DER ANALOGIESCHLUSS ALS METHODE IN DER ISLAMISCHEN RECHTSFINDUNG

Ähnliche Dokumente
KURZE EINFÜHRUNG IN DIE METHODOLOGIE DER ISLAMISCHEN RECHTSFINDUNG

DIE MURǦIʾA EINE PARTEILOSE GRUPPIERUNG AUS DER FRÜHISLAMISCHEN ZEIT

RELIGIONSPÄDAGOGE: "MUSLIME MÜSSEN SICH POSITIONIEREN"

"DAZU GEHÖRT, FRAUEN HAND ZU GEBEN"

"RELIGIONEN SPRECHEN NICHT"

SCHARIA ZWISCHEN WELTORDNUNG UND NORMENLEHRE

SCHARIA ZWISCHEN WELTORDNUNG UND NORMENLEHRE

"RELIGION IST NICHT DURCH ETHIKUNTERRICHT ERSETZBAR"

SIND FATWAS TODESURTEILE? WENN NEIN, WAS DANN?

AŠ-ŠĀṬIBĪ (GEST. 1388): EIN AUFKLÄRER IM MITTELALTER?

SPEISEVORSCHRIFTEN IM ISLAM

DER ISLAM: EINE MÖGLICHKEIT, MENSCH ZU SEIN

DIE GEBURT DER ISLAMISCHEN THEOLOGIE

DER KORAN - DAS EWIGE BUCH GOTTES IM KULTURHISTORISCHEN KONTEXT

c) Gewohnheitsrecht (urf) und Brauch (ada) d) Gutachten (fatwa) Zusammenfassung III. Die Wirtschaftsordnung des Islam

Analyse der Rechtsnatur von sukuk

Demokratische Elemente und Gewaltenteilung im islamischen Staatsorganisationsrecht

DIE JUNGFRAU MARIA, DIE MUTTER JESU, AUS MUSLIMISCHER PERSPEKTIVE

MUḤAMMAD ABED AL-ǦĀBIRĪ UND DIE KRITIK DER ARABISCHEN VERNUNFT

ISLAM UND DEMOKRATIE: EIN EWIGES PROBLEM?

SALAFISMUS - ZWISCHEN REALISIERBARKEIT UND ILLUSION

JESUS CHRISTUS, SOHN DER MARIA, IM ISLAM

ENTSTEHUNG DER HADITHWISSENSCHAFTEN

DER PROPHET MUHAMMAD ALS MENSCH

IBN ḪALDŪN - HISTORIKER, SOZIOLOGE, PHILOSOPH

BARMHERZIGKEIT UND LIEBE IM ISLAM UND IN DER ISLAMISCHEN MYSTIK

TAKFI R: URSPRUNG UND ENTSTEHUNG

ERZIEHERISCHE ASPEKTE DES FASTENS

Definitionssuche Islam Zusatzmethode zu Vielfalt und Einheit des Islam

TAQĪYA - FREIFAHRTSCHEIN FÜR INTERRELIGIÖSE VERSCHLEIERUNGSTAKTIK?

KRITIK AN DER KLASSISCHEN HADITHFORSCHUNG

SUFISMUS: DAS ANDERE GESICHT DES ISLAM

Das Menschenbild im Koran

Afghanistan zwischen Islam und Gleichberechtigung

DIE INTERRELIGIÖSE EHE AUS ISLAMISCHER SICHT

Die Entstehung der juristischen Hermeneutik (usül al-fiqh) im frühen Islam

Neue Rechtsprechung zur Health Claims Verordnung. die zu ihr ergangene Rechtsprechung die Bewerbung von Lebensmitteln, Nahrungsergänzungsmitteln

KORANISCHE ZUGÄNGE ZUM MENSCHSEIN

TIERE AUS ISLAMISCHER SICHT

IBN RUŠD VERNUNFT UND GLÜCKSELIGKEIT

2. Die gemäßigte Position Y suf al-qara w s: Religionsfreiheit ist innere Gewissensfreiheit Y suf al-qara w : Leben und Werk Eckpunkte

DIE POSTMORTALE ORGANTRANSPLANTATION - EINE BIOETHISCHE DEBATTE DER ISLAMISCHEN JURISPRUDENZ

BEITRÄGE DER MUSLIME IN DER WISSENSCHAFT (TEIL II)

Inhaltsverzeichnis III

APOSTASIE IM ISLAM. Autor/in: Redaktionsteam Datum: Link:

APOSTASIE IM ISLAM. Autor/in: Redaktionsteam Datum: Link:

Die Scharia zwischen Tradition und Moderne. Von Hakan Turan

Mathias Rohe Das islamische Recht Eine Einführung. Unverkäufliche Leseprobe. 128 Seiten, Paperback ISBN:

Semesterstunden. ECTS- Anrechnungspunkte. 1. Pflichtmodul: Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten und die Islamische Theologie

Islam und Islamismus Merkmale und Entwicklungen. Bernd Ridwan Bauknecht

Fächerübersicht. empfohlen ab Semester vorausgesetzter Kurs

John Gribbin. Am Anfang war... Neues vom Urknall und der Evolution des Kosmos. Aus dem Englischen von Hilmar W. Duerbeck.

ISLAMISCHE SEELSORGE

ISLAMISCHE SEELSORGE

FEMINISTISCHE ANSÄTZE BEI MUSLIMINNEN - EINE EINFÜHRUNG

TOD UND STERBEN IM ISLAM

TOD UND STERBEN IM ISLAM

DER FLUSS DER WAHRHEIT

AL-MUḤĀSIBĪ, DER GEWISSENSERFORSCHER AUF DER SUCHE NACH DER GOTTESLIEBE

Der Islam und wir. Vom Dialog zur Politik. SUB Hamburg

Rhetorik und Sprachpraxis

Clip 8 Die Moschee Mehr als ein Gebetsort

Aufbau der Klausur Controlling 2

DIE MOSCHEE IN ÖSTERREICH. VOM KELLERRAUM ZUM SICHTBAREN ZEICHEN EINES INTEGRIERTEN ISLAM?

Beurteilungsbogen für schriftliche Hausarbeiten. Form:

Die Medizin des Propheten und ihre Bedeutung in der Gegenwart.Traditionelle islamische Heilvorstellungen in modernen Fatwas

Islam im europäischen Kontext

ÜBER DAS RECHT ZUR POSITIVEN UND NEGATIVEN RELIGIONSFREIHEIT IM ISLAM

Auf der Suche nach dem Praktischen im Urteilen.

Ein gemeinsames Ethos angesichts

digital-salam.de Unterrichtsmaterialien zu Online-Videos und Islam Modul 4: Scharia Gefördert durch:

Die metaphysische Basis der Religionsfreiheit und. die Grundprinzipien des freien menschlichen Willens. im Koran

Juristische Volltext- E-Klausuren

Halal - Was ist das? Zugang zu neuen Märkten - Chancen von halal und koscheren Lebensmitteln

ʿĀʾIŠA BINT ABĪ BAKR, MUTTER DER GLÄUBIGEN

RELIGIÖSE FESTTAGE IM MUSLIMISCHEN JAHRESKREISLAUF

Einführung in die Logik

Formale Logik. 1. Sitzung. Allgemeines vorab. Allgemeines vorab. Terminplan

Sunniten und Schiiten

von Scheikh Muªammad Sa îd Rama ân al-bû î (Nr. 726 der unveröffentlichten Lectures über Imâm an-nawawîs Riyâ a - âliªîn, gehalten in Damaskus 1999)

Merkblatt. Jugendschutz im Online- und Versandhandel

Das Frauenbild im Islam.Analyse und Vergleich von Koran und Bibel

Inhaltsverzeichnis. Einleitung Kapitel

Wissenschaftliches Arbeiten und Methodenlehre 1 Teil A: Wissenschaftstheoretische Grundlagen

Von Michael Hollenbach. Das islamische Alkoholverbot gründet im Koran. Allerdings

Der Islam. I Mohammed und die Frühzeit - Islamisches Recht Religiöses Leben. von W. MONTGOMERY WATT ALFORD T. WELCH

2. KAPITEL DIE HEILIGEN ISLAMISCHEN TEXTE

Geisteswissenschaft. Carolin Wiechert. Was ist Sprache? Über Walter Benjamins Text Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen.

Islamische Rechtsschulen und Erkenntnislehre (Methodologie)

Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen. Informationsblatt zu I`tikaf- innere Zurückgezogenheit in der Moschee

3. Sitzung. Wie schreibe ich eine Hausarbeit?

Bibel und Koran Was sie verbindet und unterscheidet

Transkript:

DER ANALOGIESCHLUSS ALS METHODE IN DER ISLAMISCHEN RECHTSFINDUNG Autor/in: Redaktionsteam Datum: 06.05.2019 Link: https://www.islamportal.at/themen/artikel/der-analogieschluss-als-methode-in-derislamischen-rechtsfindung Rechtlicher Hinweis für die Wiederverwendung dieses Dokuments: Texte, Bilder, Grafiken und Tabellen in diesem Dokument unterliegen dem Urheberrecht, insbesondere den Nutzungs- und Verwertungsrechten sowie Gesetzen zum Schutz geistigen Eigentums. Die nicht kommerzielle Nutzung und nicht kommerzielle Weitergabe in elektronischer oder ausgedruckter Form sind erlaubt, wenn der Inhalt unter Quellen- und Autorenangabe unverändert bleibt. Eine Veränderung des Inhaltes sowie die kommerzielle Nutzung bedarf ausschließlich der schriftlichen Genehmigung von Univ.-Prof. Mag. Dr. Zekirija Sejdini.

Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit der vierten legitimen Methode der islamischen Rechtsfindung, dem Analogieschluss (Arab.: qiyās). Sie gilt nach Koran, Sunna und ijmaʼ (Konsens) als die vierte anerkannte Rechtsquelle. Der Analogieschluss wird zunächst nur für singuläre Rechtsfindungsfragen genutzt und gilt nicht als verallgemeinerbare Basis weiterer rechtlicher Argumentation, da es dazu keine direkte Textbasis in Koran oder Sunna gibt. Im islamischen Recht ermöglicht er jedoch eine möglichst große Flexibilität des Rechts. "1. Alles, was darüber hinausging bzw. nicht in diese drei Bereiche einzuordnen war, musste man qua eigener Anstrengung (Arab.: i?tih?d) der Vernunft weiter argumentieren. Jedoch war auch das auf den Verstand gegründete eigene Urteil mit der Zeit der Beurteilung auf seine methodische Korrektheit unterlegen. Diese methodische Wendung, die das eigene Urteil methodisch und somit intersubjektiv nachvollziehbar macht (und 2 deshalb vom ra'y unterscheidbar macht), wurde mit qiy?s (d. h. Arab.: Analogieschluss) beschrieben und soll im Folgenden näher ausgeführt werden. Dazu wird zunächst eine kurze Einordnung vorgenommen, wie es zu seiner Bedeutung im Kontext der islamischen Rechtsfindung kam, um daran anschließend seine konkrete Funktionsweise zu skizzieren. Für die Einbeziehung des qiy?s in die vier akzeptierten Methoden der Rechtsfindung ist der Stifter der schafi'itischen Rechtsschule Mu?ammad ibn Idr?s a?-??fi?? (gest. 820) besonders wichtig: Er argumentiert für eine präzise Definition der Reihenfolge und Priorität der verschiedenen u??l (Quellen) des islamischen fiqh sowie für die Festlegung der Modalitäten ihrer Nutzung. Seine Definition der sunna sowie die Festlegung des qiy?s 3 als vierte Quelle der islamischen Norm- und Rechtsprechung wirkten richtungsweisend. Als qiy?s wird im fiqh zunächst die "Übertragung einer bekannten islamischen Norm (?ukm) zu einem bekannten Sachverhalt auf einen neuen Sachverhalt aufgrund eines 4 gemeinsamen Anlasses (?illa)" bezeichnet. Obwohl von Anfang an in der Praxis Analogieschluss und i?tih?d bekannt waren, wurde der qiy?s erst mit a?-??fi?? tatsächlich als eine Form der Argumentation etabliert und sogar mit dem i?tih?d gleichgesetzt. Für ihn muss für den Fall, dass weder in Koran noch Sunna ein entsprechender Hinweis oder eine deutliche Formulierung zu spezifischen Fragen zu finden ist, der a?l (d. h. Arab.: "die Wurzel") durch den persönlichen i?tihad und deshalb mit Hilfe von qiy?s abgeleitet werden. A?-??fi?? geht nämlich von der Vorstellung 5 aus, dass jeder Auftrag von Gott eine?illa hat, d. h. eine Rechtsursache. Deshalb heißt 6 die stärkste Form der Analogie auch qiy?s al-?illa. Der qiy?s kann als eine außertextliche Methode gelten, da zwar die Fundamente, auf denen rechtliche Einschätzungen durch ihn zustande kommen, in Koran oder Sunna zu finden sind, jedoch die Analogie, die dann zu ihnen gebildet wird, keine eigene Textbasis vorweisen kann. Eine Mehrheit von Gelehrten nahm jedoch an, dass es Möglichkeiten geben müsste, auch außerhalb der eng gefassten Textquellen von Koran und Sunna rechtliche Urteile zu fällen: Diese seien dann zwar weiterhin den islamischen Grundlagen verpflichtet, jedoch erschlössen sie zeitgemäße Antworten zu Fragen, welche sich so nicht in der Zeit der Offenbarung oder der Tradition des Propheten gestellt hatten. Durch

den zwingenden Rückbezug auf bereits textlich gestützte Urteile, die eine Analogie begründeten, und die Einbeziehung ihrer Ursachen, Artverwandtheit oder Ähnlichkeit, wollten die Rechtsgelehrten stets den Eindruck vermeiden, man formuliere ohne solide Textbasis. Dies war nämlich gleichzeitig das größte und schwerwiegendste Argument der 7 Analogieschlussgegner, die es unter den Rechtsgelehrten zu Hauf gab. Dennoch setzte sich mit der Zeit die Auffassung in allen vier sunnitischen Rechtsschulen durch, dass der qiy?s eine legitime Methode darstellt. Um zu verdeutlichen, wie die Methode nun tatsächlich funktioniert, möchte ich auf ein sehr bekanntes Beispiel für den qiy?s zurückgreifen: das Verbieten von Drogen. Obwohl es keine explizite Erwähnung eines solchen Verbotes gibt - weder im Koran noch in der Sunna - gelten Drogen als verboten. Warum ist das so? Drogen haben Gemeinsamkeiten mit dem Alkohol: z. B. den Rausch. So stützen sich die Gelehrten für das Verbot des Drogenkonsums auf das Verbot von Wein, dessen Wortlaut dem Koran zu entnehmen ist, um den Drogenkonsum zu verbieten. Auch Rüdiger Lohlker zieht dieses Beispiel heran 8 und macht den Argumentationsverlauf des methodischen Vorganges transparent : Die Frage ist hier, ob das Trinken von fermentiertem Dattelsaft verboten ist oder nicht. Gegeben ist 1) ein ursprünglicher Fall, nämlich das explizite Verbot von Wein (Arab.:?amr) im Koran. Gegeben ist 2) die rechtliche Regel, die sich ursprünglich dafür herausstellen lässt, nämlich, dass Wein verboten ist, weil er Trunkenheit/Rausch zur Folge hat. In einem dritten, neuen Fall muss nun ein verbindendes Element gefunden werden zwischen den beiden Fällen, in diesem Fall ist es eine?illa, d. h. die Ursache der ursprünglichen Regel, nämlich, dass es sich um etwas handelt, das einen Rauschzustand auslösen kann. Eine neue Regel kann somit 3) analog abgeleitet werden: Dattelsaft, der einen Rauschzustand auslösen und betrunken machen kann, müsste ebenfalls verboten sein, ebenso verhält es sich mit Drogen. Die ursprüngliche Regel ist wie verlangt textbasiert, die neue Regel zwar außertextlich, aber durch das verbindende Element dennoch textlich gut abgesichert. Man nennt die ursprüngliche Regel a?l (arab. Plural: u??l / die Wurzel), während die neue Regel ein Zweig derselben ist und daher mit far? (arab. Plural: furu?) bezeichnet wird. Die furu? al-fiqh stellen mit den u??l al-fiqh die beiden komplementären Bereiche des islamischen Rechts dar, für die es jeweilige Spezialisten unter den Rechtsgelehrten gibt (siehe Artikel zur Rechtsfindungsmethodologie). Die furu? stellen eine Möglichkeit dar, rechtliche Bestimmungen gegenwartsbezogen und zukunftsfähig zu halten und somit das islamische Recht nicht als eine unflexible Struktur verknöchern zu lassen, sondern es flexibel und für die Gläubigen auf ihre jeweilige Realität anwendbar zu erhalten, ohne deshalb die Basis der islamischen Normenlehre verlassen zu müssen.

Endnoten 1 Van Ess, Josef (1997): Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam. Band IV. Berlin, New York: W. de Gruyter, S. 660. (Hervorhebungen durch d. Verf.). 2 Vgl. Text zum Thema "u??l al-fiqh". 3 Vgl. Chaumont. E (2012): "a?-??fi??" Encyclopaedia of Islam, Second Edition. 4 Aydin 2016, S. 29. 5 Vgl. a?-??fi??, Mu?ammad (1938): ar-ris?la. Hrsg. A?mad Chakir. Kairo: Matbat Mu??afá al-b?b? al-?alab?, S. 477. 6 Daneben gibt es die beiden schwächeren Formen qiy?s al-mun?saba (Artverwandtheit als Kriterium der Analogie), und qiy?s al-?abah (Ähnlichkeit als Kriterium der Analogie), vertiefend dazu vgl. Lohlker, Rüdiger (2012): Islamisches Recht. Wien: UTB facultas wuv, S. 151. 7 Die Gegner des Analogieschlusses gingen davon aus, dass eine rein menschlich durch logisches Folgern herbeigeführte Regel nicht zulässig sei und keine verlässliche Basis vorweisen könne (vgl. dazu Lohlker 2012, S. 154). 8 Lohlker 2012, ebd.

Weiterführende Literatur Lohlker, Rüdiger (2012): Islamisches Recht. Wien: UTB facultas wuv. Rohe, Mathias (2013): Das islamische Recht: Geschichte und Gegenwart. München: C.H. Beck. Rohe, Mathias (2013): Das islamische Recht. München: C.H. Beck.