Die Bedeutung der Erstsprache für den Zweitspracherwerb im Kontext migrationsbedingter Diversität



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Transkript:

Havva Engin Pädagogische Hochschule Heidelberg Die Bedeutung der Erstsprache für den Zweitspracherwerb im Kontext migrationsbedingter Diversität Sprachpraxis von Migrantenkindern Obzwar in öffentlich-medialen Diskursen häufig die mangelhafte Deutschkompetenz von Kindern mit Migrationshintergrund bemängelt und diese im ausschließlichen Gebrauch der Erst-/Herkunftssprachen gesehen wird, existieren in Deutschland nur wenige empirische Studien zur Sprachpraxis von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Eine der bekanntesten ist die Untersuchung des Deutschen Jugendinstituts Wie Kinder multikulturellen Alltag erleben" (vgl. DJI 2000), in der auch Kinder im Kindergartenalter befragt wurden. Die Ergebnisse der Studie belegen die vielfältige Praxis der Kinder hinsichtlich ihres Sprachgebrauchs. Beispielsweise gaben 38% der Befragten an, mit ihren Eltern ausschließlich in der Erstsprache zu kommunizieren, weitere 50% sagten, dass sie die Sprachen wechseln. Eine andere Untersuchung zur Sprachpraxis von Migrantenkindern ist die Essener SPREEG- Studie (vgl. SPREEG 2005), in der u.a. auch nach den Kommunikationssprachen mit den Geschwistern gefragt wurde. So antworteten 25% der befragten Kinder, dass sie sich mit diesen ausschließlich in der Erstsprache unterhalten; ein weiteres Drittel (26%) verwendet dagegen nur Deutsch und 11% wechseln die Gesprächssprache je nach Thema. Insgesamt lässt sich aus den beiden Untersuchungen zusammenfassen, dass die meisten Migrantenkinder ihren (familiären wie schulischen) Alltag in mindestens zwei Sprachen gestalten und bewusst nach Adressat und Situation auf verschiedene Sprachen aktiv zugreifen. Ausgewählte Ergebnisse der neuro-biologischen Forschung zum Spracherwerb in mehrsprachigen Kontexten In den vergangenen Jahren hat sich auch die Neurobiologie verstärkt dem Sprachenlernen von Kindern in mehrsprachigen Kontexten zugewandt und konnte mit interessanten Befunden aufwarten. Sie zeigen, dass bisherige Annahmen, wonach beispielsweise der gleichzeitige Erwerb von zwei Sprachen Kinder überfordert, korrigiert werden müssen. Zu den bekanntesten Studien zur neuronalen Sprachverarbeitung bzw. prozessierung zählt die von Franceschini (vgl. 2006), die den Spracherwerb von frühen Mehrsprachigen, d.h. denjenigen, die eine zweite Sprache bereits vor dem dritten Lebensjahr gelernt haben und den späten Mehrsprachigen, d.h. denjenigen, die bis zum neunten Lebensjahr einsprachig waren und erst danach zwei Sprachen lernten, analysierte. Die Studie zeigte, dass das Gehirn von frühen Mehrsprachigen (<3) alle Sprachen in einem Zentrum verarbeitet und speichert, d.h. sie wie eine Sprache behandelt; bei der späten Mehrsprachigkeit (>9) werden verschiedene Zentren zur Sprachverarbeitung angeregt. Nach den Ergebnissen dieser Untersuchung stellt Mehrsprachigkeit für das menschliche Gehirn und für das kindliche Lernen keine Überforderung dar. Insofern kann nicht davon gesprochen werden, dass die Erst/Muttersprache das Erlernen einer Zweit-/Drittsprache

behindert, im Gegenteil: je früher mit dem Lernen einer Zweitsprache begonnen wird, desto effektiver werden weitere Sprachen gelernt. So schlussfolgert Franceschini, dass das Gehirn Platz für viele Sprachen gleichzeitig hat (vgl. Franceschini 2003): Und es zeigt sich, dass Jugendliche und Erwachsene, die mehrere Sprachen früh gelernt haben, diese Strategie des impliziten Lernens Auch bei später zu lernenden Sprachen anwenden können. Früh Mehrsprachige Personen können sozusagen das kognitive Fenster lebenslang einen Spalt offen halten. Das hat zur Folge, dass sie weitere Sprachen tendenziell leichter und schneller erwerben. Für sie zeigen die (aktuellen) Diskussionen über die Bedeutung von migrantischen Herkunftssprachen für den Bildungserfolg im Allgemeinen und für das Sprachenlernen im Besonderen deutlich auf, dass es in Europa und in Deutschland von zwei Arten von Zwei- /Mehrsprachigkeit zu sprechen sei, der erwünschten und der unerwünschten (vgl. Franceschini 2009:65f.): Machen wir uns nichts vor: Oftmals scheint die verborgene Agenda doch noch die zu sein, vor allem die Kinder je früher desto besser zuerst zur ortsüblichen richtigen Einsprachigkeit zu bringen, damit sie dann passförmig zu den anderen im Klassenverband mitgeführt werden können, um dann anerkannt mehrsprachig zu werden, zusammen mit den anderen über den Weg des traditionellen Fremdsprachenunterrichts. Dieser Weg der frühen Homogenisierung gilt als eine Lösung des oben genannten Zielkonfliktes. Ausgewählte Ergebnisse aus der linguistisch-spracherwerbstheoretischen Forschung In der Zwischenzeit liegen auch aus Deutschland erste empirisch belastbare Ergebnisse der Spracherwerbsforschung mit migrationsbedingt mehrsprachigen Kindern vor, die wichtige Schlussfolgerungen für die pädagogische Praxis erlauben. So zeigten Längsschnittstudien in Kindergärten, dass bei bilingualen Kindern der Deutscherwerb analog den Stufen einsprachig deutscher Kindern verläuft (vgl. Apeltauer 2004; 2007). Im Hinblick auf die Erstsprachkompetenz konnten die Studien belegen, dass Kinder mit hohem Erstsprachniveau eine größere Lexik in der Zweitsprache Deutsch entwickeln als Kinder mit niedrigem Niveau in der Erstsprache und sprachliche Meilensteine schneller erreichen (vgl. Apeltauer 2003; 2007). Aktuellere Untersuchungen aus der Schweiz mit Grundschülern, die zusätzlich zur Stundentafel den muttersprachlichen Unterricht besuchen, belegen, dass die Schülerinnen und Schülern die deutsche Sprache gemäß der Transferhypothese erlernen, d.h. ihr Vorwissen aus der Erstsprache auf die Zweitsprache übertragen. Dafür wurde in der Forschung der Begriff struktureller Steigbügel (Tracy 1996; zit. in: Bremerich Vos /Jeuk 2003) geprägt. Als ein zentrales Ergebnis der Schader-Studie lässt sich daher festhalten (Häusermann 2011:7): Größere sprachliche Kompetenzen in der Erstsprache zu Förderbeginn in der Schule führen zu größeren in der Zweitsprache Deutsch, was der Interdependenz- und Transferhypothese entspricht. Daraus lässt sich ableiten, dass die Deutschkenntnisse im Schulalter wahrscheinlich noch grösser wären, wenn die Kinder mit möglichst guten Erstsprachkenntnissen in die Schule einträten.

Andere Studien, die mit Kindern, die von Anbeginn zweisprachig, d.h. doppelt erstsprachig, aufwuchsen, durchgeführt wurden, zeigten, dass die Doppelsprachigkeit für die Kinder keine Überforderung darstellt (vgl. Tracy 2008). Die Forscher kommen zu dem Schluss, dass je früher die sprachliche Förderung beginnt, desto schneller die Grundregeln angeeignet werden (vgl. Thoma/Tracy 2006; 2007); so benötigten die Kinder zwischen sechs Monaten und einem Jahr, die grammatikalisch syntaktische Grundregeln der deutschen Sprache zu erlernen (vgl. Tracy 2008). Ergebnisse von Sprachstandsdiagnosen Die meisten Sprachstests", die nach der PISA-Studie 2001 sukzessive in allen Bundesländern verbindlich eingeführt wurden, erheben bei mehrsprachigen Kindern leider nicht das Niveau in den anderen von den Kindern gesprochenen Sprachen, so dass sie keine allgemeingültigen Aussagen über den Gesamtsprachstand eines Kindes zu geben vermögen. Verfahren, welche die potenzielle Mehrsprachigkeit entsprechend berücksichtigen, bringen interessante Ergebnisse zutage bzw. stützen die Annahme, dass ein altersangemessener Sprachstand in der Zweitsprache Deutsch häufig mit einem entsprechend altersangemessenen Sprachstand in der Erstsprache korreliert. So schnitten beim Cito Test, der 2003 in Duisburg mit Kindern mit türkischem Migrationshintergrund in Deutsch und Türkisch durchgeführt wurde, die zweisprachigen Kinder in beiden Sprachen besser ab als die einsprachig türkischen Kinder. Die wissenschaftliche Begleitung dieser Studie begründete dies mit einem höheren metasprachlichen Bewusstsein der zweisprachigen Kinder sowie ihrer balancierten Zweisprachigkeit (Cito Türkisch-Deutsch, 2003). Weitere Studien, die in den Folgejahren mit anderen Verfahren die Sprachkenntnisse von türkischstämmigen Kindern erhoben, belegten ebenfalls die hohe Korrelation bezüglich des Sprachstandes in beiden Sprachen. Eine schweizer Studie, bei der Kinder mit Migrationshintergrund vor der Einschulung über mehrere Monate Sprachförderung sowohl in ihrer Erstsprache als auch im Deutschen erhielten, konnte zeigen (vgl. Moser 2008:41): Kinder, die zusätzlich in ihrer Erstsprache gefördert werden, verfügen beim Schuleintritt über statistisch signifikant bessere Sprachkompetenzen in den Bereichen phonologische Bewusstheit, Wortschatz sowie Buchstabenkenntnisse und erstes Lesen. Die Förderung in der Erstsprache führt auch zu einem höheren Fähigkeitsselbstkonzept. Die Kinder trauen sich in der Erstsprache mehr zu als Kinder, die in der Schule ausschließlich in der Unterrichtssprache gefördert werden. Bestätigung findet die Hypothese von der engen Korrelation zwischen Erst- und Zweitsprachkenntnissen auch durch eine Untersuchung aus Baden-Württemberg, bei der das Erstsprachniveau von Hauptschülerinnen und Hauptschülern mit dem von Gymnasiastinnen und Gymnasiasten mit gleichem kulturellen Hintergrund erhoben wurde. Es zeigte sich, dass Gymnasiastinnen und Gymnasiasten den Hauptschülerinnen und Hauptschülern nicht nur im Deutschen überlegen waren, sondern auch die Erstsprache auf einem signifikant höheren Niveau sprachen. Die Autorin der Untersuchung formuliert daher als Ergebnis Tunc (2012:153ff): Die dieser Arbeit u.a. zugrunde liegende Fragestellung nach dem Einfluss schlechter bzw. guter erstsprachlicher Kompetenzen auf den Zweitspracherwerb und folglich auf schulischen Erfolg würde an dieser Stelle die Vermutung nahelegen, dass die Gymnasiasten aufgrund ihrer besseren erstsprachlichen Fähigkeiten auch in der Zweitsprache Deutsch die besseren Ergebnisse erzielen.

Dass die Erstsprachen bei der Sozialisation und Identitätsbildung von Migrantenkindern eine zentrale Rolle spielen, lässt sich eindrucksvoll auch aus der Analyse von Sprachenportfolios von mehrsprachigen Migrantekindern erkennen (vgl. Krumm 2008). So ist zu sehen, dass die Kinder in ihren Sprachporträts meistens eine Körperhälfte für die Elternsprache reservieren, während alle anderen Sprachen - unabhängig von ihrem Status in der Biographie - sich die andere Hälfte teilen. Der Großteil der befragten Kinder und Jugendlichen konstruiert die eigene Identität mehrsprachig (Krumm 2008).Dabei zeigt sich, dass die identitätsstiftende Funktion der Erstsprache auch erhalten bleibt, wenn die Zweitsprache dominiert und besser beherrscht wird. Konsequenzen für die schulische Praxis und Unterrichtsorganisation - Empfehlungen Welche Schlussfolgerungen sind aus den Ergebnissen der zitierten Studien für die schulische Unterrichtspraxis zu ziehen? Zweifelsfrei die, im Unterricht stärker als bisher die Erstsprache(n) der Kinder und Jugendlichen in den Blick zu nehmen und in die Lernprozesse einzubinden. Erfahrungen aus der pädagogischen Praxis zeigen, dass beispielsweise phonologische Trainings nicht allein auf die Zweitsprache Deutsch zu beschränken sind, sondern auch die Erstsprache(n) einbezogen werden sollten. Damit der Übergang vom Kindergarten in die Grundschule ohne Brüche erfolgen kann, ist es wichtig, dass im Kindergarten begonnene phonologische Training in den Erstsprachen und in der Zweitsprache Deutsch fortzuführen und so positive Effekte auf den Schriftspracherwerb von Anbeginn sicherzustellen. Es ist besonders wichtig, in dieser Altersgruppe zunächst die Ausbildung von basalen kommunikaten Kompetenzen in der Erst- und Zweitsprache zu fördern, statt die Kinder sehr früh mit der Vermittlung eines Fachwortschatzes ausschließlich auf Deutsch zu überfordern. Darüber hinaus ist für diese Phase die Förderung der Literalitätskompetenz im Kontext von Familiy Literacy von zentraler Bedeutung, damit die Vermittlung von sprachlichen Strukturen und die Ausbildung von Erzählmustern von Beginn an gelingt. Bewährt haben sich auch Modelle einer koordiniert bilingualen Erziehung: Es ist idealerweise anzustreben, die Kinder in der Erstsprache und in Deutsch so zu unterrichten, dass beide Sprachen altersgerecht weiterentwickelt und mündlich wie schriftlich sicher erworben werden können. Dazu ist eine intensive Kooperation und Zusammenarbeit zwischen den Erstsprachen-Lehrkräften und den Deutschlehrkräften Grundbedingung. Insbesondere die schulische Praxis bietet die Möglichkeit, den Fachunterricht interkulturell und mehrsprachig zu gestalten. Das Ziel des sprachreflexiven Arbeitens im schulischen (Sprach)Unterricht sollte darin bestehen, auf die zunehmende kulturelle und sprachliche Pluralisierung der Gesellschaft mit entsprechenden pädagogischen und didaktischen Konzepten zu antworten, die erlauben, die lebensweltliche Mehrsprachigkeit einer wachsenden Zahl von Schülern in schulischen Bildungskontexten zu thematisieren. Notwendig erscheint die Konzeptionalisierung und Realisierung eines durchgehenden Sprachförderkonzepts, bei dem der Sprachaspekt als Querschnittsaufgabe aller Unterrichtsfächer zu verstehen ist.

In einem derartigen Vorgehen steckt die Chance, neben der Betonung des Deutschen als verbindliche Amtssprache und damit der Notwendigkeit, sie auf hohem Niveau beherrschen zu müssen, auch die Herkunftssprachen in den Blick zu nehmen und positiv zu besetzen, da gerade sie in der Migrationssituation für die Identitätsentwicklung und Lebensentwürfe der Jugendlichen eine zentrale Rolle spielen. Zusammenfassung und Ausblick Gesellschaftliche Entwicklungen der letzten Jahre gestützt durch Forschungsbefunde zeigen, dass die migrantischen (Herkunfts-)Sprachen in Europa eine weite Verbreitung erfahren haben und für die Sprecher/-innen eine hohe identifikatorische Bedeutung besitzen. Insofern kann nicht von einer Entwicklung in Richtung Sprachverlust oder dem Wechsel zum Deutschen gesprochen werden (vgl. Sirim 2009:76): Die Tendenz geht eher in die umgekehrte Richtung: die Migrantensprachen bleiben präsent in Europa und gewinnen an Vitalität." Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass (Migranten-)Sprachen und Kulturen ein großes Bildungspotenzial und reservoir für die Gesamtgesellschaft darstellen, sollte es im Interesse von allen Beteiligten sein, diesen Umstand stärker als bisher wahrzunehmen, wertzuschätzen und in institutionelle Bildungsprozesse einfließen zu lassen. Literatur: Apeltauer, Ernst (2003): Literalität und Spracherwerb. Flensburger Papiere zur Mehrsprachigkeit und Kulturenvielfalt im Unterricht, Nr. 32. Apeltauer, Ernst (2004): Sprachliche Frühförderung von zweisprachig aufwachsenden türkischen Kindern im Vorschulbereich Zwischenbericht über die Kieler Modellgruppe. (Flensburger Papiere Sonderheft 1). Apeltauer, Ernst (2006): Bedeutungsentwicklung bei zweisprachig aufwachsenden türkischen Vorschulkindern. In: Ahrenholz, Bernt; Apeltauer, Ernst (Hrsg.): Zweitspracherwerb und curriculare Dimensionen. Empirische Untersuchungen zum Deutschlernen in Kindergarten und Grundschule. Tübingen: Stauffenburg Verlag, S. 31-54. Apeltauer, Ernst (2007): Förderprogramme, Modellvorstellungen und empirische befunde. Zur Wortschatz- und Bedeutungsentwicklung bei türkischen Vorschulkindern. In: Ahrenholz, Bernt (Hrsg.): Kinder mit Migrationshintergrund. Spracherwerb und Fördermöglichkeiten. Freiburg i.br.: Fillibach Verlag, S. 11-33. Baur/Chlosta/Ostermann/Schroeder (2005): Was sprecht Ihr vornehmlich zu Hause? Zur Erhebung sprachbezogener Daten. In: URL: http//www.unidue.de/unikate/ressourcen/grafiken/pdf's/eu_24/24_baur.pdf Caparez-Krompàk, Edina: Was bringt der HSK-Unterricht für die Sprachentwicklung? In: vpod bildungspolitik. Zeitschrift für Bildung, Erziehung und Wissenschaft. Heft 174/2011. S. 9-12. Deutsches Jugendinstitut (2000): Wie Kinder multikulturellen Alltag erleben. Projektbericht. München: DJI. Engin, Havva; Müller-Boehm, Eva; Steinmüller, Ulrich; T.-Mermeroglu, Friederike: Kinder lernen Deutsch als zweite Sprache. Berlin 2004. Engin, Havva; Reddig-Korn, Birgitta; Weiß, Beate (2010): Merhaba, sevgili Fare Hallo, liebe Maus! Hückelhoven: Anadolu Verlag. Franceschini, Rita: Viele Wege führen zum Ziel : Erfahrungen und Anregungen aus der Beobachtung des Frühfranzösischunterrichts im Saarland. In: Ministerium für Bildung, Kultur und Wissenschaft: Frühes Lernen - Bildung im Kindergarten. Eine Veranstaltung für pädagogisches Fachpersonal, Dokumentation: Hammes di Bernardo, E., SDV- Saarbrücker Druckerei und Verlag, Saarbrücken 2003, 1-16, 63-65. URL: http://cms.awo-sh.de/cms/fileadmin/awosh/dokumente/pdf/vortrag1.pdf

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