Dimensionen der Patientenorientierung in der Integrierten Versorgung am Beispiel Gesundes Kinzigtal Achim Siegel, Linda Zimmermann, Ulrich Stößel Bei der Ausgestaltung von Gesundheitsversorgungssystemen rückt eine Frage zunehmend in den Vordergrund: Wie können angesichts der Eigeninteressen und der Eigendynamik von Versorgungsinstitutionen die Anliegen und Interessen der Patienten gestärkt werden? So sah der Sachverständigenrat viele Organisationsformen im Gesundheitswesen zwar als leistungserbringer- oder versichererorientiert, aber als wenig patientenorientiert (SVR 2000/2001; SVR 2003). Als Hoffnungsträger einer stärkeren Patientenorientierung galt u.a. die Integrierte Versorgung (ebd.: 90f). Dieser Beitrag erläutert am Beispiel der 2005 gegründeten Integrierten Versorgung Gesundes Kinzigtal (IVGK) die Entwicklung und das Potential einer populationsbezogenen Integrierten Versorgung in Sachen Patientenorientierung (PO). Die IVGK wird von der Managementgesellschaft Gesundes Kinzigtal GmbH in enger Zusammenarbeit mit AOK und LKK Baden-Württemberg gesteuert. Die Managementgesellschaft übernimmt für die im Kinzigtal wohnenden AOK- und LKK-Versicherten ca. 31.000 Personen eine virtuelle Budgetmitverantwortung und koordiniert die Gesundheitsversorgung sektorenübergreifend (Hermann et al. 2006; Siegel et al. 2008; Hildebrandt et al. 2010). Die Gesundes Kinzigtal GmbH gehört zu zwei Dritteln Mitgliedern des regionalen Ärztenetzes MQNK (Medizinisches Qualitätsnetz Ärzteinitiative Kinzigtal); ein Drittel der Anteile wird von der Hamburger Beratungsgesellschaft Optimedis AG gehalten. Strukturelle Dimension der PO: Die in der IVGK implementierten Präventionsund Versorgungsprogramme (Hildebrandt et al. 2010) lassen sich als strukturell patientenorientiert auffassen. Das kann am IVGK-Programm Psychotherapie akut beispielhaft gezeigt werden. Das Programm ist auf Patienten mit akutem psychotherapeutischem Konsultationsbedarf zugeschnitten. Diese Patienten sind in der herkömmlichen Versorgung in der Regel mit einer mehrmonatigen Wartezeit konfrontiert: Oft warten die Betroffenen länger als ein halbes Jahr auf den Beginn einer Psychotherapie. Solche Verhältnisse widersprechen nicht nur dem Grundsatz der PO; verglichen mit einem System, das eine zeitnahe psychotherapeutische Behandlung gewährleisten würde, sind solche Verhältnisse auch wenig effektiv und vermutlich weniger effizient, denn es ist davon auszugehen, dass psychische Krisen im Fall eines mehrmonatigen Behandlungsaufschubs häufiger zu chronischen psychischen Störungen und Hospitalisierungen führen. Die IVGK verfügt über Mittel und Wege, das Problem effektiver und patientenorientierter zu lösen: Sobald ein Patient z.b. bei seinem Hausarzt Hilfe nachfragt oder der Hausarzt eine akute psychische Krise erkennt, kann sich der Patient in Psychotherapie akut einschreiben. Der Patient entscheidet sich für einen mit der IVGK kooperierenden ärztlichen oder psychologischen Psychotherapeuten und vereinbart einen Termin. Hausarzt und Psychotherapeut stimmen sich telefonisch über die Hintergründe und das bisherige Krankheitsbild ab (Kind und Hildebrandt 2010). Entscheidend ist: Die teilnehmenden Psychotherapiepraxen halten
pro Woche stets sog. Notfalltermine vor, so dass sie tatsächlich zeitnah innerhalb einer Woche Termine anbieten können. Die Notfall -Intervention beinhaltet ein Erstgespräch und maximal 6 weitere zeitnahe Sitzungen. Kann der Therapeut schon im Erstgespräch absehen, dass 6 Sitzungen nicht ausreichen, hilft er dem Patienten, möglichst rasch einen regulären freien Therapieplatz zu finden. Die Vorhaltung und Abhaltung solcher Notfalltermine wird den teilnehmenden Psychotherapeuten von der Gesundes Kinzigtal GmbH extrabudgetär vergütet. An diesem Beispiel wird das im Vergleich zur herkömmlichen Versorgung strukturell größere Potential für patientenorientierte Versorgungsangebote deutlich: Da die regionale Koordinierungsinstanz hier: die Gesundes Kinzigtal GmbH disziplinen- und sektorenübergreifend Anreize für innovative Versorgungsformen setzen kann, können patientenorientierte Versorgungsziele relativ aufwandsarm realisiert werden. Institutionelle Dimension: Eine weitere Dimension der PO bezieht sich auf die Mitgestaltung des Versorgungssystems durch Patienten bzw. Patientenvertreter (SVR 2003: 94-102); dies nennen wir die institutionelle Dimension der PO. In der IVGK kommen derartige Mitspracherechte in der Charta der Patientenrechte und in den Rollen des Patientenbeirats und des Patientenombudsman zur Geltung. Jedem Patienten, der sich in die IVGK einschreibt, wird eine 7-seitige Charta der Patientenrechte ausgehändigt, in der seine Rechte als Patient festgehalten sind. Der 5- köpfige Patientenbeirat wird einmal im Jahr von den (und aus den Reihen der) eingeschriebenen Patienten gewählt. Der Beirat ist zumeist erster Ansprechpartner für Patienten, die unzufrieden sind (z.b. mit einer zu langen Wartezeit in der Arztpraxis). Der vom Patientenbeirat bestimmte Patientenombudsman wird schlichtend und ggf. schiedsrichterlich tätig, wenn sich z.b. ein Patient an ihn wendet mit der Meinung, ihm werde eine Versorgungsleistung vorenthalten, auf die er eigentlich Anspruch habe. Die in erster Linie entscheidenden Instanzen der IVGK der Lenkungsrat, der Ärztliche Beirat und die IVGK-Geschäftsführung können den Patientenbeirat vor Entscheidungen über Patientenbelange konsultieren. Der Patientenbeirat verfügt jedoch hierbei anders als der Ärztliche Beirat über keine institutionalisierten Mitentscheidungsrechte. In der IVGK gibt es also beachtliche Ansätze einer institutionalisierten Partizipation von Patienten und Patientenvertretern; dass bislang (noch) keine Mitgestaltungsrechte von Patientenvertretern in den obersten Entscheidungsinstanzen institutionalisiert wurden, verdeutlicht aber auch die (bisherigen) Grenzen einer Mitgestaltung des Systems durch Patienten. Mikro-Dimension der PO: Die vermutlich wichtigste da für jeden einzelnen Patienten relevante Dimension der PO betrifft die Mikro-Ebene der Versorgung, insbesondere die Behandler-Patienten-Interaktion. PO auf der Mikro-Ebene umfasst so unterschiedliche Elemente wie etwa die Empathie des Behandlers gegenüber seinem Patienten oder die explizite Beteiligung des Patienten an Therapieentscheidungen. PO auf der Mikro-Ebene erfordert einerseits eine entsprechende Offenheit und sozial-kommunikative Fähigkeiten der Behandler (Lewin et al. 2009; SVR 2003: 91-93), andererseits eine basale Gesundheitskompetenz der Patienten (ebd.: 103ff). Die IVGK versucht, die Gesundheitskompetenz und das Wissen der Patienten vor allem auf zwei Arten zu fördern: Zum einen werden im Rahmen von strukturierten Behandlungsprogrammen auch Patien- 2
tenschulungen organisiert und evidenz-basierte Patienteninformationen angeboten; zum anderen organisieren Managementgesellschaft und das Ärztenetz MQNK regelmäßig öffentliche Vortrags- und Informationsveranstaltungen zu allgemein interessierenden Gesundheits- und Versorgungsthemen, die starke Resonanz finden. Zudem haben sich die behandelnden Ärzte in der IVGK dazu verpflichtet, mit kranken oder krankheitsgefährdeten Patienten Zielvereinbarungen auszuarbeiten, die Therapiemotivation und Eigeninitiative der Patienten zur Erhaltung ihrer Gesundheit stimulieren sollen. Für die Leistungserbringer teilweise auch für deren Medizinische Fachangestellte werden von der IVGK periodisch Fortbildungsveranstaltungen zur Weiterentwicklung ihrer kommunikativen und koordinativen Kompetenzen organisiert. Im Fokus standen bisher Workshops zur Partizipativen Entscheidungsfindung (Härter et al. 2005), zur salutogenen Kommunikation mit Patienten (Petzold und Lehmann 2009) und zum Case Management herzinsuffizienter sowie depressiver Patienten. Inwieweit sich solche Interventionen auf der Mikro-Ebene in einer hohen Patientenzufriedenheit auswirken, wird im Fall der IVGK durch regelmäßige Patientenbefragungen externer Forschungsinstitute geprüft (vgl. Siegel und Stößel 2009). Eine weitere bislang in der IVGK nicht genutzte, aber relativ effektive Möglichkeit zur Steigerung der Gesundheitskompetenz der Patienten ist der Einsatz sog. Entscheidungshilfen (O Connor et al. 2009). Darüber hinaus sind auf seiten der Behandler wie der Patienten weitere PO-bezogene Interventionen denkbar, deren Effektivität als gesichert gelten kann (Lewin et al. 2010; Légaré et al. 2010). Literatur: Härter M, Loh A, Spies C (Hrsg.). Gemeinsam entscheiden erfolgreich behandeln. Köln: Deutscher Ärzteverlag, 2005. Hermann C, Hildebrandt H, Richter-Reichhelm M, Schwartz FW, Witzenrath W. Das Modell Gesundes Kinzigtal. Managementgesellschaft organisiert Integrierte Versorgung einer definierten Population auf Basis eines Einsparcontractings. Gesundheits- und Sozialpolitik (5-6): 11-29. Hildebrandt H, Hermann C, Knittel R, Richter-Reichhelm M, Siegel A, Witzenrath W. Gesundes Kinzigtal Integrated Care: Improving population health by a shared health gain approach and a shared savings contract. International Journal of Integrated Care 10, 2010: 1-15. (Zitierdatum 04.11.2010, abrufbar unter http://www.ijic.org/index.php/ijic/article/view/539/1051.) Kind T, Hildebrandt H. Regionale Integrierte Vollversorgung Gesundes Kinzigtal : Vortrag auf dem DGVT-Kongress, Berlin 2010. (Zitierdatum 15.11.2010, abrufbar unter http://www.dgvt.de/fileadmin/user_upload/dokumente/kongress/kongress_2010/praesent ationen/hh_kind_dgvt-kongress-salutogenese_psychotherapie_20100306.pdf.) 3
Légaré F, Ratté S, Stacey D, Kryworuchenko J, Gravel K, Graham ID, Turcotte S. Interventions for improving the adoption of shared decision making by healthcare professionals (Review). Cochrane Database of Systematic Reviews 2010, Issue 5. Lewin S, Skea Z, Entwistle VA, Zwarenstein M, Dick J. Interventions for providers to promote a patient-centred approach in clinical consultations (Review). The Cochrane Library 2009, issue 1. O Connor AM, Bennett CL, Stacey D, Barry M, Col NF, Eden KB, Entwistle VA, Fiset V, Holmes-Rovner M, Khangura S, Llewellyn-Thomas H, Rovner D. Decision aids for people facing health treatment or screening decisions (Review). The Cochrane Library 2009, issue 3. Petzold T, Lehmann N. Salutogene Kommunikation zur Annäherung an attraktive Gesundheitsziele. Ein dreistufiges Verfahren zur Ausrichtung der Arzt-Patient- Kommunikation auf gesunde Entwicklung. Bad Gandersheim 2009. Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (SVR 2000/2001). Gutachten 2000/2001: Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit. Bd. I: Zielbildung, Prävention, Nutzerorientierung und Partizipation. Bundestagsdrucksache 14/5660. Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (SVR 2003). Gutachten 2003: Finanzierung, Nutzerorientierung und Qualität. Bd. I: Finanzierung und Nutzerorientierung. Bundestagsdrucksache 15/530. Siegel A, Stößel U, Gaiser K, Hildebrandt H. Integrierte Vollversorgungssysteme und soziale Ungleichheit das Beispiel Gesundes Kinzigtal. Public Health Forum 2008 (59): 26-28. Siegel A, Stößel U. Evaluation der Integrierten Versorgung Gesundes Kinzigtal (IVGK): T0- und T1-Erhebung zur Ermittlung der Einstellungen von Versicherten zur Versorgungsqualität, zur Patientenzufriedenheit und zum Shared-Decision-Making (SDM). EKIV-Newsletter 2009 (1): 3-9. (Zitierdatum 13.11.2010, abrufbar unter http://www.ekiv.org/pdf/ekiv-newsletter_2009-1.pdf). Abstract Bei der Ausgestaltung von Gesundheitsversorgungssystemen rückt eine Frage zunehmend in den Vordergrund: Wie können angesichts der Eigeninteressen und der Eigendynamik von Versorgungsinstitutionen die Anliegen und Interessen der Patienten gestärkt werden? So sah der Sachverständigenrat 2003 viele Organisationsformen im Gesundheitswesen 4
zwar als leistungserbringer- oder versichererorientiert, aber als wenig patientenorientiert. Als Hoffnungsträger einer stärkeren Patientenorientierung wurde u.a. die Integrierte Versorgung gesehen. Dieser Beitrag erläutert am Beispiel der 2005 gegründeten Integrierten Versorgung Gesundes Kinzigtal die Entwicklung und das Potential einer populationsbezogenen Integrierten Versorgung in Sachen Patientenorientierung. Schlüsselwörter: Patientenorientierung, Patientenbeteiligung, Integrierte Versorgung. Keywords: Patient-Centred Care, Patient Participation, Integrated Health Care Systems. Mögliche Interessenskonflikte: (siehe auch gesondertes Formular.) Der Erstautor arbeitet an der Universität Freiburg in einem aus Drittmitteln finanzierten Projekt. Drittmittelgeber ist die Gesundes Kinzigtal GmbH. Der Drittmittelgeber hat dem Projektnehmer vertraglich zugesichert, dass der wissenschaftliche Charakter und die Neutralität eventueller aus dem Projekt entstehender Publikationen nicht angetastet werden. Danksagung/Acknowledgement: Die Autoren danken der Gesundes Kinzigtal GmbH, der Optimedis AG, der AOK Baden- Württemberg, der LKK Baden-Württemberg und dem Medizinischen Qualitätsnetz Ärzteinitiative Kinzigtal (MQNK) für gute Kooperation und die Bereitstellung von Informationen. Unser Dank gilt insbesondere Gisela Daul, Karin Gaiser, Dr. Monika Roth, Tanja Schillinger, Yvonne Stützle, Gerhard Adis, Helmut Hildebrandt und Dr. Thomas Maack. Korrespondierender Autor: Dr. Achim Siegel, Universität Freiburg, Abt. f. Medizinische Soziologie, Hebelstr. 29, 79104 Freiburg. Tel. +49/761/203-5518 oder -5530. Email: achim.siegel@medsoz.unifreiburg.de. 5