DAVID GREILSAMMER 19. OKTOBER 2018 ELBPHILHARMONIE KLEINER SAAL
Freitag, 19. Oktober 2018 19:30 Uhr Elbphilharmonie Kleiner Saal State of the Art 1. Konzert 18:30 Uhr Einführung im Kleinen Saal mit Klaus Wiegmann DAVID GREILSAMMER KLAVIER UND PRÄPARIERTES KLAVIER SCARLATTI:CAGE:SONATAS Domenico Scarlatti (1685 1757): Sonate d-moll K 213 John Cage (1912 1992): Sonata XIV Domenico Scarlatti: Sonate d-moll K 141 John Cage: Sonata XIII Domenico Scarlatti: Sonate E-Dur K 531 John Cage: Sonata XI Domenico Scarlatti: Sonate h-moll K 27 John Cage: Sonata I György Ligeti (1923 2006): Musica ricercata / 7. Satz: Cantabile Domenico Scarlatti: Sonate h-moll K 87 John Cage: Sonata XII Domenico Scarlatti: Sonate a-moll K 175 John Cage: Sonata XVI Domenico Scarlatti: Sonate E-Dur K 380 John Cage: Sonata V Domenico Scarlatti: Sonate D-Dur K 492 Keine Pause / Ende gegen 21:15 Uhr Wir bitten Sie, nicht zwischen den einzelnen Sonaten zu applaudieren.
WILLKOMMEN Musikstücke aus ganz unterschiedlichen Epochen schlüssig miteinander in Beziehung zu setzen, ist die Spezialität des Pianisten David Greilsammer. Auch am heutigen Abend schlägt er Brücken über Jahrhunderte, wenn er den Barockkomponisten Domenico Scarlatti und den modernen Revoluzzer John Cage gegenüberstellt. Beide fordern Interpreten und Publikum bis heute heraus: der eine durch virtuose Läufe, der andere durch die Idee, das Klavier mit Schrauben, Ketten und Radiergummis zu»präparieren«und so völlig neue Klänge zu erzeugen. Ergo pendelt Greilsammer zwar zwischen zwei Instrumenten und zwei Welten, richtet den Blick aber stets auf das große Ganze.
DIE MUSIK ZWISCHEN DEN FLÜGELN Zum Programm des heutigen Konzerts»An jeder Epoche klebt heute ein Etikett: Klassik, Barock, Romantik. Und jeder Interpret spezialisiert sich auf eines dieser Etiketten. Mich interessiert etwas ganz anderes: Wo gibt es Verbindungen, wo berühren sich diese musikalischen Welten?«David Greilsammer baut in seinen unkonventionellen Programmen Brücken zwischen den Epochen, zwischen Bach und Schönberg, Händel und Lachenmann, Mozart und Janáček. Und so sitzt er am heutigen Abend sinnbildlich zwischen den Flügeln: Im Wechsel erklingen Sonaten von Domenico Scarlatti und John Cage. 200 Jahre trennen die beiden Komponisten der eine Italiener und Kind des Barockzeitalters, geboren im selben Jahr wie Bach und Händel, der andere US- Amerikaner inmitten der Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Augenscheinlich zwei, die so gar nichts miteinander zu tun haben. David Greilsammer sieht das anders:»scarlatti und Cage verbindet enorm viel: Beide sind Lichtjahre entfernt von der traditionellen Sonate, die in den zwischen ihnen liegenden Jahrhunderten tonangebend war. Ihre Sonaten sind kurz, provokant, leidenschaftlich, voll wilder Farben und Rhythmen. Für ihre jeweilige Zeit waren beide unerhörte Revolutionäre.«Zehn Mal hundert Teufel: Domenico Scarlatti David Greilsammer Dass Domenico Scarlatti die Gesetze seiner Musik einmal selbst bestimmen würde, zeichnete sich früh ab. Schon in jungen Jahren legte er überragende Fähigkeiten als Cembalovirtuose an den Tag.»Als ob zehn Mal hundert Teufel«an den Tasten säßen, beschrieb ein Zeitgenosse sein fulminantes Spiel. Sogar ein Duell mit dem schon damals europaweit bekannten Georg Friedrich Händel soll er sich geliefert haben. Der Anekdote nach siegte Händel an der Orgel, Scarlatti konnte sich am Cembalo behaupten. Genau dieses Instrument sollte zeitlebens Dreh- und Angelpunkt seines Musikerdaseins bleiben. Mit seinen 555 Cembalosonaten begründete Scarlatti seinen Ruf als Revolutionär an den Tasten. Revolutionär, weil er gleich in mehrfacher Hinsicht gegen die Konventionen der Zeit verstieß: Während seine Kollegen mehrsätzige Sonaten komponierten, begnügte Scarlatti sich mit je einem Satz; statt für die übliche Triobesetzung schrieb er für ein Solo-Tasteninstrument. In seinen knappen Stücken tummeln sich abrupte Tonartenwechsel, vertrackte Sprünge und harmoniefremde Töne, zum Beispiel in der Sonata K 175.»Heitere Spinnereien«nannte Scarlatti seine Einfälle, die mit keiner Stimmführungs regel der Zeit (und weit darüber hinaus) zu erklären sind. Sie stellen den Interpreten vor extreme spieltechnische Herausforderungen. In der Sonata K 141 bilden davoneilende Tonwiederholungen die Basis, aus denen sich die Melodie heraus schält. Hier lohnt es sich übrigens auch, genau hinzusehen: Scarlatti lässt den Pianisten passagenweise mit überkreuzten Händen spielen. An anderer Stelle gilt es halsbrecherische Läufe zu bewältigen (besonders eindrucksvoll in der Sonata K 492) oder Akkordbrechungen, die quer über die Klavia tur galoppieren. Die Natur habe ihm zehn Finger gegeben, soll Scarlatti
DIE MUSIK einmal gesagt haben, und er sehe nicht ein, warum er sie nicht alle zehn gebrauchen solle. Außerdem streute Scarlatti mit Vorliebe spanische Volks musik ein, die er während seiner Anstellung am spanischen Königshof aufschnappte Fuhrmannslieder, Tänze, Gitarrenrhythmen und Märsche. Der Einfluss des Flamenco macht sich etwa in der Sonata K 380 in auffälligen und im Barock eigentlich streng verbotenen Quintparallelen bemerkbar. Und im selben Stück erklingt der marsch artige Rhythmus einer Seguedilla, eines spanischen Tanzes. Domenico Scarlatti Wichtiger noch als Klangeffekt und Virtuosität war Scarlatti jedoch der Ausdrucksgehalt seiner Sonaten. Mit nichts anderem sind die schneidenden Kontraste auf engstem Raum, die in den Ohren kneifende Zwischentöne und die Kalt-Warm-Duschen aus Moll und Dur zu erklären. So etwas war im 18. Jahrhundert unerhört. Scarlatti wusste natürlich, dass er gegen maßgebliche Kompositionsregeln der Zeit verstieß, doch das störte ihn nicht weiter. Ob seine Musik denn das Ohr beleidige, lautete seine Gegenfrage, und das konnte freilich niemand behaupten. So hielt er sich nur an eine einzige goldene Regel:»Ein Mann von Genie sollte sich keinem Gesetz unterwerfen als dem der Musik selbst.«von Schrauben, Zahlen und Gefühlen: John Cage John Cage hätte das sicherlich unterschrieben. Schließlich war der 1912 geborene Amerikaner selbst ein Individualist, wie er im Buche steht: Vagabund und Europareisender, Professor für experimentelle Musik, Mitglied einer Künstlerkommune, Schriftsteller und Pilzexperte.»In welchem Käfig man sich auch befindet, man muss ihn verlassen«, schrieb Cage in Anspielung auf seinen eigenen Namen. Und ging selbst mit bestem Beispiel voraus: Seine mehr als 350 Werke umfassen neben Musik auch Klang-Licht-Installationen, Gedichte, Zeichnungen und Ein-Minuten-Vorträge. Für John Cage existierte keine Grenze zwischen Kunst, Spiritualität und dem eigenen Leben. Auch deshalb gilt er heute als einer der einflussreichsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Ihm verdanken wir neue Ansichten über die Stille, den Zufall und die Frage, wie gutes Zuhören funktioniert nach Cage am besten, wenn man in jedem Moment präsent ist, ohne über eben Gehörtes oder Künftiges nachzusinnen. Für Cage wäre auch das Atmen Ihres Sitznachbars, ein knarzender Stuhl oder das Rumoren eines Betonmischers Musik. Berühmtestes Produkt seiner Erfindungsgabe ist das sogenannte präparierte Klavier. Dazu wird ein handelsüblicher Flügel mit Nägeln, Schrauben, Bolzen, Gummi- und Plastikteilen ausstaffiert, die auf den Saiten liegen oder dazuwischenstecken und den Klang durch Rasseln, Schnarren und Scheppern verfremden respektive anreichern. Oft legte Cage im Vorwort zur Partitur detailliert fest, was an welcher Stelle angebracht werden soll (die Position einer einzelnen Schraube hat verblüffend direkte Auswirkungen auf den Klang), sodass das Präparieren des Klaviers manchmal mehr Zeit in Anspruch nimmt, als das eigentliche Stück dauert. Der 1946 bis 1948 entstandene Klavierzyklus Sonatas and Interludes ist Cages umfangreichstes Werk für präpariertes Klavier. Formal lehnen sich die Stücke an den Typus Sonate an, wie ihn auch Scarlatti komponierte: Jede besteht aus zwei wiederholten Teilen, in einigen Fällen erweitert durch ein Vor-, Zwischen- und Nachspiel. Cage war ein Freund der Zahlen. So basieren die Sonaten auf wenigen Motiven, die nach komplexen Regeln wiederholt, ineinander verschachtelt und verändert werden. Jedem Stück liegt ein bestimmtes Zahlenverhältnis zugrunde, das sich auf die gesamte musikalische Struktur auswirkt vom Grundgerüst bis in die einzelnen Notengruppen hinein. Daneben beschäftigte sich Cage in den 40er Jahren auch eingehend mit indischer Philosophie. Besonders interessierte ihn die sogenannte Emotionenlehre, die verschiedene Stimmungen als Reaktionsmöglichkeiten auf Kunst unterscheidet: Verwunderung und Humor, heroische oder erotische Gefühle, Ekel, Angst, Wut und John Cage Zum 100. Geburtstag von John Cage 2012 erschien die Gratis-App»John Cage Piano«. Damit lässt sich mit den Sounds von Cages präpariertem Klavier am eigenen Smartphone experimentieren.
DIE MUSIK David Greilsammer beim Präparieren des Klaviers Mitleid. Allen übergeordnet ist als verbindendes Prinzip die Gelassenheit. Cage beschloss nun, diese Stimmungen in seine Musik zu übertragen wie und wohin genau, hat er allerdings nicht verraten. In die Mitte seines Programms setzt David Greilsammer einen einzelnen Satz aus der Musica ricercata von György Ligeti. Der österreichisch-ungarische Komponist und Zeitgenosse von John Cage schrieb sie zu Beginn seiner Laufbahn, lange bevor er mit Klangflächen und elektronischer Musik auf sich aufmerksam machte. In diesem frühen Werk zeigt sich noch der Einfluss der ungarischen Volksmusik und ihres prominentesten Hüters, Béla Bartók. Darin laufen zwei unabhängige Schichten nebeneinander: Die linke Hand webt einen gleichförmigen Teppich aus der Wiederholung eines Motivs; darüber schwebt eine Melodie, die in Ligetis Werken mehrfach wiederkehrt.»wenn man die Augen schließt,«sagt David Greilsammer,»dann gibt es weder ein 18. noch ein 20. Jahrhundert. Die Musik fließt aus einem Guss, sie wird zu einem einzigen Werk.«Scarlatti, Cage und Ligeti hätte dieses Experiment sicherlich gefallen. LAURA ETSPÜLER
DER KÜNSTLER KLAVIER DAVID GREILSAMMER Bekannt für seine vielseitigen und originellen Programme, gilt der Dirigent und Pianist David Greilsammer weltweit als einer der innovativsten klassischen Künstler. So kürte die New York Times sein Konzertprogramm Scarlatti:Cage:Sonatas als eines der zehn wichtigsten musikalischen Ereignisse des Jahres. Neben seinen einzigartigen Interpretationen von barocker und zeitgenössischer Musik bildet auch Wolfgang Amadeus Mozart einen wichtigen Schwerpunkt seines Schaffens. 2008 führte er in Paris sämtliche Klaviersonaten Mozarts im Rahmen eines ganztägigen Marathons auf. Als Pianist und Dirigent leitete er außerdem Mozarts sämtlichen 27 Klavierkonzerte innerhalb einer Saison. Seit 2013 ist David Greilsammer künstlerischer Leiter und Chefdirigent der Geneva Camerata. Mit dem vielseitigen Genfer Orchester gibt er jährlich rund 40 Konzerte. Gastspiele führten unter anderem bereits nach Paris, London, Peking, Shanghai, und Mexiko. Regelmäßig arbeitet er dabei mit Choreografen, Medienkünstlern und Musikern aus Rock, Pop und Jazz zusammen. Auch in der Elbphilharmonie gastierte er mit seinem Orchester bereits, im Zusammenspiel mit dem Jazzpianisten Yaron Herman an dessen»reflektor«-wochenende. David Greilsammer tritt regelmäßig mit den weltweit renommiertesten Orchestern auf, etwa dem San Francisco Symphony, dem Tokyo Metropolitan Symphony und dem Philharmonique de Radio France. Konzerte führten ihn außerdem zum Verbier Festival, nach Paris und New York. Als Dirigent debütiert er in der aktuellen Saison bei der Hong Kong Sinfonietta, beim Brno Philharmonic und beim BBC; Konzerte als Solist gibt er unter anderem in London, Brüssel, Lyon und Amsterdam. Seine CD-Aufnahmen wurden von der internationalen Kritik sehr gefeiert, wie etwa seine umfassenden Einspielungen von Mozarts Sinfonien und Klavierkonzerten. Auch das Programm des heutigen Abends ist als CD erhältlich.
VORSCHAU MUSIK, FILM, WEIN: GREATEST HITS Wer neue, ungewohnte Beziehungen zwischen Komponisten wie im heutigen Konzert oder Künsten schätzt, sollte sich das Festival»Greatest Hits«schon einmal im Kalender vormerken. Denn auch hier gibt es so erstaunliche wie plausible Querverbindungen zu erleben. Zum Auftakt wird auf Kampnagel der Stummfilm»Die Stadt ohne Juden«aus dem Jahr 1924 gezeigt, der erst kürzlich auf einem Pariser Flohmarkt wiederentdeckt wurde. Dazu hat die Komponistin Olga Neuwirth eine neue Filmmusik geschrieben. Im Kleinen Saal der Elbphilharmonie spielt das Ensemble Resonanz ihr neues Werk»Alleo«, das sich auf Bachs gleichfalls erklingendes»brandenburgisches Konzert«Nr. 4 bezieht. Und zum Abschluss auf Kampnagel erkundet ein siebenstündiges (!)»Symposion«den rauschhaften Zusammenhang zwischen Musik und Wein. 28.11. 1.12.2018 www.greatest-hits-hamburg.de Olga Neuwirth Es ist nicht gestattet, während des Konzerts zu filmen oder zu fotografieren. IMPRESSUM Herausgeber: HamburgMusik ggmbh Geschäftsführung: Christoph Lieben-Seutter (Generalintendant), Jochen Margedant Redaktion: Clemens Matuschek, Simon Chlosta, Laura Etspüler, Julika von Werder Lektorat: Reinhard Helling Gestaltung: breeder typo alatur, musialczyk, reitemeyer Druck: Flyer-Druck.de WIR DANKEN UNSEREN PARTNERN PRINCIPAL SPONSORS BMW Montblanc SAP Julius Bär PRODUCT SPONSORS Coca-Cola Hawesko Lavazza Meßmer Ricola Ruinart Störtebeker CLASSIC SPONSORS Aurubis Bankhaus Berenberg Commerzbank AG DZ HYP GALENpharma Hamburger Feuerkasse Hamburger Sparkasse Hamburger Volksbank HanseMerkur Versicherungsgruppe HSH Nordbank Jyske Bank A/S KRAVAG-Versicherungen M.M.Warburg & CO ELBPHILHARMONIE CIRCLE FÖRDERSTIFTUNGEN Kühne-Stiftung Körber-Stiftung Hans-Otto und Engelke Schümann Stiftung Haspa Musik Stiftung Hubertus Wald Stiftung Ernst von Siemens Musikstiftung Cyril & Jutta A. Palmer Stiftung Mara & Holger Cassens Stiftung Programm Kreatives Europa der Europäischen Union Adam Mickiewicz Institut Stiftung Elbphilharmonie Freundeskreis Elbphilharmonie + Laeiszhalle e.v. Anzeigen: Antje Sievert, +49 40 450 698 03, antje.sievert@kultur-anzeigen.com BILDNACHWEIS David Greilsammer (unbezeichnet / Julien Mignot); Domenico Scarlatti: Porträt von Domingo Antonio Velasco (1738); John Cage (Rex Rystedt); präpariertes Klavier (Vincenzo D Alto / Montreal Gazette); Olga Neuwirth (Harald Hoffmann)