Projektförderung der DSF

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Transkript:

Projektförderung der DSF Tagungsbericht Geförderte Einrichtungen: Berliner Kolleg Kalter Krieg Berlin Center for Cold War Studies Institut für Zeitgeschichte München-Berlin Universität Mannheim The INF Treaty of 1987: A Reappraisal Berlin/ 30. 11.- 02.12.2017 Projektleitung: Prof. Dr. Bernd Greiner, Prof. Dr. Elke Seefried Projektnr.: TG 06/17 IWT 03/22-2017 Gefördert mit Mitteln der Deutschen Stiftung Friedensforschung Deutsche Stiftung Friedensforschung (DSF) german foundation for peace research Am Ledenhof 3-5 D-49074 Osnabrück Telefon: +49 541 60035-42 Telefax: +49 541 60079039 E-mail: info@bundesstiftung-friedensforschung.de http://www.bundesstiftung-friedensforschung.de

Projektbericht über die Tagung The INF Treaty of 1987: A Reappraisal (30.11.-2.12.2017 in Berlin) Der Intermediate-Range Nuclear Forces Treaty (INF-Vertrag) vom 8. Dezember 1987 war ein Meilenstein in den Rüstungskontrollverhandlungen der Supermächte, da erstmals vereinbart wurde, eine ganze Kategorie von Nuklearwaffen zu verschrotten und diesen Prozess auch wechselseitig zu überwachen. Die Tagung verfolgte das wichtige Ziel, im Licht der fortgeschrittenen Forschung und unter Rückgriff auf die einschlägigen, mittlerweile zugänglichen Archivalien Ursprünge, Perzeptionen und Auswirkungen des Vertrages zu beleuchten. Ein zweites Motiv, sich der Thematik in einer internationalen Tagung zu widmen, entsprang dem Bedürfnis der historischen Selbstvergewisserung in einer Situation, in der der Fortbestand des Vertrags aufgrund wachsender Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und Russland auf dem Spiel steht insbesondere aufgrund der vertragswidrigen Produktion von landgestützten Marschflugkörpern durch Russland und den jüngsten Absichtsbekundung von Seiten der US-Administration, die Produktion von Atomwaffen wiederaufzunehmen. Die Tagung zielte zum einen auf die internationale wissenschaftliche Community und zum anderen auf eine interessierte Öffentlichkeit, die im Rahmen einer gut besuchten Veranstaltung am Abend des ersten Konferenztages auch erreicht wurde. Den Auftakt der Konferenz bildete ein Einführungsvortrag von Bernd Greiner (Berliner Kolleg Kalter Krieg), in dem die zentrale Frage gestellt wurde, wie angesichts einer nuklear hochgerüsteten Welt das INF-Abkommen grundsätzlich möglich wurde. Der Rüstungswettlauf und die Hochrüstung, die mit dem NATO-Doppelbeschluss und der Stationierung amerikanischer Mittelstreckenwaffen in Westeuropa sowie den sowjetischen Gegenmaßnahmen in Ostmitteleuropa in den 1980er Jahren einen Höhepunkt erlebt hatte, waren Greiner zufolge Ausdruck eines tiefen Misstrauens zwischen den Supermächten. Nuklearwaffen hielten zwar diesen Wettlauf in Gang, verhinderten allerdings auch, dass ein mit Atomwaffen geführter Krieg ausbrach. Das war allerdings stets eine prekäre Friedensgarantie. Erst als die Beziehungen zwischen beiden Supermächten unter Reagan und Gorbatschow immer weniger von Misstrauen und zunehmend von Vertrauen geprägt wurden, konnte der Rüstungswettlauf mit dem INF-Abkommen beendet werden. Die erste Sektion widmete sich der Vorgeschichte des Abkommens in den 1980er Jahren und den Wendepunkten der historischen Entwicklung, ohne die der Vertrag nicht möglich 1

gewesen wäre. Leopold Nuti (Universität Roma Tre) begann mit einem Rückblick auf den NATO-Doppelbeschluss von 1979. Dabei stellte er das gängige Narrativ in Frage, dem zufolge die NATO mit ihrem Beschluss nur auf die sowjetische Vorrüstung reagiert habe. In NATO-Gremien wurde vielmehr schon vor Stationierung der sowjetischen SS-20 die Modernisierung der eigenen Mittelstreckenwaffen diskutiert und geplant. Außerdem plädierte Nuti für eine nuanciertere Periodisierung, die nicht-staatliche Akteure und den transnationalen Austausch von Ideen und Konzepten mit einbezieht. Dabei machte er darauf aufmerksam, dass es sogar auf dem Höhepunkt der Entspannungsära wichtige Kräfte gab, die der Idee der friedlichen Koexistenz sehr kritisch gegenüberstanden. Diese Gleichzeitigkeit sich widersprechender historischer Tendenzen müsse in unserer Darstellung der internationalen Entwicklung stärker zum Ausdruck kommen als bisher. Im Anschluss daran behandelte Beth A. Fischer (Universität Toronto) das sogenannte Reagan Reversal, also die Frage, wie es zu dem scheinbaren Wandel Ronald Reagans von einem Kalten Krieger zu einem Détente-Anhänger kam. Denn der US-Präsident hatte seine Amtszeit mit einem gigantischen Aufrüstungsprogramm begonnen, beendete diese aber mit einem echten Abrüstungsvertrag und der Perspektive, auch in anderen Bereichen zu analogen Abkommen zu gelangen. Fischer argumentierte, dass Reagan aus moralischen Gründen Nuklearwaffen und insbesondere die Doktrin der mutual assured destruction abgelehnt habe. Letztere wollte er durch mutual assured survival ersetzen, wobei das von ihm angekündigte Raketenabwehrsystem im Weltraum (Strategic Defense Initiative SDI) eine wichtige Rolle spielen sollte. Denn dieses sollte aus seiner Sicht einem rein defensiven Zweck dienen, indem es Nuklearwaffen nutzlos machte. Es war daher nur konsequent, dass er Gorbatschow anbot, das System ebenfalls zu übernehmen. Der sowjetischen Nuklearstrategie wandte sich Tom Blanton (National Security Archive, Washington DC) zu. Seiner Auffassung nach hatte sich diese bereits vor dem Amtsantritt Michail Gorbatschows im März 1985 gewandelt, ohne dass dies jedoch sichtbar geworden war. Bereits Mitte der 1970er Jahre, so Blanton, hätten Generalstabschef Sergei Achromejew und Georgi Kornienko vom Außenministerium ein Programm zur Abschaffung aller Nuklearwaffen entwickelt, da ihnen bewusst war, dass ein Nuklearkrieg das Ausspielen der überwältigenden Macht der sowjetischen konventionellen Streitkräfte in Europa verhindern würde. Dies widersprach freilich der damals gültigen sowjetischen Militärdoktrin. Erst als sich diese Mitte der 1980er Jahre wandelte und mit Gorbatschow ein nuclear abolitionist 2

die sowjetische Führung übernahm, konnte im Januar 1986 ein Vorschlag des neuen Generalsekretärs veröffentlicht werden, alle Nuklearwaffen bis zum Jahr 2000 abzuschaffen, diesmal allerdings ohne den Hintergedanken, dadurch die sowjetische konventionelle Übermacht auszuspielen. Am Abend des ersten Tages beleuchtete eine von Bernd Greiner moderierte öffentliche Podiumsdiskussion die gefährdete Zukunft des INF-Vertrags im Lichte der aktuellen politischen Entwicklungen. Teilnehmer waren Andreas Wirsching (Institut für Zeitgeschichte München-Berlin), Oliver Meier (Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin), Otfried Nassauer (Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit) und Susanne Baumann (Stellvertretende Abrüstungsbeauftrage der Bundesregierung, Auswärtiges Amt). Vor dem Hintergrund der gewachsenen Spannungen zwischen Ruland und dem Westen sahen die Diskutanten eine Tendenz von der Denuklearisierung zur Renuklearisierung. Während Baumann in ihren Ausführungen zur Sicherheitspolitik der Bundesregierung darauf verwies, dass Abrüstung und Rüstungskontrolle weiterhin zentrale Elemente globaler Sicherheit darstellten, machte Wirsching vor dem Hintergrund des derzeit gleich mehrfach gefährdeten Systems von Abrüstungs- und Rüstungskontrollvereinbarungen aus der Endphase des Kalten Krieges (Gefährdung des INF-Vertrags, Aussetzung des KSE-Vertrags, Kündigung des ABM-Abkommens etc.) auf die entscheidenden drei Faktoren aufmerksam, die 1987 den Erfolg des INF-Vertrags ermöglicht hätten: erstens, den wirtschaftlichen Niedergang der Sowjetunion, zweitens, das Vertrauensverhältnis zwischen Gorbatschow und Reagan, und, drittens, den Einfluss einer transnationalen, gesellschaftlich breit verwurzelten Friedensbewegung, die in dieser Form so nicht mehr existiert. Es waren also ganz spezifische historische Bedingungen, unter denen der Vertrag zustande kommen konnte; die heutige Konstellation weist grundlegende Unterschiede auf, so dass eine analoge Entwicklung heute kaum denkbar erscheint. Die erste Sektion des zweiten Tages behandelte den Weg vom Gipfel von Reykjavik im Oktober 1986 zu dem von Washington im Dezember 1987. Ronald Granieri (Foreign Policy Research Institute, Philadelphia) behandelte die Politik Reagans in einer postrevisionistischen Perspektive. Für Reagan waren militärische Aufrüstung und Rüstungskontrolle kein Widerspruch. Er hatte seinen Vorschlag von 1981 für eine Null- Lösung bei den Mittelstreckenwaffen als er gerade mit dem Aufrüstungsprogramm begonnen hatte als langfristige Perspektive durchaus ernst gemeint, wenngleich dieser zur 3

damaligen Zeit ein taktisches Element hatte: Denn dessen Ablehnung durch die sowjetische Seite war damals absehbar. Dass der INF-Vertrag dann zustande kam, hing auch mit der vorangegangenen Aufrüstung zusammen: Denn erst diese brachte die Sowjetunion an den Verhandlungstisch und ermöglichte die sensationellen Vereinbarungen von Washington. Swetlana Savranskaja (National Security Archive, Washington DC) wandte sich dem sowjetischen Weg nach Washington zu, stellte Gorbatschows Rüstungskontrollpolitik in den übergeordneten Kontext der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen und machte folgende Faktoren für dessen Bereitschaft zu massiven Einschnitten bei den Atomwaffen verantwortlich: die Ratschläge von Abrüstungsexperten, die Überzeugung Gorbatschows, dass Reagan letztlich friedliche Absichten habe, die Unterstützung von Marschall Achromejew und die Katastrophe von Tschernobyl. Die dritte Sektion behandelte die gesellschaftlichen Dimensionen von Rüstung und Abrüstung im Zusammenhang mit dem INF-Vertrag. Claudia Kemper (Hamburger Institut für Sozialforschung) behandelte die Friedensbewegung in den USA. Diese war eng verbunden mit der Freeze-Resolution, die zu Beginn der 1980er Jahre für ein Einfrieren der Rüstungen auf dem damaligen Stand plädiert hatte. In der Freeze -Bewegung engagierten sich Wissenschaftler, Geschäftsleute und kirchliche Gruppen. Weil diese ein gesellschaftliches Bewusstsein für Frieden und Abrüstung schufen, ging auch nach dem Abschluss des INF- Vertrags das Lobbying für die Nichtverbreitung von Atomwaffen weiter. Die wechselseitigen Einflüsse zwischen den INF-Verhandlungen und der westdeutschen gesellschaftlichen und innenpolitischen Szene thematisierte Philipp Gassert (Universität Mannheim). Seiner Auffassung nach war es der Druck von Außenminister Hans-Dietrich Genscher und der westdeutschen öffentlichen Meinung, die sich von antisowjetischen Stereotypen befreit hatte, die Bundeskanzler Helmut Kohl mit Erfolg dazu drängten, die älteren Pershing IA-Raketen, über die die Bundeswehr verfügte, zu beseitigen und damit den Weg zum Vertragsabschluss der beiden Supermächte zu ebnen. Wenngleich die Friedensbewegung 1983 mit Blick auf eine Verhinderung der Nachrüstung, also der Stationierung neuer westlicher Raketen, gescheitert war, hatte sie doch auch weiterhin einen erheblichen Einfluss auf die politische Kultur der Bundesrepublik. Tapio Juntunen (Universität Tampere) befasste sich mit der Friedensbewegung in Skandinavien. Hier sticht vor allem die Initiative zur Schaffung einer Nordischen 4

nuklearwaffenfreien Zone hervor, über die bisher in der Forschung kaum etwas bekannt ist. Es waren vor allem die sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien in Skandinavien, die diese Agenda aufgriffen und so zu einem Sicherheitsdialog zwischen den nordeuropäischen Staaten beitrugen. Die Reaktionen der führenden westlichen Verbündeten standen im Mittelpunkt des folgenden Panels. Die Regierung Thatcher, so Oliver Barton (Verteidigungsministerium des Vereinigten Königreichs, London), nahm eine ambivalente Haltung zum INF-Vertrag ein. Einerseits sah sie darin eine Bestätigung und Rechtfertigung für ihre Unterstützung von Reformen in der UdSSR; andererseits wurden mit dem INF-Vertrag Waffensysteme abgeschafft, für deren Stationierung die britische Regierung in den Jahren zuvor viel politisches Kapital aufgewendet hatte, um die Abschreckungskomponente der NATO-Strategie zu stärken. Überhaupt war die INF-Stationierung für Großbritannien vor allem ein Faktor zur Stärkung der Solidarität innerhalb der NATO gewesen. Mit dem Abschluss des INF-Vertrags fühlte sich Premierministerin Margaret Thatcher angesichts der Verhandlungen der Supermächte zunehmend isoliert, sie warnte vor der verbleibenden konventionellen Bedrohung durch die Sowjetunion und plädierte prompt für eine nun um so notwendigere Modernisierung nuklearer Kurzstreckenraketen. Christian Wenkel (Artois Universität, Arras) zeigte, wie für Frankreich der Weg zum INF- Vertrag mit der europäischen Integration zusammenhing. Präsident François Mitterrand sah sich als Brückenbauer zwischen Ost und West und befürwortete eine Wiederbelebung französischer Entspannungspolitik. Bei den Reaktionen auf den INF-Vertrag unterschied Wenkel zwischen dem Außenministerium, das dem Vertrag mit gemischten Gefühlen gegenüberstand, der Presse und der positiven Haltung Mitterrands. Er sah darin einen guten Start für weitere Abrüstung und konnte diesen auch innenpolitisch nutzen, da er gerade noch rechtzeitig kam, um seine Wiederwahl 1988 sicherzustellen. Abrüstung konnte als der französische Weg verstanden werden, um die europäische Frage zu lösen. Tim Geiger (Institut für Zeitgeschichte, Abteilung AAPD Berlin) widmete sich unter anderem der Debatte innerhalb der Bundesregierung über die doppelte Null-Lösung 1987. Zwar befürworteten die Unionsparteien die Abrüstung der Mittelstreckenwaffen längerer Reichweite, waren aber mit Blick auf die anvisierte doppelte Null-Lösung, die auch die nuklearen Mittelstreckensysteme kürzerer Reichweite einbezog, besorgt, dass die USA die westdeutschen Interessen zugunsten eines Arrangements der Supermächte opfern könnten. 5

Genscher hingegen stand der Sowjetunion sehr viel weniger misstrauisch gegenüber und war viel eher bereit, auf alle Mittelstreckenwaffen zu verzichten. Im Einklang mit der amerikanischen Führungsmacht brachte er letztlich Kohl und die größere Regierungsfraktion CDU/CSU dazu, nicht nur die doppelte Null-Lösung, sondern darüber hinaus auch die Abschaffung der 72 Pershing IA-Raketen der Bundeswehr zu akzeptieren, nachdem die Sowjets verdeutlicht hatten, dass sie auf diesem Punkt bestehen würden. Der Abrüstungsvertrag ermöglichte dann eine Annäherung zwischen Moskau und Bonn, die sich letztlich auch auf die Verhandlungen zur Wiedervereinigung wenige Jahre später auswirken sollte. Die fünfte Sektion widmete sich den Reaktionen von zwei östlichen Verbündeten der Sowjetunion. In Polen, so Wanda Jarząbek (Institut für politische Studien der polnischen Akademie der Wissenschaften, Warschau), wurden Gorbatschows Abrüstungsvorschläge von der Öffentlichkeit begrüßt, während die Propaganda weiterhin die NATO als Kriegstreiberin anprangerte. In den polnischen Eliten gab es erhebliche Zweifel, ob sich Gorbatschow gegen die Hardliner im KPdSU-Politbüro durchsetzen könne. Der sogenannte Jaruzelski-Plan vom Mai 1987, der ältere, bis zum Rapacki-Plan von 1957 zurückgehende polnische Abrüstungsvorhaben integrierte, bewegte sich in den Bahnen Gorbatschows, hatte aber vor allem die Funktion, für Polen die Rolle als Sprecher für Abrüstungsfragen im Warschauer Pakt zurückzugewinnen. Für die DDR legte Hermann Wentker (Institut für Zeitgeschichte, Abteilung Berlin) dar, dass Honecker die sowjetische Linie, eine doppelte Null-Lösung anzustreben, voll und ganz unterstützte. Gleichzeitig distanzierte sich die DDR-Führung bereits damals von der sowjetischen Reformpolitik. Durch die Unterstützung der sowjetischen Position in Gesprächen mit westdeutschen Politikern wollte Honecker den Friedenswillen der DDR bekunden und sich gegenüber Moskau als verlässlichen Verbündeten präsentieren, der die Bundesregierung dazu bewegen konnte, ebenfalls auf den sowjetischen Kurs einzuschwenken. Obwohl sein Einfluss auf Bonn minimal war, war sein Jubel im Anschluss an den Abschluss des Vertrages groß. Seine Versuche, sich gegenüber den Ostdeutschen als Friedensstifter zu präsentieren, waren indes nicht von Erfolg gekrönt: Diese schrieben den Erfolg mehrheitlich Gorbatschow zu, dem sie vor allem in seiner Eigenschaft als Reformer zujubelten. 6

In der letzten Sektion am dritten Konferenztag zu den Folgen des Vertragsabschlusses befasste sich William Alberque (NATO, Brüssel) mit den bisher kaum erforschten Fragen der Implementierung des INF-Abkommens. Es ging dabei um die wechselseitig kontrollierte Vernichtung der Mittelstreckenwaffen. Alberque begann mit den technischen Gesprächen zwischen sowjetischen und amerikanischen Experten im Jahre 1988, die sich über die Umsetzung der Vertragsbestimmungen einigten. Des Weiteren zeigte er, dass der durch den Vertrag vorgegebene geographische Rahmen die jetzt gegründete On-Site Inspection Agency vor enorme logistische Herausforderungen stellte. In der Sowjetunion gab es 130 Orte, an denen die Raketen zerstört wurden und die nur von wenigen, im INF-Vertrag genau benannten Zugangsstellen aus betreten werden durften. Die wechselseitige Überwachung der Raketenvernichtung wurde zusätzlich durch die Größe der Standorte, das Tempo der Operationen und kurzfristig angesetzte Inspektionen verkompliziert. Oliver Bange (Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam) untersuchte, wie der INF-Vertrag die beiden deutschen Staaten und die Abschreckungslücke betraf, die sich nach seiner Unterzeichnung auftat: Denn nun stellte sich umso dringender die Frage, was mit den konventionellen Truppen und den verbleibenden nuklearen Kurzstreckenraketen in Europa sowie den Langstreckenraketen (START) passieren sollte. Denn infolge des INF-Vertrages wurde nur eine vergleichsweise kleine Anzahl von Atomwaffen vernichtet (rund 3 Prozent des damaligen Atomwaffenarsenals). Daher wuchs dem KSE-Vertrag, der sich mit der Reduzierung der konventionellen Streitkräfte befasste und im November 1990 unterzeichnet wurde, große Bedeutung zu, da er ein Zentralstück der neuen politischen und sicherheitspolitischen Architektur in Europa werden sollte. Bange schloss mit einem Ausblick auf die gegenwärtige Situation, in der aufgrund von russischen und von amerikanischen Aktivitäten der INF-Vertrag verletzt worden sei und die Gefahr bestehe, dass dies einen Domino-Effekt in Gang setzen und die gesamte europäische Sicherheitsstruktur der Post-Cold-War-Ära in Frage stellen könnte. Mit einer Diskussion, die sowohl die historischen Dimensionen als auch die Probleme der gegenwärtigen Sicherheitslage behandelte, fand die Konferenz ihren Abschluss. Eine Veröffentlichung der Ergebnisse in Form eines Sammelbandes ist geplant. Der Band wird als erste Veröffentlichung einer neuen Reihe Studien zur Geschichte des Kalten Krieges im Rahmen der vom Institut für Zeitgeschichte herausgegebenen Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte in englischer Sprache erscheinen. 7