ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE, SWR2 DIE BUCHKRITIK Sun-Mi Hwang: "Das Huhn, das vom Fliegen träumte" Verlag Kein & Aber 160 Seiten 14,90 Euro Rezension von Waltraut Worthmann-von Rode Freitag, 13. Juni 2014 (14:55 15:00 Uhr)
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Von Waltraut Worthmann-von Rode Natürlich ist das Huhn ein bisschen verrückt. Es ist schon in die Jahre gekommen, hat täglich ein Ei gelegt, das der Bauer ihm stets weggenommen hat. Jetzt ist es muffig und will ein anderes Leben. Es gibt doch so viel Schöneres, auch wenn diese andere Welt nur durch den Maschendrahtzaun zu beobachten ist. Die Natur zum Beispiel. Dieses Werden, Blühen und Gedeihen: Die Akazie am Rande des Hofs war voller weißer Blüten und ihr süßer Duft wurde von einer Brise eingefangen und in den Stall getragen. Die Blätter haben wieder Blüten ausgebrütet, dachte das Huhn in seiner Hühnersprache. Wenn es die Augen zusammenkniff, konnte es die hellgrünen Blätter ausmachen, die herangereift waren und schließlich duftende Blüten geboren hatten. Sprosse hatte sich deswegen die Henne genannt. Denn: Sprossen bildeten Blätter heraus, die von Wind und Sonne berührt wurden, bevor sie abfielen, vermoderten und zu Erde wurden, auf der wohlriechende Blumen wachsen konnten.
Aber da lockt ja noch mehr da draußen. Wie gern hätte Sprosse dem buntgefiederten Hahn auf dem Hof imponiert. Hätte so gerne Eier ausgebrütet und ihre Küken umsorgt oder mit den Enten im Misthaufen gescharrt. Das alte Huhn träumt. Und wir Leser mit, weil Sprosse so poetisch träumen kann in diesem Märchen Das Huhn, das vom Fliegen träumte. Ich gebe es zu, es hat nicht lange gedauert. Schon auf Seite 24 spürte ich Zärtlichkeit gegenüber diesem zerrupften Ding, das schöne Dinge liebt und sich seiner Hässlichkeit bewusst ist. Dieser Hals ohne Federn. Dieser magere, ausgepowerte Körper. Kein Wunder, dass Sprosse erst mal auf einer Schubkarre landet, begraben unter der Last ausgedienten Federviehs. Wäre da nicht der Erpel, ein Freund für lange Zeit, der sie rettet und ihr Inneres zum Vorschein bringt. Diese Widerstandskraft, dieser Trotz gegen Alter und Zipperlein! Es ist schön dieses Innere des Huhns, weil es Träume hat, die eine krude Realität überwinden. Doch ach, Freiheit. Sie hat Kinken und Lücken, Regeln und eine Hackordnung. Sprosse hat Angst. Vor dem Knurren des Hofhundes, dem feindlichen Gegacker der privilegierten Enten und vor allem dem überall lauernden Wiesel. Wir Leser leiden mit. Längst haben wir begriffen, dass es nicht um dieses Huhn geht, sondern dass Sprosse das Symbol des Menschen ist, der sich nach Freiheit sehnt, nach mehr als dem eigenen kleinen Leben, nach Schönheit und Phantasie. Dass die Koreanerin Sun-Mi Hwang hier eine bezaubernde Parabel über die Widrigkeiten des Lebens geschrieben hat und vor allem: Über die Trotzmacht des Geistes.
Folgt Euren Träumen, sagt diese Erzählung, macht es wie Sprosse, setzt euch durch gegen die Feinde und Neider. Denn nur so werdet ihr ein kleines Wunder finden. Sprosse findet eines, ein Ei in einem Dornengestrüpp, brütet einen jungen Wilderpel aus, den sie liebt, der sie wieder liebt und den sie dann frei fliegend - der großen Ferne schenkt: Ein Geräusch hallte zwischen Himmel und den weit entfernten Bergen Wider. Schließlich tauchten schwarze Punkte am Horizont auf. Es waren unzählige Vögel, die ganze Welt war voller Vögel. Mit offenem Schnabel starrten Sprosse und ihr Sohn die Besucher an. Deine Familie ist da, sagte Sprosse. Sie streichelte sein weiches Gefieder und atmete seinen Geruch ein. Bald würden diese Erinnerungen das einzige sein, was ihr von ihm blieb. Wer so tapfer ist wie Sprosse, der kann auch einstige Feinde zu Freunden machen: Du siehst gut aus, gab der Leiterpel zu, ich meine nicht äußerlich, aber irgendwas Er zuckte die Schultern. Du bist ganz anders, als unsere Hennen. Seltsam: Du siehst selbstbewusster und anmutiger aus, obwohl Du nicht mehr alle Federn hast. Ein Buch zum Verlieben.