ZKPR Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation Störungen des Sozialverhaltens Prof. Dr. Franz Petermann Frankfurt, 23. Januar 2013 Vortrag an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Frankfurt 1
Formen der Aggression im Kindesalter Epidemiologie Diagnostik Therapie Kindertherapie Elternberatung und Elterntraining Multisystemische Ansätze Zusammenfassung
Zur Problemlage l Die Störung weist ein großes Spektrum an Symptomen auf (von Ungehorsam bis zur körperlichen Gewalt). Eine Störungsvariante t ( early starters ) t tritt bereits sehr früh auf, meist in einem schwierigen sozialen Umfeld Die Störung ist besonders häufig und weist vielfach einen hohen Schweregrad auf. Die Störung zieht andere Handicaps nach sich und ist Die Störung zieht andere Handicaps nach sich und ist besonders hartnäckig.
Die Behandlungschancen sind begrenzt. Die Störung erzeugt vielfach ein besonderes Ausmaß an Hilflosigkeit bei Eltern und Profis!
Formen der Aggression im Kindesalter Formen der Aggression nach ICD-10 1. Ort des Auftretens nur in der Familie vs. mehrere Lebensbereiche b 2 Beziehungsfähigkeit des Kindes 2. Beziehungsfähigkeit des Kindes mit sozialen Bindungen vs. ohne soziale Bindungen
Formen der Aggression im Kindesalter Formen der Aggression nach ICD-10 3. Schweregrad Oppositionelles Verhalten ohne Regelverletzung vs. Vollbild der Störung des Sozialverhaltens l 4. Hinweis i auf komorbide Störungen Ängste oder Depression vs. Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
Formen der Aggression im Kindesalter Formen: Reaktive vs. proaktive Aggression Reaktive Aggression Das Verhalten erfolgt ungeplant sowie häufig nach Zurückweisung und Enttäuschung. Proaktive Aggression Geplantes Verhalten, das durch den erreichten Erfolg gesteuert wird. Merkmale: Merkmale: Impulsiv Kontrolliert Reaktiv Proaktiv Feindselig Instrumentell Affektiv Räuberisch
Formen der Aggression im Kindesalter Proaktiv-kalte Aggression: Psychopathie schon bei Kindern? Mangel an Reue oder Schuldgefühlen Mangel an Empathie: Missachtet die Gefühle anderer oder zeigt sich den Gefühlen anderer gegenüber gleichgültig Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen Leistung: Zeigt keine Besorgnis bei schlechten Leistungen in der Schule, der Arbeit oder in anderen wichtigen Bereichen
Proaktiv kalte Aggression: Psychopathie schon bei Kindern? Proaktiv-kalte Aggression: Psychopathie schon bei Kindern? Defizitäre Emotionalität: Keine Gefühlsäußerung; Emotionen werden dazu eingesetzt, um z.b.. andere dee zu manipulieren pulee oder einzuschüchtern Prognose: Sehr ungünstig, da Elterntrainings unwirksam sind, eine hohe Tendenz zur Delinquenz besteht und eine hohe h Rückfallquote auftritt.
Formen der Aggression im Kindesalter Angst und Aggression Aggression mit geringer Ängstlichkeit Aggression mit hoher Ängstlichkeit Starke psychopathische Tendenzen Reaktive und proaktive Aggression Keine psychopathischen Tendenzen Vorwiegend reaktive Ängstlichkeit
Angst und Aggressionen Formen der Aggression im Kindesalter Theorie der pathologischen Angstfreiheit (Herpertz & Saß, 2000) Mehr dissoziales Verhalten Mehr körperliche Aggressivität Mehr Sensation Seeking In der Folge: Antisoziale Persönlichkeitsstörung Typisch für Early Starters
Epidemiologie Prävalenzen aus prospektiven Studien Urteile i. d. R. anhand klinischer Interviews bez. Der Altersgruppe der Fünf- bis 15-jährigen für die SSV Fleitlich-Bilyk & Goodman (2004) Brasilien 2,2 % Ford et al. (2003) Großbritannien 1,5 % Graetz et al. (2005) Australien 3,4 % Lecendreux et al. (2011) Frankreich 7,1 % Leung et al. (2008) China 1,7 % Merikangas et al. (2010) USA 2,1 % Störung mit oppositionellem Trotzverhalten: 2,3 % bis 6,8 %
Epidemiologie Early Starter (Life-course-persistent Typus) Beginn vor dem 10. Lebensjahr Bis zu 50 % dieser Kinder entwickeln im Erwachsenenalter eine antisoziale Persönlichkeitsstörung Late Starter (Adolescent-limited Typus) Beginn nach dem 10. Lebensjahr Nur 5 % dieser Jugendlichen entwickeln im Erwachsenenalter eine antisoziale Persönlichkeitsstörung
Epidemiologie Verlauf 1. Als Kriterien für den Verlauf aggressiven Verhaltens ist der Manifestationszeitpunkt entscheidend! 2. Early Starters sind durch einen ungünstigen Verlauf gekennzeichnet: Persönlichkeitsstörungen, it tö strafrechtliche h Delikte, Inhaftierung und Drogenmissbrauch. Schlussfolgerung Diese Gruppen früh herausfinden dann spezifische Präventionsmaßnahmen anbieten
Epidemiologie Was tritt häufig vor aggressivem Verhalten im Entwicklungsverlauf auf? Die Hitliste: ADHS Spezifische Phobie (z.b. Hundephobie) Soziale Phobie Oppositionelles Trotzverhalten
Epidemiologie Was tritt häufig als Folge aggressiven Verhaltens im Entwicklungsverlauf auf? Die Hitliste: Alkoholabhängigkeit Drogenabhängigkeit Antisoziale Persönlichkeitsstörung Bipolare Störungen Major Depression Zwangsstörung Generalisierte Angststörung
Epidemiologie Der Doppel-Schlag : ADHS und SSV Nach einer Metaanalyse von Witthöft et al. (2010) ist das Risiko eines Kindes mit ADHS, auch im weiteren Entwicklungsverlauf eine Störung des Sozialverhaltens herauszubilden, um den Faktor 21 erhöht verglichen mit einem unauffälligen Kind (in der Allgemeinbevölkerung).
Diagnostik Ziele Zentrale Bedeutung von frühen psychosozialen Risikofaktoren ( Vorsorgeuntersuchungen) Klärung, ob und welche dieser frühen psychosozialen Risiken beeinflussbar sind Klärung, ob Eltern notwendige Maßnahmen zur Verbesserung einer belasteten Eltern-Kind-Interaktion auch umsetzen können Klärung, ob eine psychische Krankheit auf Seiten der Eltern vorliegt
Diagnostik Ziele Situationsspezifische ti ifi Abklärung (z.b. EAS) Notwendigkeit einer begleitenden oder stationären Jugendhilfe Maßnahme prüfen Prüfen, welche familiären Schutzfaktoren aktivierbar sind Hilfreiches Screening = SDQ = Kostenfrei im Internet verfügbar unter: www.sdqinfo.com
Diagnostik EAS-J EAS-M Petermann & Petermann (2000)
Diagnostik EAS-J Auswertungsmatrix Petermann & Petermann (2000)
Diagnostik Im Jugendalter äußert sich eine ungünstige Prognose wie folgt: Schulabbruch Alkohol- und Drogenmissbrauch Hohe Gewaltbereitschaft und Neigung zur körperlichen Gewalt Verkehrsgefährdendes Verhalten (u.a. unter Alkohol- und Drogenkonsum) Entwicklung einer antisozialen Persönlichkeitsstörung
Therapie: Kindertherapie Empirisch gestützte Methoden bei sozialen Kompetenztrainings Methode Erläuterung Einübung von Selbstbeobachtung und Selbstbewertung Die Kinder lernen, sich selbst zu beobachten und das eigene Verhalten zu bewerten Selbstinstruktionstraining Die Kinder lernen, durch inneres Sprechen Gefühle zu regulieren und eigenes Verhalten zu steuern Nach Bloomquist & Schnell (2005)
Therapie: Kindertherapie Empirisch gestützte Methoden bei sozialen Kompetenztrainings Methode Erläuterung Training der sozialen Problemlösefähigkeiten Die Kinder lernen, verschiedene Schritte zur Lösung zwischenmenschlicher Konflikte anzuwenden Einüben von Sozialverhalten und Kommunikationsfertigkeiten Die Kinder lernen, prosoziales Verhalten sowie verbale und nonverbale Kommunikationsfertigkeiten anzuwenden Nach Bloomquist & Schnell (2005)
Therapie: Kindertherapie Empirisch gestützte Methoden bei sozialen Kompetenztrainings Methode Training sozialer Perspektivenübernahmeenübernahme Erläuterung Die Kinder lernen, Emotionen und Gedanken anderer zu berücksichtigen Ärger Management-Training Die Kinder lernen, eigenen Ärger und eigene Wut wahrzunehmen und damit angemessen umzugehen Nach Bloomquist & Schnell (2005)
Therapie: Kindertherapie Verhaltenstherapeutische Intensivtherapie VIA Beschreibung Multimodales dreimonatiges Behandlungsprogramm, das ein zweiwöchiges tagesklinisches, verhaltenstherapeutisches Intensivtraining in einer Gruppe von sechs Kindern (6-14 Jahre) umfasst. Zwei Wochen vor der Maßnahme und sechs Wochen danach findet ein ambulantes Elterntraining statt. Nach Grassmann & Stadler (2009)
Therapie: Kindertherapie Verhaltenstherapeutische Intensivtherapie VIA Tagesklinische Intensivtherapie Vermittlung von Strategien zum Selbstmanagement Aufbau einer verbesserten Impulskontrolle Neue Problemlösemöglichkeiten Verbesserte soziale Informationsverarbeitung i Analyse ungünstiger Überzeugungen Nach Grassmann & Stadler (2009)
Therapie: Kindertherapie Verhaltenstherapeutische Intensivtherapie VIA Begleitendes ambulantes Elterntraining Vermittlung eines lerntheoretisch orientierten Störungsmodells Analyse ungünstiger Erziehungsmuster Aufbau einer positiven i Eltern-Kind-Beziehung i Verbesserung des familiären Klimas Stärkung der elterlichen Erziehungskompetenz Nach Grassmann & Stadler (2009)
Therapie: Kindertherapie Verhaltenstherapeutische Intensivtherapie VIA Wirksamkeit Mittlere Effektstärken, sehr gute Effekte bei aggressivoppositionellem, aber keine Veränderung bei dissozialem Verhalten Nach Grassmann & Stadler (2009)
Petermann & Petermann (2012) Therapie: Kindertherapie
Therapie: Kindertherapie Training mit aggressiven Kindern: Ausgewählte Inhalte Kindertraining: Einzeln und in Gruppen Auseinandersetzen mit aggressivem Verhalten Konsequenzen eigenen Verhaltens erkennen Einfühlungsvermögen einüben Mit Wut und Ärger besser fertig werden Petermann & Petermann (2012)
Therapie: Kindertherapie Training mit aggressiven Kindern: Elternberatung Vermittlung eines Störungskonzeptes Vertraut machen mit systematischer Alltagsbeobachtung Wirkungsvoll Aufforderungen stellen Einsatz von Lob und Verstärkung Stabilisieren positiver Veränderungen in der Familie Petermann & Petermann (2012)
Therapie: Kindertherapie Training mit aggressiven Kindern: Wirksamkeit Mittlere bis starke, sowohl kurz- als auch langfristige Effekte: Reduzierung von emotionalen und sozialen Problemen sowie des aggressiven und hyperaktiven Verhaltens, deutliche Verbesserung des prosozialen Verhaltens, keine Veränderung dissozialen Verhaltens. Petermann & Petermann (2012)
Therapie: Elternberatung und Elterntraining Incredible Years Training Ein Gruppentraining für Eltern mit Kindern der Altersgruppe 2 bis 10 Jahre Umfang: Ungefähr 10 wöchentlich h stattfindende d Treffen Teilnehmerzahl: 12 bis 14 Eltern Webster-Stratton & Herman (2010)
Therapie: Elternberatung und Elterntraining Incredible Years Training: Das Vorgehen Anschauen von themenspezifischen, vorproduzierten Videoausschnitten (ca. 1-2 Minuten) Gruppendiskussionen (über die Videoinhalte) Rollenspiele, um Lösungen zu erarbeiten und auszuprobieren Formulieren und Erledigen von strukturierten t Hausaufgaben Webster-Stratton & Herman (2010)
Therapie: Elternberatung und Elterntraining Incredible Years Training: Die Inhalte Fördern von Spielaktivitäten/gezielte Aufmerksamkeits- zuwendung in diesem Kontext Erkennen von Gelegenheiten für ein Lob Sammeln von Ideen für eine angemessene Belohnung Aussprechen von Lob Grenzen setzen und dabei konsequent bleiben Webster-Stratton & Herman (2010)
Therapie: Elternberatung und Elterntraining Incredible Years Training: Die Erfolge Positive Veränderung der elterlichen Einstellung zur Eltern-Kind-Interaktion Abnahme von Verhaltensproblemen beim Kind Weniger emotionale Probleme beim Kind Viele Studien mit mittleren bis hohen Effektstärken Bislang keine deutschsprachige Fassung des Vorgehens Webster-Stratton & Herman (2010)
Therapie: Multisystemische Ansätze Multisystemische Therapie Auf der Ebene des Kindes, der Familie, der Gleichaltrigengruppe, g der Schule und Nachbarschaft wird bei schweren Formen dissozialen Verhaltens interveniert. Konkret werden verhaltenstherapeutische Maßnahmen mit dem Kind und der Familie mit Jugendhilfe- Angeboten (= wöchentlich mehrere Besuche in der Familie) kombiniert. Henggeler et al. (2012)
Therapie: Multisystemische Ansätze Multisystemische Therapie Der Therapieaufwand ist sehr groß und beträgt bis zu 15 Stunden pro Woche. Die Therapie kann sich über Jahre erstrecken (incl. Auffrischungssitzungen). Wesentliches Ziel ist die Vermeidung von Straffälligkeit im Jugend- und Erwachsenenalter. Durchschnittliche Effektstärke: 0,55 Henggeler et al. (2012)
Ausblick Aggression unterscheidet sich in den Formen und der damit verbundenen Prognose. Aggression stellt die häufigste psychische Störung im Kindes- und Jugendalter dar. Frühe Anzeichen eröffnen Möglichkeiten zur Elternberatung und Prävention.
Ausblick Diagnostik ist ökonomisch möglich. Es existieren viele Therapieangebote für Kinder, Jugendliche und Eltern. Bei massiven Fällen ist eine Kombination von psychiatrischer Hilfe und Jugendhilfe Angeboten notwendig.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Literatur Bloomquist, M.L. & Schnell, S.V. (2005). Helping children with aggression and conduct problems. Best practices for intervention. New York: Guilford. Grassmann, D. & Stadler, C. (2009). Verhaltenstherapeutisches Intensivprogramm zur Reduktion von Aggression. Wien: Springer.
Literatur Henggeler, S.W., Schoenwald, S.K., Borduin, C.M., Rowland, M.D. & Cunningham, P.B. (2012). Multisystemische Therapie bei dissozialem Verhalten von Kindern und Jugendlichen. Heidelberg: Springer. Herpertz, S.C. & Saß, H. (2000). Emotional deficiency i and psychopathy. Behavioral Science and the Law, 18, 567-580.
Literatur Olsson, M. (2009). DSM diagnosis of conduct disorders (CD) a review. Nordic Journal of Psychiatry, y, 63, 102-112. Petermann, F. & Petermann, U. (2000). Erfassungsbogen für aggressives Verhalten in konkreten Situations (EAS) (4., überarb. u. neu norm. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.
Literatur Petermann, F. & Petermann, U. (2012). Training mit aggressiven Kindern (13., veränd. Aufl.). Weinheim: Beltz. Vloet, T.D. & Herpertz Dahlmann, B. (2011). Die Bedeutung von Ängstlichkeit für die Phänotypisierung dissozialer Störungen des Kindes- und Jugendalters. Ein Weg zu konsistenteren neurobiologischen Befunden? Zeitschrift ift für Kinder- und Jugendpsychiatrie i und Psychotherapie, 39, 47-57.