Luca Giuliani Possenspiel mit tragischem Helden
historische geisteswissenschaften frankfurter vorträge Herausgegeben von Bernhard Jussen und Susanne Scholz Band 5
Luca Giuliani Possenspiel mit tragischem Helden Mechanismen der Komik in antiken Theaterbildern WALLSTEIN VERLAG
Inhalt Kurze Anweisung zum Gebrauch dieses Textes 7 Eine Komödie über das Theater 11 Possenszenen versus tragische Mythenbilder 40 Ein Seitenblick auf attische Verhältnisse: Mummenschanz und Tragödie 49 Zur theatralischen Illusion: Lessing, Mendelssohn, Polanyi 59 Was Pyrrhias und Aigisth über das Theater wissen 74 Abbildungsnachweise 80 Literaturverzeichnis 81
Kurze Anweisung zum Gebrauch dieses Textes 1 Über die Wirkung der Tragödie auf ihr Publikum schreibt Aristoteles in seiner Poetik, dass sie durch Nachahmung menschlicher Handlungen Mitleid (éleos) und Furcht (phóbos) hervorrufe: Im tragischen Theater erleben die Zuschauer das unverschuldete Leiden von einem oder einer, die sie als ihresgleichen empfinden: Sie leiden mit, und zugleich fürchten sie sich vor der Möglichkeit, dass solches Leiden auch ihnen widerfahren könnte. 2 Aristoteles hat die Gefühlsökonomie der Tragödie damit auf eine einfache, einleuchtende Formel gebracht. Wir wissen nicht, ob ihm Vergleichbares auch in Bezug auf die Komödie gelungen ist: Der zweite Teil der Poetik, worin er von der Komödie handelte, ist bekanntlich verloren. Vielleicht hängt es also mit dem Fehlen einer klärenden aristotelischen Anweisung zusammen, dass das Komische in seiner Struktur 1 Der folgende Text geht zurück auf einen Vortrag, den ich zuerst 2010 bei einer Feier aus Anlass des 70. Geburtstags von Volker M. Strocka in Freiburg, zuletzt im Januar 2012 am Zentrum für Historische Geisteswissenschaften der Universität Frankfurt gehalten habe. Für die Aufforderung, ihn in der vorliegenden Form zu publizieren, bin ich Bernhard Jussen zu herzlichem Dank verpflichtet. Entscheidende Anregungen verdanke ich Maria Luisa Catoni und Regula Giuliani; zu danken habe ich außerdem vor allem Franco Moretti, Glenn Most, Martin Mulsow, Richard Neer, Oliver Primavesi und Michael Squire. Für Hilfe beim Beschaffen der Abbildungsvorlagen danke ich Giuseppina Agresti, Emanuele Arciuli, Teresa Elena Cinquantaquattro, Bruno D Agostino, Antonietta Dell Aglio, Maria Effinger, Ursel Kästner, Luigi La Rocca, Johannes Laurentius, Massimo Osanna, Jeannette Papadopoulos, Anna Provenzali, Stefania Saviano, Alessandra Villone und Armanda Zingariello. Für die freundliche und effiziente Betreuung des Manuskripts danke ich Stefanie Mürbe und Hartmut Schönfuß. 2 Poetik Kap. 13-14, 1452b-1454a. Über die Bedeutung von éleos und phóbos ist lange gestritten worden; eine (wie mir scheint) vollkommen schlüssige und vermutlich endgültige Lösung des Problems hat neuerdings William Marx vorgeschlagen: Marx 2012, 87-117. 7
uns weniger durchsichtig erscheint als das Tragische; aber vielleicht liegt die Opazität auch in der Natur der Sache. 3 Wenn einer sich fürchtet, so fürchtet er sich allein für sich; wenn er Mitleid empfindet, leidet er mit Seinesgleichen: solche Konstellationen sind relativ leicht überschaubar. Wesentlich komplexer ist die Situation beim Lachen, das eine stärkere gesellschaftliche Dimension besitzt und der kulturellen Abstimmung bedarf. Einen ersten Einstieg kann vielleicht Henri Bergsons klassische Abhandlung Le rire vermitteln; darin wird von Anfang an deutlich gemacht:»man hätte am Komischen keine Freude, wenn man sich isoliert fühlte. Es scheint, dass das Lachen auf ein Echo angewiesen ist [ ] Unser Lachen ist immer das Lachen einer Gruppe.«4 In der Tat beruht das Lachen auf einem Hintergrund von Erwartungen und Werturteilen, an dem man teilhaben muss, um mitlachen zu können.»um das Lachen zu verstehen, muss man es in sein natürliches Milieu zurückversetzen, und das ist die Gesellschaft; vor allem muss man seine gesellschaftliche Funktion bestimmen.«5 Zum Gegenstand von Gelächter wird derjenige, der sich seinen Mitmenschen nicht anzupassen vermag, der wegen eines über- oder unterdurchschnittlich ausgebildeten Zuges auffällig wird und aus dem gesellschaftlichen Rahmen herausfällt ohne dies selbst zu bemerken.»der komische Charakter ist in der Regel im selben Maße komisch als er sich dessen unbewusst bleibt [ ;] seine Komik ist für alle anderen sichtbar, nur nicht für ihn selbst.«6 Das kollektive Gelächter dient der Bewusstwerdung und 3 Die Diskussion über das Komische ist uferlos. Für einen ersten Überblick vgl. Preisendanz & Warning 1976; Schwind 2001. 4 Bergson 1900, 6. Zu Bergsons Essay vgl. auch Silk 2000, 75; Schwind 2001, 377-379; Wiles 2008, 385 f. 5 Bergson 1900, 8. 6 Ebd., 17. 8