M A K R O A U S B L I C K O S T E U R O P A. J u n i 2 1 5 Osteuropas größte Volkswirtschaften weisen höchst unterschiedliche Preisdynamiken auf. In Russland fällt die Preissteigerungsrate von hohem Niveau, in Ungarn und Polen kämpfen die Notenbanken gegen deflationäre Kräfte. In der Türkei steigt die Inflation wieder in ungewollte Höhen. In Russland steht die Inflation aktuell bei 15,8 %. Der Trend ist hier fallend, was vor allem auf den mittlerweile wieder stabileren Rubel zurückzuführen ist. Das nutzt die Zentralbank, um ihren Zins nach der Notfall-Erhöhung auf 17 % im Dezember wieder auf normale Höhen zu bringen Ende 215 rechnen wir mit einem Leitzins von etwa 8 bis 9 % und im Jahresdurchschnitt mit einer Inflation von 1,9 %. In der Türkei will die Inflation nicht fallen, obwohl der niedrige Ölpreis eigentlich ein Geschenk für die Notenbanker und das notorisch zu hohe Preisniveau ist. Aber: Im Mai stieg die Inflation von 7,9 auf 8,1 %. Noch stärker stieg die Kerninflation (also das Preisniveau ohne Lebensmittel und Energie), welche von 7, auf 7,5 % kletterte. In den kommenden Monaten dürfte das weitergehen. Dahinter steckt die schwache Währung und damit höhere Importpreise. Die politisch forcierte, relativ expansive Stellung der Zentralbank tut ihr Übriges. Größeres geldpolitisches Zügelanziehen ist dieses Jahr zudem nicht zu erwarten. In Polen und Ungarn hingegen fallen die Preise die Inflation ist negativ. Von einer vollen Deflation würden wir aber nicht sprechen wollen: So sind die Kerninflationsraten weiter positiv; ohne den Ölpreiseffekt steigen die Preise also. Zudem reagieren die Notenbanken mit Expansion. Zum Jahresende dürften die Inflationsraten wieder positiv werden und stärker, wenn auch nur langsam den BIP-Wachstumsraten der Länder folgen. Darüber hinaus Russland: Die Rezession ist nun auch offiziell da, und sie dürfte bis ins nächste Jahr anhalten. Wir senken unsere Wachstumserwartung für 216 sogar noch ein wenig nach unten. Die Lage in der Ostukraine birgt zudem weiter Eskalationsrisiko. Türkei: Kurz vor den Wahlen ist das größte Risikoszenario die absolute Mehrheit für die regierende AKP. Dann könnte sie die Verfassung ändern und Präsident Erdogan mehr Macht verschaffen. Ein stärkeres Präsidentenamt unter Erdogan ist volkswirtschaftlich aber äußerst risikobehaftet. Polen: Nachdem das Land einen neuen Präsidenten gewählt hat, wird der Wahlkampf im Vorlauf der Parlamentswahlen im kommenden Oktober voraussichtlich zu zumindest etwas höheren Staatsausgaben führen. Auch die Notenbank könnte deshalb mittelfristig regierungsnäher werden. Inflation in den größten Volkswirtschaften Osteuropas 16 13 1 7 1-2 Dez 13 Mrz 1 Jun 1 Sep 1 Dez 1 Mrz 15 Gestrichelte Linien geben Kerninflation an, also Inflation abzüglich Lebensmittel- und Energiepreisen. In % gegenüber Vorjahr. Quelle: Bloomberg. BIP- Russland Türkei Polen Ungarn 215 216 217 Russland -3,6-1,,5 Türkei 2,8 3, 3,9 Polen 3,5 3,5 3,6 Ungarn 2,7 2, 2,2 In % gegenüber Vorjahr. Quelle: Berenberg Inhaltsverzeichnis Russland Rezession trotz Rubel-Rallye Seite 2 Türkei Parlamentswahlen im Juni und ihre Risiken Seite 3 Polen Präsidentschaftswahl als Vorgeschmack Seite 1/5 MAKROAUSBLICK OSTEUROPA. Juni 215
RUSSLAND Rubel-Rallye konnte die Rezession nicht verhindern Die Rezession ist nun auch offiziell da: Wie erwartet schrumpfte die russische Wirtschaft im ersten Quartal um 1,9 % im Vergleich zum ersten Vorjahresquartal. Der Kollaps blieb also aus, aber die Rezession zieht sich. Die Industrieproduktion fällt. Der vorlaufende Einkaufsmanagerindex dümpelt weiter unter 5 Punkten, also im kontraktiven Bereich. Vor allem aber leidet der heimische Konsum: Das Verbrauchervertrauen fällt auf Rekordtiefen, die Reallöhne ebenso die Zahl, der Russen, die sich nur noch Güter des absoluten Grundbedarfs leisten könnten, steigt. Die maue materielle Lage der Bevölkerung wird durch den Umstand verschlimmert, dass viele Russen in Erwartung steigender (Import-)Preise bis zum Ende des letzten Jahres noch schnell ihre Ersparnisse verkonsumierten. Mit anderen Worten: Der russische Binnenmarkt verliert Dynamik als Wachstumsquelle. Das heißt, dass trotz kürzlicher Erholung der russischen Finanzmärkte durchaus negative Zweitrundeneffekte für das Wachstum kommen könnten. Wir erwarten insgesamt eine BIP-Kontraktion von 3,6 % in diesem Jahr. Für das nächste Jahr senken wir unsere Prognose von,5 auf 1 %. Trotz der wirtschaftlichen Misere dürfte die politische Unterstützung für den Kreml und seinen außenpolitischen Kurs nicht signifikant fallen eine Eigenheit vieler ehemaliger Sowjet- Staaten: Gerade die älteren Generationen sind noch viel schlechtere wirtschaftliche Umstände gewöhnt. Deshalb ist die Gemengelage in der Ostukraine weiterhin gefährlich: Wir schätzen das Eskalationspotenzial höher ein als z.b. der erstarkte Rubel oder auch die fallenden Kreditausfallversicherungsprämien suggerieren. Seit dem offiziellen Waffenstillstand im Februar haben die Schlagzeilen abgenommen, doch aktuell wurden wieder schwer bewaffnete russische Truppen an die Grenze zur Ostukraine verlegt; zudem gibt es immer wieder kleinere Gefechte rund um die Hafenstadt Mariupol. Wie oben diskutiert fällt die russische Inflation von hohem Niveau: Sie beträgt immer noch 15,8 % und die Kerninflation stagniert bei 17,1 %. Die Notenbank dürfte trotz einiger jüngster Zweifel auf Expansionskurs bleiben. Wir erwarten im Juni eine Zinssenkung von 12,5 % auf 11,5 %. Außerdem verunsichert die russische Geldpolitik weiter durch unerwartete Maßnahmen; zuletzt indem sie begann, 1 bis 2 Mio. US-Dollar pro Tag zu kaufen, offiziell, um ihre Reserven auszubauen. Das ergibt Sinn, haben die Reserven doch seit der Annexion der Krim um 12,2 Mrd. US-Dollar abgenommen. Doch schwächt das auch den Rubel etwas, was durchaus als Währungsmanipulation interpretiert werden könnte und dass, obwohl die Notenbank seit November offiziell die Inflation und nicht den Rubelkurs als Zielgröße hat. Weitere Zentralbankaktionen sind gut möglich. Rendite auf 5-jährige Staatsanleihen und CDS 6 2 Jul 1 Jul 11 Jul 12 Jul 13 Jul 1 Rendite in %. CDS = Kreditausfallversicherungsprämien für 5-jährigen Staatsanleihen im Vergleich zu US-Staatsanleihen in Punkten. Quelle: Bloomberg. Reallöhne und Arbeitslosigkeit 15 8-8 In % gegenüber Vorjahr. Quelle: Bloomberg. 5-j. Staatsanleihen CDS-Spread (r. Achse) -15 Feb 8 Feb 9 Feb 1 Feb 11 Feb 12 Feb 13 Feb 1 Feb 15 Reallöhne Arbeitslosigkeit 215 216 217 BIP -3,6-1,,5 Inflation 1,9 8,6 7,5 Arbeitslosigkeit 6,8 7, 6,5 Haushalt -2,8-2,9-2, Leistungsbilanz 3,5 3, 1,8 6 2 2/5 MAKROAUSBLICK OSTEUROPA. Juni 215
TÜRKEI Parlamentswahlen im Juni die absolute Mehrheit für die AKP ist ein Risiko Kommenden Sonntag wählt die Türkei ein neues Parlament. Es geht vor allem um die Macht von Präsident Erdogan. Als Ministerpräsident sorgte er in den letzten elf Jahren zwar dafür, dass die Wirtschaft rapide wuchs und stabiler wurde. Jedoch riskiert er spätestens seit den Gezi-Protesten im Sommer 213 immer mehr dieser Errungenschaften durch seinen zunehmend autoritären Politikstil. Gewinnt Erdogans Partei, die regierende AKP, die absolute Mehrheit, ist eine Verfassungsänderung wahrscheinlich, die dem Präsidialamt nicht mehr nur eine repräsentative, sondern eine exekutive Rolle zuordnet (ähnlich wie in Frankreich). Die Konzentration der Macht in Erdogans Händen ist volkswirtschaftlich problematisch. Ein stärkerer Erdogan würde die Standhaftigkeit und die Glaubwürdigkeit der Notenbank schwächen. Nach seinen Vorstellungen solle diese nämlich die Zinsen weiter senken und die Kreditvergabe ankurbeln. Doch in Zeiten knapperen und scheueren internationalen Kapitals und in Anbetracht des Kurswechsels der amerikanischen Zentralbank (Tapering und die bevorstehende Zinswende) bewerten Investoren wie auch türkische Konsumenten und Unternehmen die volkswirtschaftliche Lage immer kritischer. Prämien für Kreditausfallversicherungen sowie Zinsen auf Staatsanleihen steigen; Vertrauensindikatoren fallen. Die Lira verlor in den letzten zwei Jahren fast 3 % gegenüber dem US-Dollar (eine der schwächsten Emerging Market-Währungen); gleichzeitig schwankte sie stärker. Schließlich erwarten wir, dass das Wachstum von durchschnittlich 8 % in den Jahren 21-11 auf etwa 2,8 % dieses Jahr fällt. Ein stärkerer Präsident würde zudem wenig liberales Reformmomentum erzeugen. Presse und Judikative dürften noch mehr Zähne gezogen werden. Das politische Risiko dürfte steigen; noch häufiger würden Proteste (und deren gewaltsame Niederschlagung) die Schlagzeilen auf den Bloomberg-Bildschirmen der Investoren dominieren. So würde auch die ökonomische Stabilität des stark von ausländischem Geld abhängigen Landes fallen. Dass die AKP die absolute Mehrheit gewinnt und die Verfassung ändert, ist aber unser Risikoszenario (2 % Wahrscheinlichkeit). Eine einfache Mehrheit für die AKP ist unser Basisszenario (5 %). Politischer Lärm danach wäre dennoch weiter problematisch. Die ökonomische Schwäche dürfte anhalten. Eine Koalition (2 %) mit den Nationalisten würde wirtschaftspolitisch nichts ändern, jedoch den innertürkischen Kurdenkonflikt anheizen. Außerdem könnte eine koalierende AKP zerbrechen und so vorgezogene Neuwahlen wahrscheinlich machen. Einzig die unwahrscheinliche Koalition (1 %) mit der wirtschaftspolitisch recht liberalen, neuen kurdischen Partei könnte die politische Lage etwas entspannen. Leitzins, Rendite auf Staatsanleihen und Lira-Kurs 12 9 7 Jan 1 Mai 1 Sep 1 Jan 15 Mai 15 Leitzins Zins-Obergrenze Rendite 5j. Staatsanleihen Leitzins und Rendite in %. Lira in US-Dollar. Quelle: Bloomberg. Lira-Kurs über die letzten 12 Monate 11 1 9 8 7 Mai 1 Jul 1 Sep 1 Nov 1 Jan 15 Mrz 15 Mai 15 Lira in US-Dollar Lira in Euro In Punkten; Index = 1 zu Beginn. Quelle: Bloomberg 215 216 217 BIP 2,8 3, 3,9 Inflation 7,3 6,8 6,7 Arbeitslosigkeit 1,2 9,3 9,6 Haushalt -1,8-2, -2, Leistungsbilanz -5,3-5,1-5,2 3/5 MAKROAUSBLICK OSTEUROPA. Juni 215
POLEN Die Präsidentschaftswahlen geben einen Vorgeschmack auf die Parlamentswahlen im Oktober Polen hat einen neuen Präsidenten gewählt. Der oppositionelle Andrzej Duda der konservativen Recht und Gerechtigkeits-Partei wird ab August den bisherigen Präsidenten, Bronislaw Komorowski von der liberal-zentristischenvolksplattform, ablösen. Das Wahlergebnis für das weitgehend repräsentative Präsidialamt ist überraschend: Zum einen, weil Umfragen einen Sieg Komorowskis vorhergesagt hatten. Zum anderen, weil im Oktober Parlamentswahlen sind und das jetzige Wahlergebnis deshalb ein wichtiger Stimmungsindikator ist. Rendite auf 5-jährige Staatsanleihen und CDS 6 2 6 2 Dudas durchaus knappe Wahl deutet auf eine gewisse Müdigkeit der Bevölkerung in Bezug auf die regierende Volksplattform. Zudem ist Dudas Wahl auch als Protest zu sehen: Er machte damit Wahlkampf, dass er die von der Regierung eingeführte Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 rückgängig machen wolle. Er äußerte sich nicht nur gegenüber Moskau, sondern auch gegenüber Brüssel sehr kritisch. Den Eurobeitritt Polens würde er am liebsten auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben. Auch fielen Vorschläge, Sondersteuern auf ausländische Unternehmen einzuführen und die immer noch hohen Summen an ausstehenden Krediten in Schweizer Franken in Zloty zwangsumzutauschen Ungarns Wirtschaftspolitik lässt grüßen. Nun ist Duda nach der Wahl in vielen Themen wieder zurückgerudert; außerdem wird Politik ja immer noch im Parlament gemacht. Im Vergleich zur Türkei ist die Politik einfach kein so großer Störfaktor. Dennoch folgen aus Dudas Wahl wirtschaftspolitische Konsequenzen für die nächsten Monate und Jahre: 1) Der Wahlkampf für Wahlen im Oktober wird wahrscheinlich stärker auf Basis höherer Staatsausgaben geführt. Nachdem die Opposition mit Dudas Vorschlägen vorgelegt hat, dürfte die Regierungspartei nachziehen, um nicht noch mehr Wähler zu verlieren. Höhere Staatsausgaben könnten in Aussicht gestellt werden sodass eine etwas höhere Belastung des Budgets durch fiskalische Strohfeuer nach den Wahlen wahrscheinlicher wird, auch wenn Polen u.a. eine verfassungsmäßige Schuldengrenze hat, die zu expansive Staatsausgaben verhindern wird. 2) Potenziell expansivere Politik schwächt aber schon jetzt den Zloty und lässt die Zinsen auf polnische Staatsanleihen steigen. 3) 216 endet die Amtsperiode von Notenbankchef Belka und acht weiteren Währungshüterinnen und -hütern. Duda könnte im Falle eines oppositionellen Wahlsiegs regierungsnahe Notenbanker berufen. Die durch Belka aktuell garantierte Unabhängigkeit der Bank wäre zumindest in Frage gestellt. ) Polen könnte in der EU ähnlich wie Großbritannien Sonderforderungen stellen und so neue Unruhe in Brüssel erzeugen. 5) Schließlich könnte bei einem Regierungswechsel im Oktober der Euro-Beitritt Polens noch weiter in die Ferne rücken. Jul 1 Jul 11 Jul 12 Jul 13 Jul 1 Rendite in %. CDS = Kreditausfallversicherungsprämien für 5-jährigen Staatsanleihen im Vergleich zu US-Staatsanleihen in Punkten. Quelle: Bloomberg. Zloty-Kurs über die letzten 12 Monate 15 95 85 In Punkten; Index = 1 zu Beginn. Quelle: Bloomberg. 5j. Staatsanleihen CDS-Spread (r. Achse) 75 Mai 1 Jul 1 Sep 1 Nov 1 Jan 15 Mrz 15 Mai 15 Zloty in Euro Zloty in Franken 215 216 217 BIP 3,5 3,5 3,6 Inflation -, 1, 2,2 Arbeitslosigkeit 1,8 1, 9,5 Haushalt -3, -2,8-2,6 Leistungsbilanz -1, -1,6-2,1 /5 MAKROAUSBLICK OSTEUROPA. Juni 215
IMPRESSUM Autor Wolf-Fabian Hungerland Economist +9 () 35 6-8165 wolf-fabian.hungerland@berenberg.com Wichtige Hinweise: Dieses Dokument stellt keine Finanzanalyse im Sinne des 3b WpHG, keine Anlageberatung, Anlageempfehlung oder Aufforderung zum Kauf von Finanzinstrumenten dar. Es ersetzt keine rechtliche, steuerliche und finanzielle Beratung. Die in diesem Dokument enthaltenen Aussagen basieren auf allgemein zugänglichen Quellen und berücksichtigen den Stand bis zum Tag vor der Veröffentlichung. Nachträglich eintretende Änderungen können nicht berücksichtigt werden. 5/5 MAKROAUSBLICK OSTEUROPA. Juni 215 Joh. Berenberg, Gossler & Co. KG Neuer Jungfernstieg 2 235 Hamburg Telefon +9 35 6- www.berenberg.de info@berenberg.de