur Identifikation einer möglichen Persönlichkeitsstörung nach Morgillo Freeman (1999, zit. nach Trautmann 2004, S. 69) Chronizität des Problems Nicht-compliantes Verhalten Die Therapie tritt auf der Stelle ohne ersichtlichen Grund Der Patient ist sich seiner Wirkung auf andere nicht bewusst Die Motivation für die Behandlung ist unklar Der Patient äußert sich zwar zufrieden über die Therapie, aber es gibt keine beobachtbaren Veränderungen Der Patient betrachtet seine Probleme als das, was seine Person ausmacht Die Therapie ist eine Serie von kritischen Ereignissen oder Krisen Ausgedehnte frühere therapeutische Kontakte Ich-syntone Natur der Probleme Macht andere für seine Probleme und Schwierigkeiten verantwortlich

2 Persönlichkeitsstörungen 9 2.3 Die spezifischen Persönlichkeitsstörungen Insgesamt können innerhalb des DSM-IV einschließlich der Nicht Näher Bezeichneten Persönlichkeitsstörung bis zu elf verschiedene Persönlichkeitsstörungen diagnostiziert werden, die dann nochmals in drei sogenannten Clustern zusammengefasst werden: Cluster A Die Paranoide Persönlichkeitsstörung Die Schizoide Persönlichkeitsstörung Die Schizotypische Persönlichkeitsstörung Cluster B Die Antisoziale Persönlichkeitsstörung Die Borderline Persönlichkeitsstörung Die Histrionische Persönlichkeitsstörung Die Narzißtische Persönlichkeitsstörung Cluster C Die Vermeidend-Selbstunsiche Persönlichkeitsstörung Die Dependente Persönlichkeitsstörung Die Zwanghafte Persönlichkeitsstörung Die Nicht Näher Bezeichnete Persönlichkeitsstörung Personen, die eine Störung des Cluster A vorweisen, zeichnen sich oftmals durch exzentrisches und sonderbares Verhalten aus. Personen des Cluster B werden hingegen als dramatisch, emotional und launisch beschrieben. Menschen, die dem Cluster C zugeordnet werden können, wirken dagegen furchtsam und ängstlich. Bei der von der WHO herausgegeben ICD-10 (deutsch: Dilling, Mombour u. Schmidt 1993) besteht keine Möglichkeit, eine Narzißtische Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren, auch die Schizotypische Persönlichkeitsstörung wird in der ICD-10 als Schizotype Störung den Schizophrenien zugeordnet. Die sich bei der Beschreibung der Borderline- Persönlichkeitsstörung ergebenden Unterschiede zwischen den beiden Diagnosemanualen werden im folgenden Kapitel 3 genauer beschrieben. Abschließend sei noch einmal darauf hingewiesen, dass die Überlappung zwischen den einzelnen Persönlichkeitsstörungen oftmals so groß ist, dass eine nicht geringe Anzahl von Klienten die Kriterien mehrerer Persönlichkeitsstörungen auch unterschiedlicher Cluster erfüllen. Fiedler (2003) weist in diesem Zusammenhang noch darauf hin, dass viele Menschen die Kriterien einer der spezifischen Persönlichkeitsstörungen erfüllten, aber nicht als persön-

2 Persönlichkeitsstörungen 10 lichkeitsgestört diagnostiziert werden dürften, da die übergeordneten Kriterien einer Persönlichkeitsstörung nicht, wie vom DSM-IV gefordert, erfüllt seien und diese Personen in ihren sozialen Bezügen durchaus zurecht kämen. In einem solchen Fall dürfe man nicht von Persönlichkeitsstörung sprechen, da es sich lediglich um markante persönliche Stile mit möglicherweise hohem Anpassungswert handele. Von kognitiv-verhaltenstherapeutischer Seite (Beck, Freemann et al 1999) wurde der Versuch unternommen, für jede spezifische Persönlichkeitsstörung die kognitiven Grundannahmen, die diesem therapeutischen Ansatz zufolge das zu beobachtende nichtadaptive Verhalten steuern oder zumindest beeinflussen, zu beschreiben. Eine dependente Persönlichkeitsstörung ist somit, zumindest teilweise, aufgrund der kognitiven Grundannahme entstanden, alleine hilflos zu sein und Resultat der Befürchtung, verlassen zu werden. Tab. 2.3: Grundannahmen und Strategien in Verbindung mit herkömmlichen Persönlichkeitsstörungen (aus Beck, Freemann et al 1999, S. 22) Persönlichkeitsstörung Dependent Selbstunsicher Passiv-aggressiv Paranoid Narzisstisch Histrionisch Zwanghaft Antisozial Schizoid Grundannahmen / Einstellungen Ich bin hilflos Ich könnte verletzt werden Man könnte auf mir herumtrampeln Menschen sind potentielle Gegner Ich bin etwas Besonderes Ich muss imponieren Fehler sind schlecht. Ich darf keine Fehler machen Menschen sind dazu da, um ausgenutzt zu werden Ich brauche viel Raum Strategien (sichtbares Verhalten) Anhänglichkeit Vermeidung Widerstand Vorsicht Selbstverherrlichung Theatralisches Verhalten Perfektionismus Angriff Isolation 2.4 Dimensionale Modelle der Persönlichkeit Der an psychiatrischen Gepflogenheiten orientierten kategorialen Diagnostik des DSM-IV und der ICD-10 stehen in kritischer Abgrenzung Vorstellungen insbesondere psychologisch orientierter Autoren (zum Beispiel Fiedler 1995) gegenüber, die Persönlichkeitsstörungen lediglich als die extremen Ausprägungen normaler menschlicher Verhaltensweisen betrachten. Diese sogenannte Kontinuitätshypothese geht davon aus, dass es

2 Persönlichkeitsstörungen 11 eine graduelle und keine prinzipielle Grenze zwischen Normalität und Persönlichkeitsstörung gibt und dimensionale Modelle der gesunden und der gestörten Persönlichkeit kategorialen Klassifikationsansätzen konzeptionell überlegen sind. Zu jeder Persönlichkeitsstörung lässt sich dieser Anschauung nach eine nicht-pathologische Entsprechung finden, die man am besten als Persönlichkeitsakzentuierung verstehen könnte. Tabelle 2.4: Persönlichkeitsstörungen und einige persönliche Stile im dimensionalen Modell der Persönlichkeitsstörungen von Oldham u. Morris (1995), zit. nach Fiedler (2003), S.19 Persönlicher Stil > > Persönlichkeitsstörung ehrgeizig, selbstbewusst > > narzißtisch expressiv, emotional > > histrionisch wachsam, misstrauisch > > paranoid sprunghaft, spontan > > Borderline anhänglich, loyal > > dependent zurückhaltend, einsam > > schizoid kritisch, zögerlich > > passiv-aggressiv selbstkritisch, vorsichtig > > selbstunsicher ahnungsvoll, sensibel > > schizotypisch abenteuerlich, risikofreudig > > antisozial, dissozial Selbstbeurteilungsinstrumente wie das PSSI (Kuhl u. Kazen 1997), die eine Erstellung solcher Persönlichkeitsprofile ermöglichten, träfen laut Fiedler (2003) auf großes Interesse und die Neugier der Klienten, weil sie eben nicht zwingend zur Diagnose einer Störung der eigenen Person führten. Selbst wenn deutliche Hinweise auf extreme, unflexible Akzentuierungen, also Persönlichkeitsstörungen, vorlägen, ermögliche eine solche Herangehensweise auch besser das Eingehen auf die Stärken und Ressourcen der Klienten und rufe größere Akzeptanz hervor. Michael Zaudig resümiert zum Thema der dimensionalen vs kategorialen Konzeption der Persönlichkeitsstörungen im Editorial der aktuellen Ausgabe der renommierten Fachzeitschrift Persönlichkeitsstörungen Theorie und Therapie (März 2006) folgendes: Je mehr Erfahrungen mit dieser kategorialen Diagnostik der Persönlichkeitsstörungen (PS) gemacht wurden, desto mehr fielen auch die Probleme mit dieser Art Diagnostik auf. Aktuelle Kritik an der kategorialen Diagnostik der PS zielt zum Beispiel auf die mangelnde Unterscheidung zwischen Persönlichkeit beziehungsweise Persönlichkeitsstil und Persönlichkeitsstörung, auf die hohe Überschneidung und Überlappung der verschiedenen Persönlichkeitsstörungs-Kategorien untereinander mit der Konse-

2 Persönlichkeitsstörungen 12 quenz der exzessiven Komorbidität, das nicht gelöste Problem der Vereinbarkeit dimensionaler und kategorialer Ansätze usw. [...] Gefordert wird derzeit von allen Experten, die Persönlichkeit oder den Persönlichkeitsstil auf einem dimensionalen Kontinuum darzustellen. Das aktuell gültige Konzept der Persönlichkeitsstörung als chronische, langandauernde Störung scheint nicht mehr haltbar zu sein. Der letzte Satz bezieht sich dabei auf Überlegungen, die Persönlichkeitsstörungen in Zukunft aufgrund von ersten Hinweisen aus Langzeitstudien, dass die Symptomatik durchaus nicht immer langandauernd bestehen bleiben muss, sondern in einer großen Zahl der Fälle remittiert und damit eben eher den Achse-I-Störungen als vorübergehenden Störungen ähnelt, als extreme Varianten der Persönlichkeitsstile auf der Achse-I des DSM zu kodieren, die zugrundeliegenden Persönlichkeitsstile dagegen weiterhin auf der Achse-II. Fiedler (2003) stellt ergänzend noch die interessante Frage, inwieweit Persönlichkeitsstörungen überhaupt behandelt werden sollten und nicht vielmehr als markante, aber dennoch adaptive persönliche Stile angesehen werden könnten, die im Sinne einer Ressourcen-Orientierung genutzt werden könnten. Oftmals begründeten sich seiner Meinung nach Probleme in der Behandlung von Patienten lediglich mit Schwierigkeiten von Therapeuten, wenn ihnen auffällige Persönlichkeiten gegenübersäßen. Trautmann (2004) weist von verhaltenstherapeutischer Seite in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es schon immer verhaltenstherapeutischer Schwerpunkt gewesen sei, den Patienten Bewältigungsfertigkeiten beizubringen, mit deren Hilfe sie Umgebungsbedingungen entsprechend ihren Bedürfnissen umgestalten können. Für den Bereich der Persönlichkeitsstörungen hieße das, dass es nicht vorrangiges Ziel sein muss, einen Menschen zu verändern, sondern ihm Fähigkeiten beizubringen, mit denen es ihm gelingt, diese Eigenarten nicht zu seinem Nachteil zur Geltung zu bringen beziehungsweise die Situationsbedingungen so zu verändern, dass sie besser zu seiner Persönlichkeit passen. Es besteht allerdings bei einem solchen dimensionalen, ressourcenorientierten Vorgehen, bei dem markante Persönlichkeitszüge als Anpassung an widrige Lebensumstände verstanden werden, die Gefahr, dass Persönlichkeitszüge, akzentuierte Persönlichkeiten und Persönlichkeitsstörungen gleich gesetzt werden. Kennzeichen einer Persönlichkeitsstörung ist hingegen immer das erhebliche Leiden in verschiedenen Lebensbereichen. Ein rein dimensionales Modell als Grundlage der Therapie wird dem qualitativen Sprung zwischen Persönlichkeitsstörungen und normalen oder neurotischen Persönlichkeiten vielleicht nicht gerecht.

2 Persönlichkeitsstörungen 13 Persönlichkeitsstörungen sind nicht mit Persönlichkeitsakzentuierungen zu verwechseln, bei denen diese Sichtweise [die ressourcenorientierte, M.B.] sicherlich ihre Berechtigung hat Mit anderen Worten: es trifft einfach nicht zu, dass Normalpersonen in quantitativ geringerem Ausmaß die Züge der verschiedenen Persönlichkeitsstörungen aufweisen. Es ist eben wahrscheinlich nicht so, dass alle Menschen etwas misstrauisch oder etwas einzelgängerisch sind und dass die Persönlichkeitsstörungen somit lediglich als quantitative Extremvarianten zu verstehen sind, sondern es gibt zahlreiche Hinweise, dass viele normale Persönlichkeiten vergleichsweise wenig akzentuierte Persönlichkeitszüge aufweisen. Ein einseitig ressourcenorientierter Ansatz verkennt leicht die schwerwiegenden Schwierigkeiten in den Beziehungen und im Selbsterleben, die mit Persönlichkeitsstörungen verbunden sind (Dammann u. Fiedler 2005, S. 477). Man sieht insgesamt, dass im Bereich der Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen viel Bewegung ist und insbesondere die künftige Ausgabe des DSM einige Neuerungen aufweisen könnte. 2.5 Allgemeine Anmerkungen zur Therapie der Persönlichkeitsstörungen Die Therapie der Persönlichkeitsstörungen wird immer wieder als besonders schwierig beschrieben, da die Ich-Syntonie einer Veränderungsmotivation der Betroffenen entgegenstehe. Diese eher fatalistische Sicht wurde in den letzten Jahren aber zunehmend in Frage gestellt, insbesondere die Entwicklung spezialisierter Therapieansätze trug wesentlich zur Neueinschätzung bei. Herpertz u. Saß (2003) zitieren Metastudien, die bei 52 % aller als persönlichkeitsgestört diagnostizierten Patienten nach durchschnittlich 1,3 jähriger Behandlung fanden, dass die diagnostische Schwelle nicht mehr überschritten wurde. Fiedler (2003) argumentiert in ähnlicher Absicht, dass sich die Persönlichkeitsentwicklung auch nach der Kindheit fortsetze und ein lebenslanger Prozess sei. Dies beinhalte auch die Möglichkeit positiver Veränderungen im Erwachsenenalter, auch bei persönlichkeitsgestörten Menschen: Genau diese Perspektive der Salutogenese der Persönlichkeitsentwicklung und damit einhergehend eine immer gegebene günstige positive Beeinflussbarkeit auch gravierender Persönlichkeitsstörungen ist es letztlich, die es hoffnungsvoll und sinnvoll werden lässt, Persönlichkeitsstörungen psychotherapeutisch zu behandeln (Fiedler 2003, S.24).

2 Persönlichkeitsstörungen 14 Es ist auf jeden Fall zu beobachten, dass in den letzten Jahrzehnten Ansätze zur Behandlung der Persönlichkeitsstörungen von allen großen Therapierichtungen veröffentlicht worden sind (Beck, A.T., Freeman, A. et al. 1999; Fiedler 1995; Linehan 1996; Sachse 2001). Im Vordergrund stehen bei den meisten dieser Therapieverfahren dabei die sozial unflexiblen, wenig angepassten und normabweichenden Verhaltensweisen, die als behandlungsrelevant angesehen werden. Ohne auf die therapeutischen Grundannahmen im Einzelnen eingehen zu wollen für die Borderline-Persönlichkeitsstörung wird dies in Kapitel 4 geleistet - wird dem Therapeuten oftmals empfohlen, vor allen Dingen zu Beginn der Therapie eine komplementäre Beziehungsgestaltung anzustreben. Durch Erfüllung der zentralen Bedürfnisse des Klienten zum Beispiel Aufmerksamkeit bei einem histrionischen Menschen soll die Basis für eine gute therapeutische Beziehung geschaffen werden. Ist diese einmal vorhanden, kann vorsichtig und schrittweise versucht werden, die durch die unflexiblen und starren Verhaltensmuster des Klienten hervorgerufenen interaktionellen Probleme anzusprechen und zu bearbeiten. Im Verlauf der Therapie muss also nach Ansicht unterschiedlichster therapeutischer Schulen ein Wechsel von einem rein akzeptierenden und unterstützenden Therapeutenstil zu einem mehr konfrontativen Vorgehen erfolgen, um dem Klienten Veränderung zu ermöglichen, was nicht geschähe, wenn nur die zentralen Bedürfnisse des Klient ständig verstärkt würden.

3 Die Borderline-Persönlichkeitsstörung 15 3 Die Borderline-Persönlichkeitsstörung 3.1 Einführung Die Borderline-Persönlichkeitsstörung galt lange als eine der problematischsten und am schwierigsten zu therapierenden Persönlichkeitsstörungen. Erste klinische Beschreibungen dieser Persönlichkeitsstörung stammen vom Anfang des letzten Jahrhunderts von psychoanalytischen Autoren, die die Borderline-Persönlichkeitsstörung als einen Grenzfall zwischen Neurose und Psychose ansahen. Der Begriff Borderline erscheint bei Freud selber nirgendwo in seinem schriftlichen Werk, vielleicht würde man aber heute einen Teil der von Freud beschrieben Fälle hysterischer Neurosen als Borderline-Störungen diagnostizieren. Als der eigentliche Beginn der psychoanalytischen Borderline-Ära kann die heutigen Definitionen schon recht nahe kommende Beschreibung von Borderline- Patienten durch Adolph Stern im Jahr 1938 angesehen werden. Ende der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts veröffentlichte dann Kernberg seinen inzwischen klassischen Aufsatz zur Borderline-Persönlichkeitsorganisation und leitete damit eine neue Phase im Verständnis der Borderline-Störung ein (Kernberg 1967, zit. nach Kind 2000). Klinische Symptomatik Die Symptome der Borderline-Persönlichkeitsstörung sind vielfältig und schillernd, sie betreffen das innere Erleben, die Emotionen, das Verhalten und die zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Emotionen im Rahmen dieser Störung spiegeln das gesamte Spektrum seelischer Empfindungen wider und wechseln häufig: extreme Ängste kommen dabei ebenso vor wie übermäßige Wut und Aggression. Oftmals sind diese Emotionen aber auch ungerichtet und werden von den Betroffenen lediglich als übergroße innere Anspannung und Unruhe wahrgenommen. Viele Patienten bemühen sich verzweifelt, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden, da Alleinsein nur schwer ertragen wird. Die Beziehungen zu anderen Menschen sind zwar häufig intensiv, aber von eher kurzer Dauer. Andere versuchen durch zwanghaftes Kontrollieren die Oberhand zu gewinnen, sind erschöpft, fühlen sich ausgelaugt und leer oder leiden unter depressiven Verstimmungen. Einstellungen und Gefühle gegenüber anderen Menschen können abrupt und für Außenstehende oftmals unerklärlich schwanken. Den Betroffenen fehlt das sichere Gefühl eines eindeutigen und zusammenhängenden Selbst und sie sind sich ihrer Werte, Überzeugungen und Berufswünsche unsicher. Selbstverletzendes Verhalten, parasuizidale Handlungen und Alkohol- und Drogenmissbrauch werden zur Reduktion der als unerträglich empfundenen Spannung eingesetzt. Daneben kann es zu einer Unfähigkeit kommen, sich zu entspannen. Der eigene Körper wird als fremd und unwirklich erlebt

3 Die Borderline-Persönlichkeitsstörung 16 und auch dissoziative Zustände und paranoide Vorstellungen können unter psychischer Belastung auftreten. 3.2 Das Konzept der Borderline-Persönlichkeitsstörung in DSM-IV und ICD-10 Im DSM-IV wird die Borderline-Persönlichkeitsstörung als ein Muster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und in den Affekten sowie von deutlicher Impulsivität beschrieben. Im Einzelnen müssen fünf von neun Kriterien erfüllt sein, um die Diagnose stellen zu können. Die Beschreibung der Borderline- Persönlichkeitsstörung im DSM-IV kennt im Gegensatz zur ICD-10 keine Unterscheidung von Subtypen. Tab. 3.1: Diagnostische Kriterien nach DSM-IV für 301.83 Borderline Persönlichkeitsstörung Ein tiefgreifendes Muster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und in den Affekten sowie von deutlicher Impulsivität. Der Beginn liegt im frühen Erwachsenenalter und manifestiert sich in den verschiedenen Lebensbereichen. Mindestens fünf der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein: 1. Verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden. Beachte: Hier werden keine suizidalen oder selbstverletzenden Handlungen berücksichtigt, die in Kriterium 5 enthalten sind. 2. Ein Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist. 3. Identitätsstörung: ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung. 4. Impulsivität in mindestens zwei potentiell selbstschädigenden Bereichen (Geldausgaben, Sexualität, Substanzmissbrauch, rücksichtsloses Fahren, Fressanfälle ). Beachte: Hier werden keine suizidalen oder selbstverletzenden Handlungen berücksichtigt, die in Kriterium 5 enthalten sind. 5. Wiederholte suizidale Handlungen, Selbstmordandeutungen oder -drohungen oder Selbstverletzungsverhalten. 6. Affektive Instabilität infolge einer ausgeprägten Reaktivität der Stimmung (zum Beispiel hochgradige episodische Dysphorie, Reizbarkeit oder Angst, wobei diese Verstimmung gewöhnlich einige Stunden und nur selten mehr als einige Tage andauern). 7. Chronische Gefühle von Leere. 8. Unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, Wut oder Ärger zu kontrollieren (zum Beispiel häufige Wutausbrüche, andauernde Wut, wiederholte körperliche Auseinandersetzungen). 9. Vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste paranoide Vorstellungen oder dissoziative Symptome.

3 Die Borderline-Persönlichkeitsstörung 17 In der ICD-10 wird die Borderline-Persönlichkeitsstörung als eine Erscheinungsform der Emotional-Instabilen Persönlichkeitsstörung (F 60.3) beschrieben. Diese Emotional- Instabile Persönlichkeitsstörung zeichnet sich allgemein durch die Tendenz aus, impulsiv ohne Berücksichtigung der Konsequenzen zu handeln und durch eine wechselhafte, instabile Stimmungslage. Die Fähigkeit zur Vorausplanung ist eher schwach ausgeprägt und Ausbrüche intensiven Ärgers können zu gewalttätigem Verhalten führen, insbesondere bei Kritik von anderen. Der Borderline (Sub-)Typus der Emotional-Instabilen Persönlichkeitsstörung (F 60.31) wird ähnlich wie im DSM-IV beschrieben und weist neben den Kennzeichen emotionaler Instabilität Störungen des Selbstbildes, der Ziele und inneren Präferenzen auf. Oftmals besteht ein chronisches Gefühl innerer Leere. Die Neigung zu intensiven, aber wenig dauerhaften Beziehungen führt zu emotionalen Krisen, die gepaart sind mit übermäßigen Anstrengungen, ein Verlassenwerden zu vermeiden. Dies kann in Form von Suizidandrohungen, Suizidversuchen und selbstschädigenden Verhalten erfolgen. Der andere Sub-Typus der Emotional-Instabilen Persönlichkeitsstörung, der Impulsive Typus (F 60.30), zeichnet sich neben der oben beschriebenen emtional-instabilen Symptomatik vor allem durch bedrohliches und gewalttätiges Verhalten aus. Sonstige Hinweise, die auf eine Borderline-Persönlichkeitsstörung hinweisen Beck, Freeman et al. (1999) geben in Ergänzung zu den DSM-Kriterien folgende Hinweise, die auf eine Borderline-Persönlichkeitsstörung hindeuten: Tab. 3.2: Hinweise auf die Borderline-Persönlichkeitsstörung (aus: Beck, Freeman et al 1999; S.159) Bei der Darstellung von Problemen und Symptomen: 1. Eine verschiedenartige Mischung aus Problemen und Symptomen, die sich von Woche zu Woche ändern kann; 2. Ungewöhnliche Symptome oder ungewöhnliche Symptomkonstellationen; 3. Starke emotionale Reaktionen, die der Situation nicht entsprechen; 4. Selbstbestrafendes oder selbstzerstörerisches Verhalten; 5. Impulsives, schlecht geplantes Verhalten, das später als dumm, verrückt oder kontraproduktiv angegeben wird; 6. Kurze Perioden psychotischer Symptomatik, die den DSM-III-R-Kriterien der Kurzen Reaktiven Psychose entsprechen (jedoch fälschlicherweise als Schizophrenie diagnostiziert worden sein kann); 7. Unklarheit in bezug auf Ziele, Prioritäten, Gefühle, sexuelle Orientierung usw.; 8. Gefühl der Leere, möglicherweise in der Magengrube lokalisierbar; In zwischenmenschlichen Beziehungen: 1. Mangel an stabilen intimen Beziehungen (möglicherweise verdeckt durch stabile nichtintime Beziehungen oder Beziehungen, die stabil sind, solange keine vollkommene Intimität möglich ist);

3 Die Borderline-Persönlichkeitsstörung 18 2. Die Neigung, andere entweder zu idealisieren oder abzuwerten, eventuell abrupt von der Idealisierung zur Abwertung umzuschwenken; 3. Die Tendenz, Intimität mit Sexualität zu verwechseln; In der Therapie: 1. Häufige Krisen, häufiges Telefonieren mit dem Therapeuten oder das Ersuchen um spezielle Behandlung bei der Festlegung von Sitzungsterminen, endgültigen Vereinbarungen usw.; 2. Extreme oder häufige Fehlinterpretationen der Aussagen, Absichten oder Gefühle des Therapeuten; 3. Ungewöhnlich heftige Reaktionen auf Veränderungen von Terminen, Zimmerwechsel, Urlaub oder Beendigung der Therapie; 4. Geringe Toleranz von direktem Blickkontakt, Körperkontakt oder Nähe; 5. Ungewöhnlich hohe Ambivalenz in Bezug auf zahlreiche Themen; 6. Angst vor Veränderungen oder ungewöhnlich starker Widerstand gegen Veränderungen In psychologischen Tests: 1. Gute Ergebnisse bei strukturierten Tests, wie zum Beispiel der WAIS, und schlechte Ergebnisse oder Anzeichen von Denkstörungen bei projektiven Tests; 2. Erhebungen sowohl auf den Neurose - als auch auf den Psychose-Skalen des MMPI (2,4,6,7,8) oder Anzeichen einer ungewöhnlichen Vielfalt von Problemen. 3.3 Kernbergs Konzept der Borderline-Persönlichkeitsorganisation Von Kernberg gingen entscheidende Impulse zur psychoanalytischen Theorie der Borderline-Störung vor allen Dingen dadurch aus, dass er die heterogene Gruppe der Borderline-Patienten um das klinische Phänomen der Spaltung gruppierte. Die Spaltung zeigt sich beim Borderline-Patienten zum Beispiel in der Aufteilung der Menschen in extrem gute und extrem böse Objekte, wobei ein Objekt seine Qualität abrupt von einem Zustand zum anderen hin verändern kann und alle Gefühle und Einstellungen zu diesem Menschen rasch ins Gegenteil umschlagen können. Grundlegende Überlegungen der weiter unten (s. 3.5 Störungsmodelle) ausführlicher beschriebenen Kernbergschen Objektbeziehungstheorie besagen, dass Borderline-Patienten extreme, schlecht integrierte Ansichten über früheste Bezugspersonen aufweisen und daraus resultierend extreme, unrealistische Erwartungen bezüglich zwischenmenschlicher Beziehungen haben. Bei Kernberg liegt der Schwerpunkt der Definition der Borderline- Persönlichkeitsorganisation auf einem erhaltenen Realitätsbezug bei gleichzeitig vorliegender Einschränkung der Identitätswahrnehmung (die sogenannte Identitätsdiffusion, womit die Schwierigkeit oder Unfähigkeit gemeint ist, kohärente, negative und positive innere Selbst- und Fremdrepräsentanzen zu bilden) und dem Vorliegen sogenannter primitiver Abwehrmechanismen wie Spaltung (im Gegensatz zur Verdrängung beim Neuroti-

3 Die Borderline-Persönlichkeitsstörung 19 ker). Daneben werden von Kernberg unspezifische Charakteristika der Borderline- Persönlichkeitsorganisation wie Impulsivität, geringe Angsttoleranz und geringe Sublimationsfähigkeit beschrieben. Die in diesem Strukturmodell neben der Borderline-Persönlichkeit beschriebene psychotische Persönlichkeitsorganisation verliert im Gegensatz zur Borderline-Persönlichkeitsorganisation nicht nur kurzfristig in Belastungssituationen die Realitätsprüfung, sondern dauerhaft. Die neurotische Persönlichkeitsorganisation hingegen gilt diesem Modell zufolge als die reifste Struktur, sie ist gekennzeichnet durch normale Ich-Identität, die Fähigkeit zu tiefer gehenden Objektbeziehungen, Ich-Stärke, Angsttoleranz, Impulskontrolle, Sublimierungsfähigkeit, Effektivität und Kreativität. Die einzelnen spezifischen Persönlichkeitsstörungen sind nun je nach Schweregrad auf dem neurotischen oder dem Borderline-Niveau angesiedelt. Letztlich geht dieses Modell [von Kernberg] also davon aus, dass es sich bei den Persönlichkeitsstörungen um eine übergeordnete Störung der Persönlichkeitsorganisation ( Struktur ) handelt (Dammann u. Fiedler 2005, S. 470). Tab. 3.3: Differenzierung der Persönlichkeitsorganisation nach Kernberg (zit. nach Leichsenring 2003, S. 35) Strukturelle Kriterien Ausmaß der Identitätsintegration Neurotische Organisation Identitäts-Integration Selbst- und Objektvorstellungen sind voneinander abgegrenzt Borderline- Organisation Identitäts-Diffusion Selbst- und Objektvorstellungen sind voneinander abgegrenzt Psychotische Organisation Identitäts-Diffusion Selbst- und Objektvorstellungen sind unzureichend voneinander abgegrenzt Niveau der Abwehr Realitätsprüfung Widersprüchliche Selbst- und Objektvorstellungen sind in ein Gesamtkonzept integriert reife Abwehr zentriert um Verdrängung Intakt: Differenzierung von Selbst und Nicht-Selbst gelingt Widersprüchliche Selbst- und Objektvorstellungen sind nicht in ein Gesamtkonzept integriert unreife Abwehr zentriert um Spaltung Intakt: Differenzierung von Selbst und Nicht-Selbst gelingt Widersprüchliche Selbst- und Objektvorstellungen sind nicht in ein Gesamtkonzept integriert unreife Abwehr zentriert um Spaltung Beeinträchtigt: Differenzierung von Selbst und Nicht- Selbst ist verlorengegangen

3 Die Borderline-Persönlichkeitsstörung 20 Diese Modellvorstellungen beinhalten zum einen, dass jeder Mensch einem dieser Niveaus zuzuordnen ist, die gesunde Persönlichkeit gibt es nicht und zum anderen, dass auch Menschen ohne psychiatrische Diagnose im herkömmlichen Sinne zum Beispiel auf Borderline-Niveau strukturiert sein können. Dieser eher weite Begriff der Borderline- Persönlichkeitsorganisation trifft im Gegensatz zu den oben beschriebenen DSM-IV- Kriterien auf große Teile der Bevölkerung zu, was die zum Teil erheblichen Unterschiede in der Angabe der Prävalenz der Borderline-Persönlichkeitsstörung in der Allgemeinbevölkerung erklärt (s. Kap. 3.4.1 Prävalenz). Dennoch gelten die DSM-Kriterien als stark von Kernberg beeinflusst. Stone (2000) beschreibt die Definition im DSM sogar als eine Mischung der Kernbergschen objektbeziehungstheoretisch orientierten und der von Gunderson und Singer gelieferten Kriterien, die eher einer deskriptiv-psychiatrischen Perspektive entstammen. Im Grunde kann man die Borderline-Persönlichkeitsstörung nach DSM-IV als eine Unterform der Borderline-Persönlichkeitsorganisation nach Kernberg ansehen. 3.4 Zahlen und Fakten zur Borderline-Persönlichkeitsstörung 3.4.1 Prävalenz Die Zahlen zur Epidemiologie der Störung differieren teilweise erheblich, was aber auch auf die je nach Autor unterschiedliche Definition des Störungsbildes zurückzuführen ist. So geht Kernberg (2000) von einer Verbreitung der Borderline- Persönlichkeitsorganisation in der Allgemeinbevölkerung von 10-15% aus, Bohus (2002) orientiert sich strenger an den DSM-IV-Kriterien und nennt einen Anteil von 1,2% an der Allgemeinbevölkerung und spricht von einer Verteilung von 70% Frauen und 30% Männer. Im DSM-IV wird der Anteil an der Allgemeinbevölkerung mit ca. 2% angegeben, auf ca. 10% bei ambulanten und ungefähr 20% bei stationären psychiatrischen Patienten. In klinischen Populationen mit Persönlichkeitsstörungen liege der Anteil der Patienten mit Borderline- Persönlichkeitsstörung zwischen 30 und 60%. 3.4.2 Verlauf Der Verlauf der Störung kann als sehr variabel bezeichnet werden. Im DSM-IV wird allerdings gefordert, dass sich die Borderline-Persönlichkeitsstörung wie die anderen Persönlichkeitsstörungen im frühen Erwachsenenalter manifestieren müsse. Die Störung gilt als sehr stabil und lange anhaltend, allerdings liegen Hinweise vor, dass die Beeinträchtigungen im hohen Alter abnehmen (Giernalczyk 2005a). Im DSM-IV ist zu lesen, dass die