Die Zehn Worte vom Sinai Die Rezeption des Dekalogs in der rabbinischen Literatur Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern vorgelegt von Ursula Peter-Spörndli von Löhningen/SH am 15. April 2010 Erstgutachterin: Zweitgutachterin: Prof. Dr. Verena Lenzen Prof. Dr. Gabrielle Oberhänsli-Widmer Vorsitzende der Disputation: Prof. Dr. Christiane Schildknecht Datum der Disputation: 21. Oktober 2010 Genehmigungsvermerk: Frau Ursula Peter-Spörndli hat aufgrund vorliegender Dissertation im Promotionsfach Judaistik und einer erfolgreichen Disputation die Promotion an der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern am 21. Oktober 2010 bestanden
Inhaltsverzeichnis EINLEITUNG... 3 FORMALIA... 14 TEIL 1: GRUNDLAGEN UND FRÜHE REZEPTIONEN... 15 1 DAS ZEHNWORT IN BIBEL UND BIBELWISSENSCHAFT... 15 1.1 Der biblische Text... 15 1.2 Die bibelwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Dekalog... 19 1.2.1 Forschungsfragen, Schwerpunkte und Methoden... 19 1.2.2 Die Einteilung der Gebote... 23 1.2.3 Die Bundestafeln... 26 1.2.4 Der Umgang mit der doppelten Überlieferung... 30 1.2.5 Besonderheit und Rang des Dekalogs... 33 1.2.6 Der Geltungsbereich des Zehnworts... 37 1.3 Rezeptionen des Dekalogs im Alten Testament... 39 2 DAS ZEHNWORT IN NICHTRABBINISCHEN QUELLEN DES FRÜHJUDENTUMS 41 2.1 Bei den Samaritanern... 42 2.2 Im hellenistischen Judentum... 48 2.3 Im frühen Christentum... 57 TEIL 2: DAS ZEHNWORT IN DEN RABBINISCHEN QUELLEN... 65 1 EINLEITUNG ZUM ZWEITEN TEIL... 65 1.1 Die rabbinische Bezeichnung der Zehn Worte... 65 1.2 Bemerkungen zur rabbinischen Hermeneutik... 65 1.3 Methodisches Vorgehen... 66 2 DAS ZEHNWORT IN DER RABBINISCHEN LITURGIE... 70 2.1 Die Zehn Worte im Priester- und Laiengebet... 70 2.2 Der Ausschluss des Zehnworts aus dem Gebet... 74 2.2.1 Mögliche Gründe... 74 2.2.2 Die rabbinische Begründung... 76 3 DAS ZEHNWORT IM KONTEXT DER SINAIOFFENBARUNG... 90 3.1 Der Zeitpunkt... 90 3.2 Das Feuer... 91 3.3 Das Reden Gottes... 93 3.3.1 Gottes Stimme... 93 3.3.2 Die persönliche Anrede... 100 3.4 Das Empfangen der Offenbarung... 102 3.4.1 Die Reaktion des Volkes... 102 3.4.2 Zehnwort und Gericht... 103 3.4.3 Der Geltungsbereich des Zehnworts... 106 3.4.4 Exkurs: Die Zehnwortoffenbarung und Act 2... 111 3.5 Die Zehnwortoffenbarung als Analogie zum Schöpfungsakt... 112
3.6 Die Bundestafeln... 115 3.6.1 Material und Grösse der Tafeln... 116 3.6.2 Die Schrift und die Aufteilung der Gebote auf die Tafeln... 118 3.6.3 Das Zerbrechen der Tafeln... 121 3.6.4 Der Umgang mit der doppelten Überlieferung... 127 3.6.5 Der Umfang des Textes auf den Tafeln... 130 3.7 Die Beziehungen der Gebote untereinander... 134 4 DAS ZEHNWORT IN SYMBOLIK UND GIMATRIA... 137 TEIL 3: RÜCKBLICK UND AUSBLICK... 139 1 ZUSAMMENFASSUNG... 139 2 AUSBLICK... 146 QUELLENREGISTER... 150 BIBLIOGRAPHIE... 153
Zusammenfassung Die vorliegende Arbeit untersucht die Wirkungsgeschichte des biblischen Dekalogs (Exodus 20, 2-17; Deuteronomium 5,6-21) in der spätantiken rabbinischen Literatur, d.h. im Zeitrahmen des 1. bis ca. 6. nachchristlichen Jahrhunderts. Die zentrale Fragestellung richtet sich einerseits auf die Art und Weise der rabbinischen Thematisierung der Zehn Gebote und andererseits auf deren Bedeutung und Stellung innerhalb des Gesetzes. Dabei steht das Zehnwort als Ganzes im Fokus und nicht die einzelnen Gebote. Im ersten Teil der Arbeit zeigt ein Abriss über die bibelwissenschaftliche Forschung zum Dekalogtext deren Ansatzpunkte und Fragen an den Text. Anschliessend werden nichtrabbinische Quellen des Frühjudentums wie die Samaritaner, das hellenistische Judentum und das frühe Christentum auf ihren Bezug zum Zehnwort hin befragt. Die unterschiedlichen und oft kaum vergleichbaren Auseinandersetzungen mit dem Dekalogtext sollen den Blick für die Besonderheiten der rabbinischen Interpretation schärfen. Im Zentrum der Arbeit steht der zweite Teil über die rabbinische Auseinandersetzung mit dem Zehnwort. Über hundert rabbinische Texte aus verschiedenen Jahrhunderten, die entweder das Stichwort "zehn Worte" הדברות) (עשרת enthalten oder einen Kommentar zu den entsprechenden Texten in Ex 20 und Dtn 5 darstellen, werden befragt, analysiert und in Beziehung zueinander gestellt. Als dominierende Themen kristallisieren sich dabei das Zehnwort in der jüdischen Liturgie sowie im Kontext der Sinaioffenbarung heraus. Der Inhalt der Gebote tritt in den rabbinischen Diskussionen in den Hintergrund. Die Resultate der Untersuchung sind überraschend und einsichtig zugleich. Die Sonderstellung, die der Dekalog auch im rabbinischen Judentum einnimmt, beruht offensichtlich auf anderen Grundlagen als das christlich-traditionelle Verständnis vom Zehnwort. Ein Ausblick ins 20./21. Jahrhundert befragt schliesslich die Auswirkungen der rabbinischen Dekalogrezeption auf die moderne jüdische Wahrnehmung der Zehn Worte in exemplarischer Weise.
Abstract This thesis examines the Wirkungsgeschichte (the history of the reception and influence) of the biblical Decalogue (Exodus 20:2-17; Deuteronomy 5:6-21) in rabbinic literature of late antiquity, i.e. between the 1st and 6th centuries AD. The central question concerns the way in which the Ten Commandments are handled in rabbinic literature, and their significance and status within the Law. The focus is entirely on the Decalogue as a whole, and not the individual Commandments. In the first section of the thesis, a survey of academic biblical research highlights the approaches taken to the Decalogue and the questions asked. Subsequently, nonrabbinic sources from early Judaism, such as the Samaritans, Hellenistic Judaism and early Christianity, are consulted in terms of their relation to the Ten Commandments. The distinct and often widely differing interpretations of the text will help to clarify the specific characteristics of rabbinic reception. The focal point of the thesis is the second part, which discusses the rabbinic interpretation of the Ten Commandments. Over a hundred rabbinic texts from various centuries, either containing the keyword "Ten Words" הדברות) (עשרת or including commentary on the corresponding texts in Ex 20 and Dt 5, are consulted, analysed and placed in relation to each other. The dominating themes that emerge are the Ten Commandments in Jewish liturgy, as well as in the context of the Revelation at Sinai. In rabbinic discussions, the content of the Commandments retreats into the background. The results of the examination are surprising but insightful. The special status held by the Decalogue also in rabbinic Judaism is evidently based on different principles than the traditional Christian understanding of the Ten Commandments. Finally, a look ahead to the 20th/21st centuries examines various examples of the impact of rabbinic reception of the Decalogue on modern Jewish perception of the Ten Words.