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LSB (Sankt Augustin) 47(2006)2, 147-150 Anke Abraham: Der Körper im biographischen Kontext. Ein Beitrag zur Wissenssoziologie des Körpers. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002. ISBN 3-531-13829-4, 496 S., 32,90. Der Körper und damit verbundene Praktiken, besonders die als fragwürdig eingestuften, wie Drogenmissbrauch, Ernährungsstörungen und Selbstverstümmelungen, Fitness- und Schlankheitskult, Tätowierungen, Piercings oder die Schönheitschirurgie, haben seit Jahrzehnten Hochkonjunktur im öffentlichen Diskurs. Auch in den Sozialwissenschaften und der Sportwissenschaft kann diese Hinwendung zum Körper beobachtet werden, was sich in einer steigenden Zahl von Publikationen zum Themenbereich Körper ausdrückt. Mit der Biographie verhält es sich ähnlich. Seit den 70er-Jahren rückt die Biographie immer mehr ins Zentrum sozialwissenschaftlicher sowie populärer Diskussionen, was sich u. a. in eigens eingerichteten Zentren für Biographieforschung bzw. an der Überschwemmung des Büchermarktes mit (Auto-)Biographien zeigt. Jedoch haben sich bislang wenige dem Versuch ausgesetzt, die beiden hochaktuellen Themen Körper und Biographie zusammen zu führen. Anke Abraham stellt sich in ihrer Habilitationsschrift diese Aufgabe. Genauer gesagt, möchte sie die soziologische Körperforschung und die soziologische Biographieforschung miteinander verbinden. Kein leichtes Unterfangen, wie sich zeigen wird, da eben jener Körper uns zwar so vertraut aber doch so schwer fassbar ist (Kap. 1.1). Gerade in der Sportwissenschaft, die es genuin mit Körperlichkeit zu tun hat, kann das Buch nützliche theoretische wie forschungsmethodische Einsichten zur Thematik bieten. Anke Abraham strebt in ihrer Forschungsarbeit an, "die soziale Präsenz des Körpers in einer bestimmten Kultur einzufangen und auch dies wiederum in einer spezifischen Weise: nämlich in Form jener mentalen sozialen Repräsentationen, die man auch als Alltagswissen bezeichnen könnte und über die alltagsweltlich handelnde Subjekte in dieser Kultur bezüglich des Körpers verfügen. (24) Um dies zu erfüllen, muss sie selber theoretische und methodologische Vorarbeit leisten. So verfolgt sie in ihrem Buch mindestens drei Ziele: Sie versucht (a) den Körper und Körperlichkeit (wissens-)soziologisch zu verorten, (b) anhand dessen ein theoretisch begründetes methodisches Instrumentarium für die empirische Analyse des Phänomens Körper im biographischen Kontext zu entwickeln und (c) empirische Daten mit Hilfe dieses Instrumentariums exemplarisch zu analysieren. Anhand der Auflistung der verschiedenartigen Anliegen wird ersichtlich, dass die Autorin damit leicht zwei Monographien hätte füllen 147

können. Sie wird ihrem hohen Anspruch auf den knapp 500 Seiten dennoch in vollem Umfang gerecht. Sie stellt einerseits umfassendes theoretisches Wissen in sehr gut strukturierter und verständlicher Form bereit. Andererseits zeigt sie, wie ausführliche hermeneutische Auswertungen textnah und nachvollziehbar entwickelt werden können. Das Buch ist in zwei Teile untergliedert, dem Theorieteil folgt ein Empirieteil. Im ersten Teil umreißt Anke Abraham die theoretischen Bezüge ihrer Forschungsarbeit. Ein Blick in die Kultur- und Sozialwissenschaften verrät der Autorin, dass der Körper im soziologischen Diskurs noch keinen festen Platz erhalten hat. Weder existiert eine ausgearbeitete Soziologie des Körpers (25), anhand derer man Forschungsfragen ableiten könnte, noch gibt es hinreichendes methodologische[s] Werkzeug zur Erhebung und Auswertung aussagekräftiger Daten zum Körper bzw. zur Körperlichkeit (27). Wie kann man also einen sprachlosen Körper sprachlich-kognitiv erfassen, ohne permanent an einem Übersetzungsproblem zu scheitern? (Kap. 1) Ausgehend von diesen Fragen sucht die Autorin beharrlich nach Erkenntnissen, die ihr bei der Erforschung des Körpers dienlich sein könnten. Sie spannt den Bogen von den philosophischen Ansätzen Schütz und Plessners (Kap. 2) über die wissenssoziologischen Ansätze von Berger & Luckmann und weiterführend Knorr-Cetina (Kap. 3) bis hin zu biographietheoretischen Ansätzen, besonders von Fischer & Kohli und Fischer-Rosenthal & Rosenthal (Kap. 4). Sie entwickelt schrittweise Kritik an den vorgestellten Positionen, wirft wichtige methodische Fragen auf und stellt weiterführende Überlegungen bezüglich ihrer eigenen empirischen Untersuchung an. Sie geht dabei immer klar strukturiert vor. Dies hilft auch Leserinnen und Lesern, die wenig vertraut mit den hier vorgestellten Theoriepositionen sind, sich einzulesen und der Argumentation zu folgen, ohne von den theoretischen Gedankengebäuden erschlagen zu werden. Dies regt zudem zum Weiterlesen der Originale an. Kapitel 5 steht im Zeichen der Verbindung von biographischem Wissen, autobiographischem Erinnern und Körperwissen. Ausgehend von der Qualität des Erinnerns und der Hierarchisierung von Erinnerungen fragt sie, wie Körperwissen abgespeichert und erinnert wird und wie implizites, körpergebundenes Wissen mit seinem nicht-textuellen Charakter dennoch sichtbar und reflektierbar gemacht werden kann. Dazu überlegt sie im Kapitel 6 wie der Forscherkörper als Erkenntnisquelle in der sozialwissenschaftlichen Forschung genutzt werden könnte. Sie weist darauf hin, dass die leiblich-affektive Wahrnehmung als ein anderer Zugang zum Verstehen (184) ein besonderes Potential birgt, welches jedoch kaum zur Kenntnis genommen wird. Die letzten beiden Kapitel des ersten Teils enthalten gerade für Forscherinnen und Forscher, die sich mit qualitativen Befragungen beschäftigen, reichhaltige Inspirationen. Im zweiten Teil stellt Anke Abraham ihr methodisches Vorgehen (Kapitel 1 & 2) und empirische Ergebnisse (Kap. 3 & 4) ihrer Forschungsarbeit vor, also die Erhebung und Interpretation jener subjektiven Wissensformen, die Menschen in unserer Gesellschaft bezüglich des biographischen Aufbaus ihres Lebens und bezüglich ihrer eigenen sowie der Körperlichkeit entwickeln (205). Die Autorin

nimmt mit Bezug auf die sozialwissenschaftliche Hermeneutik und ihr zugeordnete Verfahren, wie objektive Hermeneutik, narrative biographische Analyse und Deutungsmusteranalyse, die methodologische und methodische Verortung ihrer empirischen Forschungsarbeit vor. Die Datengrundlage bilden narrativ biographisch erhobene Interviews mit zehn Männern und acht Frauen der Jahrgänge 1905 bis 1935. Diese Interviews wertet die Autorin durch ein flexibles eigenes Vorgehen (263) aus. Dazu entwickelt sie, basierend auf Verfahren der objektiven Hermeneutik und soziologischen Biographieforschung, ein mehrschrittiges Analysemodell. Sie strukturiert die Fälle grob nach Lebensläufen und thematischen Gewichtungen (Bildung/Beruf, Beziehung, Körper, Gefühl). Dann erfolgt die möglichst kontrastreiche Fallauswahl. Anschließend werden die Eingangssequenzen der ausgewählten Fälle sequenzanalytisch interpretiert, der gesamte Text narrationsanalytisch ausgewertet und einzelne Textpassagen wiederum sequenzanalytisch interpretiert. Die folgenden mehr als 200 Seiten des Buches widmen sich den so entstandenen Auswertungen des empirischen Materials. Anke Abraham stellt anhand von fünf ausführlichen Einzelfallanalysen Lebensgeschichten und Körpergeschichten (268) vor, die als prototypisch im Hinblick auf geschlechtsspezifische Umgangsweisen mit dem Körper gelten können [ ] und weil bei ihnen der Körper in einer besonderen Weise thematisch wird (268). Jeder Fall stellt einen anderen Bezug von Körper/Körperlichkeit und Lebensgeschichte dar. Die Autorin zeigt, dass es möglich ist, Einzelfallanalysen auf unterschiedliche Weise zu präsentieren. Dies hat weder Informationsverlust zur Folge, noch leidet die Nachvollziehbarkeit der Interpretationen oder die Vergleichbarkeit der thematischen Fokussierungen darunter. Herr D. verfügt über einen relativ eindimensionalen, auf Leistung fixierten Zugang zu seinem Leben und auch zu seinem Körper, was zum Problem wird, als ein massives Herzleiden auftritt. Frau C. hat ein einerseits ambivalentes Verhältnis zu ihrem Körper, da sie ihn als Quelle des Leidens, aber zugleich als Bereitsteller von Kraft und Energie für die Überwindung dieser Leiden erlebt. Andererseits ist er für sie wichtiger Bezugspunkt ihrer Identität. Frau F. trägt ihren Körper als Panzer nach innen und außen. Herr H. zerstört seinen Körper und benutzt ihn, um seine Sehnsucht nach Infantilität (376) zu erfüllen. Frau E. erlebt ihren unweiblichen Körper (383) als Ursache für Zurücksetzung und Verunsicherung, aber auch als Quelle ihres Selbstbewusstseins. Alle fünf Falldarstellungen ermöglichen einerseits, in die jeweiligen Lebensgeschichten einzutauchen und andererseits dem Analyseprozess der Autorin Schritt für Schritt zu folgen und kritisch nachzuvollziehen. In Kapitel 4 verlässt Anke Abraham die Ebene des Einzelfalls und geht zu fallübergreifenden Analysen über. Diese verortet sie in der Konzeption des Wissens in der alltäglichen Lebenswelt von Alfred Schütz, da sich die Frage nach körperbezogenen Diskursen und Deutungsmustern [...] stimmig in diese Konzeption einfügen (420) lässt. So bieten Schütz Differenzierungen des Wissensvorrates etwa Anregungen zur Strukturierung des körperbezogenen Wissens (422), welches die Autorin im Folgenden als körperbezogene Diskurse und Deu- 149

tungsmuster anhand des empirischen Materials herausarbeitet. Ergebnisse ihrer Interpretationsarbeit sind zum Beispiel, dass der Körper als Gegenstand betrachtet oder auch personifiziert und beseelt wird, dass er als Werkzeug und auf sein Funktionieren hin wahrgenommen wird, dass er Irritationen auslöst, dass er kontextualisiert werden muss, um zur Sprache zu kommen oder dass er mit sozialen Kontexten oder Feldern, wie z. B. Sexualität, Krankheit/Gesundheit/körperliche Leistungsfähigkeit, sportiver oder ästhetischer Bewegung verankert ist (471). Anke Abraham zeigt in ihren Analysen, wie eng der Körper mit sozialen Deutungen, Erwartungen und Setzungen verbunden ist (479) und sie zeigt gleichsam, wie man diesen auf die Spur kommen kann. Nach der Lektüre des Buches bleibt der Eindruck auf allen Ebenen voll auf die Kosten gekommen zu sein; angefangen von einem durchgängig sehr guten Schreibstil und der überlegten Strukturierung, über die schlüssige Darstellung des theoretischen Rahmens und der methodologischen und methodischen Implikationen bis hin zu den ausführlichen, gut nachvollziehbaren Interpretationen. Offen bleibt, warum sich die Autorin in ihrem Überblick der Erforschung des Körpers in den Kultur- und Sozialwissenschaften (Kapitel 1.2) vorwiegend auf den deutschen Sprachraum bezieht und nicht stärker auf internationale Untersuchungen eingeht. 1 Wichtige Impulse für die Erforschung des Körpers werden dadurch übergangen. Das Buch ist jedem zu empfehlen, der sich aus sozialwissenschaftlicher Perspektive für das Phänomen Körper interessiert, da es eine gebündelte Darstellung einschlägiger Theorien und deren kritische Rezeption bietet. Die Arbeit eignet sich des Weiteren für alle, die qualitativ empirisch forschen. Die Autorin gibt wichtige Anregungen dafür, wie man sich Körperwissen/Körpererfahrung nicht nur im biographischen Kontext methodisch nähern kann. Auch zeigt sie, wie man den Forschungsprozess offen legen und somit nachvollziehbar und plausibel halten kann. Dabei thematisiert sie erfrischend offen theoretische und forschungsmethodische Probleme und bietet Lösungen dafür an, ohne deren Grenzen zu verschweigen. Katrin Albert (Leipzig) 1 Einen Überblick zu internationalen Studien gibt z. B. Tanner in International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences, 2001, S. 1279-1281.

LSB (Sankt Augustin) 47(2006)2, 151-158 Nadja Haverkamp: Typisch Sport? Der Begriff im Lichte der Prototypenmodelle. (Berichte und Materialien, Bd. 4, hrsg. v. Bundesinstitut für Sportwissenschaft). Köln: SPORT und BUCH Strauß 2005. ISBN-Nr. 3-89001-404-6, 282 S., 17,50 Typisch Sport? ist eine ausgezeichnete Abhandlung, in welcher eine Antwort auf die Frage gegeben wird, was unter dem Begriff Sport verstanden werden kann. Sie ist deshalb ausgezeichnet, weil sie sowohl erkenntnistheoretisch wie auch objekttheoretisch und methodisch umsichtig durchdacht und argumentativ auf hohem Reflexionsniveau angesiedelt ist, und weil sie was alles andere als selbstverständlich ist stets von einem Ethos zurückhaltender und distanzierter Sachlichkeit getragen ist. Mit Typisch Sport? dürfte Nadja Haverkamp in der Sportwissenschaft den ersten wissenschaftlich anspruchsvollen Versuch vorgelegt haben, in einem Verbund von Kognitiver Linguistik, Sprachphilosophie und Empirie die Bedeutung des Begriffes Sport und damit den Gegenstandsbereich der Wissenschaft vom Sport einer umfassenderen Analyse unterzogen zu haben. Derartige kompetente Klärungshilfen sind vor allem in einer Zeit der akademischen Verunsicherung, was man unter Sport verstehen und wie man das bestimmen kann und soll, von besonderer Bedeutung. Typisch Sport? entstand im Rahmen des Forschungsprojektes Sport eine interdisziplinäre Begriffsanalyse, welches vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft in den Jahren 2002 und 2003 gefördert und von Klaus Willimczik geleitetet worden ist. Das ist auch einer der Gründe dafür, dass der dieser Abhandlung zugrundegelegte und durchgängig maßgebende Denkstil der der Integration bzw. Interdisziplinarität ist (vgl. Willimczik 2001, 2003). Man kann diesen Denkstil als rational reflektierten Kommensurabilismus bezeichnen, da er wissenschaftstheoretisch begründet von einer weitgehenden, kriterienbedingten Vereinbarkeit unterschiedlicher Theorien ausgeht. Er unterscheidet sich dadurch wohltuend von dem in der Sportwissenschaft immer noch vorherrschenden naiven Kommensurabilismus, welcher dem gefälligen Mythos grenzenloser Vereinheitlichung von Konzepten, Theorien, ja ganzer Disziplinen verfallen ist. Aus diesem so geschulten Blickwinkel behandelt N. Haverkamp zunächst in einem Theoretischen Teil die konzeptionellen Grundlagen des Prototypenmodells, um dann, darauf aufbauend, in einem Empirischen Teil ein stimmiges Untersuchungs-Programm zu entwickeln und auf den Begriff Sport anzuwenden. Im Folgenden wird vorrangig auf die konzeptionellen Grundlagen eingegangen. 151

(1) Zum theoretischen Teil der Abhandlung Im Theoretischen Teil (Kap. 2- Kap. 6) erkennt die Autorin sehr genau (vgl. insbes. Kap. 3), mit welchen Problemen man es zu tun hat, wenn man auf der Grundlage intersubjektiv nachvollziehbarer Begründungen ein interdisziplinär angelegtes Prototypenmodell zur Bedeutungsanalyse des Begriffes Sport anwenden und dessen konzeptionelle Komponenten (semantische, pragmatische und kognitiv-empirische Aspekte; s. u.) zur Systematisierung und Analyse vorliegender Bestimmungen zum Begriff Sport in Anschlag bringen möchte. Dazu müssen Kriterien für disziplinüberschreitende Kommensurabilität von Theorien angegeben und begründet werden. Als rational reflektierende Kommensurabilistin plädiert die Autorin dafür, dass die Referenzbereiche der Begriffe und die Folgerungsbeziehungen erhalten bleiben (S. 20), d. h. dass eine gelingende Übersetzbarkeit garantiert ist. Was versteht man unter einem Prototypenmodell? Es stellt einen komplexen Forschungsansatz aus Psychologie, Linguistik und Philosophie dar. Sein Ziel ist es, mithilfe empirischer Forschungsmethoden im Sinne einer lexikalischen Semantik Bildung und Struktur, mithin die Bedeutung von Bergriffen zu analysieren. Das Prototypenmodell ist trotz seiner interdisziplinären Struktur als ein rein kognitionspsychologisches und damit gehirnfunktionales Modell zu begreifen (vgl. Abb. 3 auf S. 47). In der Kognitiven Linguistik (S. 41ff.) wird der Sprachgebrauch mithilfe individueller kognitiver Prozesse der Perzeption, Repräsentation, Speicherung, Abruf und Verarbeitung von Informationen erklärt. Die bedeutungsstiftende Kategorisierung und die Bildung von Begriffen werden als konstruktive Aktivitäten des Gehirns verstanden 1. In das so verstandene Prototypenmodell werden ganz unterschiedliche, teils widersprüchliche und deshalb entsprechend modifizierte (sprach-)philosophische Partial-Konzepte integriert. Dabei finden zunächst Konzepte der Analytischen Philosophie der Idealsprache, insbesondere aus Freges sprachlogischer, kontextunabhängiger, wahrheitsfunktionaler Semantik Berücksichtigung (S. 28ff.). Es handelt sich dabei um die Unterscheidung von Intension (Art des Gegebenseins der Gegenstände; Bedeutung) und Extension (Bezugsgegenstand; Referenzbereich) sowie um eine graduell erweiterte Variante der Wahrheitsfunktionalität. 2 Zu dieser wahrheitsfunktionalen Komponente werden zusätzlich zwei Prinzipien einer rekursiven Semantik für die zu analysierenden lexikalische Einheiten eines sprachlichen Ausdrucks berücksichtigt (S. 33). Sie ermöglichen es, Bedeutungen einzelner Wörter also z. B. Sport isoliert und nicht im Kontext von ganzen Sätzen, Texten oder ganzen Sprachen zu erschließen. Es sind dies das Kompositionalitäts-Prinzip, 3 nach welchem der semantische (Wahrheits-)Wert eines komplexen 1 Vgl. S. 43ff.; vgl. u. a. Arbeiten der Autoren Eckes, Eckes & Six; Kleiber; Lakoff; Rosch; Rosch & Mervis; Strohner; Schwarz. 2 Begriffe bzw. Sätze werden als Funktionen aufgefasst, welche durch Einsetzen von Argumenten Wahrheitswerte zugeschrieben werden. 3 Ein solches findet sich auch bei Frege.

Ausdrucks eine Funktion der semantischen (Wahrheits-)Werte seiner einzelnen einfachen Ausdrücke ist, und das Wertzuweisungs-Prinzip, nach welchem (fast) jedem einfachen Ausdruck ein semantischer (Wahrheits-)Wert zukommt (S. 33). Neben diesen Konzepten der Idealsprache werden auch Konzepte der Analytischen Philosophie der Normalsprache integriert, speziell aus Wittgensteins sprachpragmatischer, kontextabhängiger, tätigkeitsfunktionaler Sprachgebrauchsthese. So soll durch die Aufnahme des Familienähnlichkeits-Konzepts (S. 34ff.) das sprachlogische, wahrheitsfunktionale Konzept pragmatisiert, konventionalisiert, historisiert werden. Diesem Konzept wird im Rahmen des Prototypenmodells große Bedeutung zugemessen (vgl. z. B. Kleiber), da es erlaubt, den Vagheiten, Unschärfen von Begriffsbedeutungen, mithin den Ungeregeltheiten im Sprachgebrauch, Rechnung zu tragen und damit die empirische Reichweite des Prototypenmodells entscheidend zu erhöhen (S. 48). Damit wird davon ausgegangen, dass nicht ein bestimmtes Merkmal allen Begriffen, die zu einer Klasse gehören, zukommen muss. Begriffe können nun auch durch irgendwelche sich kreuzenden und übergreifenden Ähnlichkeitsmerkmale miteinander verbunden sein, so wie die Mitglieder einer Familie, die z. B. nicht alle grüne Augen haben müssen (vgl. Wittgenstein 1994b; Drexel 2002, 43ff.). N. Haverkamp diskutiert nun notwendigerweise kritisch einige wichtige Aspekte der Unterschiede zwischen den damit ins Modell integrierten Begriffstheorien, welche einerseits dem sprachphilosophischen Behaviorismus zuzuordnen seien (Frege und Wittgenstein; vgl. S. 43 und S. 48) und andererseits der Kognitiven Psychologie (Prototypenmodell). Sie kommt zu dem Schluss, dass zwar zwischen denselben bezüglich des Bedeutungs- und Wahrheitsbegriffs lokale Inkommensurabilitäten bestünden, damit aber gleichwohl den Kriterien der Kommensurabilität Genüge geleistet werde (Erhalt der Referenzbereiche der Begriffe und der Folgerungsbeziehungen in den betreffenden Theorien; S. 20). Dadurch sei die empirische Potenz dieser Theorien positiv zu beurteilen und Theorien mit inkommensurablen Begriffen seien ohnedies vergleichbar. Die damit vorgenommene Integration behavioristischer Konzepte in die Kognitive Psychologie könne im Anschluss an die kognitive Wende, d. h. nach der Ablösung des Behaviorismus durch den erklärungs-potenteren Kognitivismus, 4 als Element des progressiven Forschungsprogramms der Psychologie im Sinne Lakatos begriffen werden (S. 48). Es könne unter bestimmten Voraussetzungen davon ausgegangen werden, dass in diesem Falle eine nicht-reduktive Theorienersetzung vorliege, d. h. eine Ersetzung, bei welcher die zentralen Begriffe in ihrer Bedeutung nicht aufeinander zurückgeführt werden könnten, sondern einem Wandel im Sinne der kognitiven Wende unterlägen (S. 49). 4 Auf diesem Hintergrund ist nach N. Haverkamp auch die ältere, sog. Standardauffassung, das (Kategorisierungs-)Modell der notwendigen und hinreichenden Bedingungen, durch das Prototypen-Modell mit dem integrierten Familienähnlichkeits-Konzept zu verstehen. 153

Wenn nun einige kritischen Fragen zur konzeptionellen Grundlegung des Prototypenmodells angeführt werden, so verbergen sich dahinter Einwendungen eines fiktiven und doch als betroffen vorstellbaren Inkommensurabilisten: die des Ludwig Wittgensteins. Der Grund dafür liegt in Folgendem: Wie Teile von Gottlob Freges mathematisch-logischer und explizit antipsychologischer Sprachtheorie so wurden auch Teile seiner späten antikognitivistischen Philosophie im Prototypenmodell einer Psychologisierung unterzogen. Wittgenstein kannte Frege sehr gut und hatte sich mit ihm sowohl positiv als auch negativ, insbesondere in seinem epochemachenden, idealsprachlich orientierten Tractatus logico-philosophicus (1984a; Vorwort: 1918) auseinandergesetzt. Zudem hatte er mit den Philosophischen Untersuchungen (1984b; Vorwort: 1945; PU), welchem das Familienähnlichkeitskonzept entstammt, auch einen äußerst einflussreichen normalsprachlich orientierten Entwurf vorgelegt. Damit kann der späte Wittgenstein imaginär als ausgewiesener Kenner der in das Prototypenmodell integrierten Konzepte betrachtet werden, auch wenn er von der kognitiven Wende unberührt bleiben musste (usw.). Ein ziemlich sanft gestimmter Wittgenstein könnte einem vorgestellten Gesprächspartner genau so, wie er es in seinen Schriften immer wieder tat vermutlich folgende Fragen gestellt haben: Warum wird in diesem Forschungsansatz davon ausgegangen, man könne Partialkonzepte aus anderen Gesamtkonzeptionen 5 importieren? Warum werden diese nicht auf dem gesamten Hintergrund des Originals verstanden? Wäre dann auch noch von Kommensurabilität auszugehen? Liegen mit diesen Betrachtungen bzw. Theorien, die ausdrücklich als antipsychologisch zu verstehen sind, nicht deshalb schon inkommensurable Sprachspiele zugrunde? Und muss man mich schon wegen dieses Antipsychologismus als Behaviorist bezeichnen? Dazu habe ich mich eindeutig in den PU, z. B. im 307 und 308, geäußert. Sind nicht alle Begriffe wie Sprache, Sprachspiel, Gebrauch, Regel, Gedanke, Bedeutung, Verstehen, Empfindung, Familienähnlichkeit usw. im Prototypenmodell ganz anders als in meinen PU zu verstehen? Jedenfalls verstehe ich unter all diesen Begriffen nichts, was nur auf Psychologisches oder Kognitives reduziert werden könnte. Warum sollten mir z. B. beim Denken in einer Sprache noch zusätzliche kognitive Prozesse und Repräsentationen von Bedeutungen vorschweben, wenn die Sprache doch selbst das Vehikel des Denkens ist? Und fordert nicht Frege in den Grundlagen der Arithmetik (1884) sogar ausdrücklich eine strenge Unterscheidung zwischen dem Psychologischen und dem Logischen? Fordert er nicht eine konsequente Eliminierung jeglicher subjektiven Vorstellung? Fasst er nicht den Gedanken geradezu platonistisch als etwas rein Objektives eines eigenen Reiches auf, als etwas, das den Träger eines Bewusstseinsinhaltes nicht bedarf? Sagte er nicht, man solle das Gedachtwerden eines Satzes nicht mit der Wahrheit verwechseln? Und habe ich nicht ausdrücklich vorgeschlagen, dass man den Gebrauch des Wortes Vorstellung zu untersuchen habe, wenn man etwas 5 Wittgenstein bezeichnet z. B. in den Philosophischen Untersuchungen seine Betrachtungen als Beschreibungen, nicht als (erklärende) Theorien, welche ohnedies zu eliminieren seien (vgl. 109).

darüber in Erfahrung bringen möchte, was man unter einer solchen zu verstehen habe? Haben dann alle die erwähnten Begriffe nicht eine ganz andere Referenz? Können diese Begriffe dann noch zureichend übersetzt werden? Nochmals: Müssen da nicht die betreffenden Gesamtkonzeptionen zum angemessenen Verständnis dieser Begriffe eine entscheidende Rolle spielen? Ändern sich mit den Sprachspielen nicht die Bedeutungen der darin verwendeten Worte? Ergäbe sich dann daraus nicht auch eine ganz andere Vorgehensweise, um Begriffe verständlich zu machen, z. B. keine theoriefundierte, psychologische empirische Erklärung, sondern eine grammatische Beschreibung, die sich an der regelgeleiteten Verwendungsweise der Begriffe orientiert? Ich sagte einmal: Denk nicht, sondern schau!. Sollte man dabei nicht an meine Betrachtung der Spiele als Analogie zur Sprache denken? Könnte diese nicht ein Muster für die Vorgehensweise abgeben? Schon deshalb, weil dabei ja auch auf sportliche Betätigungen Bezug genommen wird?... Was geschieht da, wenn man auf diese Weise integrierend mit meinen Gedanken umgeht? Sind das noch meine? Ich erkenne sie jedenfalls nicht mehr als die meinigen bzw. auch nicht mehr als die Freges. Ich erkenne nur noch ent- und dann fremdkontextualisierte Buchstabenskelette, die gelegentlich mit einem Täfelchen versehen worden sind, auf dem mein Name oder der Freges steht... Das sind ihrer ursprünglichen Bedeutung beraubte irreführende Begriffs-Deformationen. Das wirkt auf mich sehr befremdend. Wenn man schon meine Betrachtungsweise nicht im Ganzen übernehmen möchte, warum entwickelt man dann nicht einfach eine neue in sich und aus sich heraus stimmige, ganz andere Beschreibung für die zu untersuchenden Phänomene?... Nun wäre es völlig verfehlt, ginge man davon aus, dass sich N. Haverkamp als rational reflektierte Kommensurabilistin nicht auch alle diese Frage gestellt hätte oder gestellt haben könnte und einen Bedeutungswandel der Begriffe übersehen hätte (vgl. S. 41ff. und S.48f.), doch sind die Betrachtungsweisen und damit die Grenzziehungen bezüglich Unterschiedlichkeiten, Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen bei Angehörigen des Kommensurabilismus offensichtlich anders als bei Angehörigen des Inkommensurabilismus. Wenn die einen Fragen stellen, glauben die anderen sie schon beantwortet zu haben. Wo die einen Inkommensurabilitäten sehen, glauben die anderen längst Kommensurabiltäten entdeckt und nachgewiesen zu haben. Man ist geneigt zu sagen: Kommensurabilitäten sind der blinde Fleck der Inkommensurabilisten und umgekehrt. Und dies hat Folgen: Da es keine richtende Meta-Instanz geben kann, 6 kommt der Dialog zum Stillstand. Man kann dies als einen Beleg für Inkommensurabilität in der Praxis auffassen. Und dies ist eine Feststellung, kein Urteil. (2) Zum empirischen Teil der Abhandlung Die sorgfältige, umfassende und äußerst informative Analyse des Begriffes Sport (S. 50ff.) im Rahmen vorliegender Konzepte 7 erfolgte bezüglich dessen semanti- 6 Das würde zu einem unendlichen Regress führen. 7 Dazu gehören vor allem Auffassungen von Sportorganisationen und Auffassungen im Rahmen der Sportwissenschaft. 155

schem Aspekt (Extension: Sportbetätigungen; Intension: motorische Aktivität, Nähe zum Spiel, Leistung und Wettkampf), dessen pragmatischem Aspekt (statische und dynamische Vagheit: Undefinierbarkeit) und dessen Untersuchung als empirischem Gegenstand (insbes. Anwendungen des Prototypenmodells 8 : Sport als kognitives Konzept mit Vagheit und zentralen Instanzen). Damit hat diese Analyse neben dem Befund, dass der Begriff Sport ein Familienbegriff ist, Folgendes ergeben: 1. dass das bislang angewandte Prototypenmodell die vorliegenden Konzepte zum Begriff Sport systematisch integrieren kann und 2., dass es für eine nachfolgende empirische Studie zur Entdeckung und Beschreibung der alltagssprachlichen Struktur des Sportbegriffs in einer etwas modifizierten Form (z. B. mehr Analyseebenen, mehr Nachbarbegriffe zum Vergleich mit Sport, heterogenere Personenstichproben) bestens tauglich ist (S. 73). Für das Verständnis des empirischen Teils (Kap. 7 10) ist folgende Terminologie bedeutsam (S. 22ff.): Begriffe werden als Ergebnisse von Kategorisierungsprozessen verstanden. Dabei wird unter Prototyp einer Kategorie ein Gegenstand verstanden, der typische Eigenschaften aufweist. Begriffe werden ihrem Umfang nach (Extension) als nur vage bestimmt, d. h. als nur unscharf abgegrenzt, aufgefasst. Ihnen ist Zentralität zu eigen, d. h. dass Begriffe zentrale Instanzen (Kernbereiche) haben, welche die Kategorie als Ganzes repräsentieren (S. 24). Innerhalb einer Kategorie können Exemplare als weniger oder mehr typisch eingestuft werden. Dies kann mit der Cue Validität, der Kennziffer für die Intension (Bedeutung) einer Kategorie, festgestellt werden. Die Typikalität ist demgegenüber eine Kennziffer für die Extension (Referenzbereich) einer Kategorie. Beide Kennziffern bilden die prototypische Struktur von Kategorien ab, operationalisieren sie. Der empirische Teil ist bis in alle Einzelheiten durchdacht und durchgerechnet, in einer Fülle von übersichtlichen Tabellen dargestellt und durch eigenständig entwickelte methodische Elemente 9 angereichert. Er besteht aus einer Voruntersuchung (S. 77ff.) und aus zwei Hauptuntersuchungen (HU). Die ausführliche Voruntersuchung (Assoziationsanalyse und Expertenrating) diente in erster Linie zur Entwicklung der Methoden und schaffte einen sicheren Boden für die erste Hauptuntersuchung zur Abgrenzung des Begriffs Sport (S. 132ff.) und für die zweite zur Binnenstruktur des Begriffs Sport (S. 184ff). Beide Hauptuntersuchungen sind wie auch die Voruntersuchung systematisch aufgebaut: konkrete Problemstellungen mit den zu prüfenden Null-Hypothesen, dann Untersuchungsmethodik, Ergebnisse und Diskussion. Die Problemstellungen umfassten Zusammenhänge zwischen den intensionalen Merkmalen, Gruppenfindung, Wechselwirkung von Intension und Extension sowie Entdeckung der intensionalen und extensionalen Struktur 10 (S. 132ff.). Die Datenverarbeitung erfolgte mithilfe geeigneter Software. 8 Hierbei sind die Untersuchungen von Rosch, Armstrong u. a. sowie Eckes berücksichtigt. 9 Es handelt sich hierbei um zwei Berechnungsvorschriften für Typikalität vgl. (S. 93ff.). 10 Bei der 2. HU betrifft das die Binnenstruktur des Begriffes Sport.

Die 1. HU zur Abgrenzung des Begriffes Sport umfasste eine Personenstichprobe von 70 Probanden. Die Datenerhebung erfolgte mittels eines Fragebogens, der partiell in Teilfragebögen zu beantworten war. Zuerst mussten 40 intensionale Merkmale, wie Abenteuer, Freizeit oder Wellness 40 Tätigkeiten aus den 5 Kategorien Sport, Arbeit, Spiel, Kunst und Gesundheitspflege zugeordnet werden, z. B. zu Boxen, Busfahrer, Billard, Ballett oder Sauna. Dann musste ein Typikalitätsrating durchgeführt werden. Dazu war der Grad der Typikalität der 40 intensionalen Merkmale (s. o.) bezüglich der 5 Kategorien einzuschätzen. Dies hatte wie bei allen derartigen Ratings mithilfe einer mehrstufigen Likert-Skala zu geschehen. Bei der 2. HU zur Binnenstruktur des Begriffs Sport wurde mit zwei Personenstichroben aus 82 bzw. 37 Personen sowie mit zwei Fragebögen, die auch partiell in Teilfragebögen vorgelegt wurden, gearbeitet. Die zwei Fragebögen beinhalteten insbesondere eine intensionale Einschätzung der 40 sportlichen Aktivitäten, eine Einschätzung der eigenen sportlichen Betätigung sowie Typikalitätsratings, bei denen u. a. die Typikalität aller 40 Aktivitäten (s. o.) für die Sportmodelle des traditionellen, des kommerziellen/professionellen und des medienwirksamen Sports sowie des Freizeit-, Gesundheits-, Erlebnis- bzw. Alternativ- und des Natursports einzuschätzen. Die für die Sportwissenschaft und den Sport gleichermaßen bedeutsamen Ergebnisse können wie folgt zusammengefasst werden (S. 261ff.): Der im Alltag gebrauchte Begriff Sport gehört wie die Begriffe Arbeit, Kunst, Spiel und Gesundheitspflege zum Gegenstandsbereich menschlicher Tätigkeiten. Alle diese Begriffe werden intensional wie extensional durch Ähnlichkeitsbeziehungen voneinander unterschieden. Die Struktur dieser Begriffe ist durch Vagheit und Zentralität gekennzeichnet und damit nur auf einer graduellen Logik abbildbar. Intensional zeigt sich dies u. a. daran, dass für Arbeit und Sport die Merkmale Leistungsdruck und Stress typisch sind, für Sport und Kunst Publikumswirksamkeit, Ästhetik und Anerkennung und für Sport und Spiel nicht z. B. Zweckfreiheit und Freiwilligkeit, sondern Wettkampf, Spannung und Regelgebundenheit. Zur Unterscheidung zu den anderen Tätigkeitsbereichen eignet sich insbesondere der Leistungssport. Er stellt eine zentrale Instanz des Sportbegriffs dar und ist durch die stark typischen Merkmale Wettkampfcharakter, Verletzungsgefahr, Aggressivität, Publikumswirksamkeit und Anforderungen gekennzeichnet. Extensional wird er vor allem mit traditionellen und professionellen Sportarten wie Boxen, Handball, Turnen und Leichtathletik in Verbindung gebracht. Die in den Sportmodellen 11 darüber hinaus aufgenommenen Sportbereiche, z. B. der kommerzielle und der traditionelle Sport, lassen sich nicht weiter unterscheiden. Deren Merkmale, z. B. Kommerz und Professionalität, werden teilweise in den Begriff Leistungssport integriert. Neben dem Leistungssport finden sich noch weitere Kernbereiche in der Binnenstruktur des Sportbegriffs, und zwar der Gesundheitssport, der künstlerische Showsport, sportnahe Hobbys und der Erlebnissport. Auch diese Bereiche sind untereinander familienähnlich vernetzt. So ist 11 Vgl. dazu die Sportmodelle von Digel und Heinemann. 157

z. B. der künstlerische Showsport, zu dem extensional Eiskunstlauf, Ballett, Jonglieren und Akrobatik (!) gerechnet werden, wie der Wettkampfsport auch durch das typische Merkmal publikumswirksam gekennzeichnet (usw.). Mit dieser Abhandlung hat N. Haverkamp in ganz ausgezeichneter Weise dazu beigetragen, das Reflexions-Niveau im Diskurs um den Begriff Sport zu erhöhen. Sie hat die sprachtheoretische Diskussion um die wissenschaftsphilosophische Dimension der Kommensurabilität/ Inkommensurabilität angereichert. Da jedoch ihre theoretische Grundlegung in Form einer Integration extrem divergenter Paradigmen erfolgte, dürften eingefleischte Inkommensurabilisten auch weiterhin hartnäckig auf ihren Positionen verharren. Darüber hinaus hat N. Haverkamp das Prototypenmodell methodisch verbessert und dessen Anwendungsbereich erweitert. Im Rahmen der Sportwissenschaft dürfte der reflektierte Gebrauch des Begriffs Sport nun nicht mehr ohne Rücksicht auf diese Abhandlung erfolgen können. Es ist aber zu bedenken, dass das Prototypenmodell worauf der Untertitel dieser Abhandlung trefflich hinweisen kann nur ein Licht ist, welches auf den Begriff Sport gerichtet worden ist. Nach dem noch im Dunkeln Liegenden sollte nach den nun gesetzten Maßstäben weiterhin gesucht werden, auch mit anderen Lichtern. Literatur Frege, G. (1961). Die Grundlagen der Arithmetik. Eine logisch-mathematische Untersuchung über den Begriff der Zahl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Drexel, G. (2002). Paradigmen in Sport und Sportwissenschaft. Schorndorf: Karl Hofmann. Willimczik, K. (2001). Sportwissenschaft interdisziplinär. Ein wissenschaftstheoretischer Dialog (Bd. 1). Geschichte, Struktur und Gegenstand der Sportwissenschaft. Hamburg: Cwalina. Willimczik, K. (2003). Sportwissenschaft interdisziplinär. Ein wissenschaftstheoretischer Dialog (Bd. 2). Forschungsprogramme und Theorienbildung in der Sportwissenschaft. Hamburg: Cwalina. Wittgenstein, L. (1984a). Tractatus logico-philosophicus. In L. Wittgenstein (Hrsg.), Tractatus logico-philosophicus (Tagebücher 1914 1916, Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Bd. 1, S. 7-85). Frankfurt/M.: Suhrkamp. Wittgenstein, L. (1984b). Philosophische Untersuchungen. In L. Wittgenstein (Hrsg.), Tractatus logico-philosophicus. (Tagebücher 1914 1916, Philosophische Untersuchungen,. Werkausgabe Bd. 1, S. 225-580). Frankfurt/M.: Suhrkamp. Gunnar Drexel (Tübingen)

LSB (Sankt Augustin) 47(2006)2, 159-161 Christina Müller, Ralph Petzold: Bewegte Schule. Aspekte einer Bewegungserziehung in den Klassen 5 bis 10/12. Sankt Augustin: Academia 2006. ISBN 3-89665-374-1, 352 S., 27,50 Bewegte Schule für viele Grundschulen kein Problem, aber danach? Wir haben keine Zeit für Spielchen, müssen Wissen vermitteln und das geht effektiv nur in Ruhe! Bewegung gehört in den Sportunterricht! Die Berechtigung dieses häufig anzutreffenden Vorurteils von Lehrern weiterführender Schulen gegenüber Bewegter Schule demontieren beide Autoren mit diesem Buch. Sie zeigen in einer umfangreichen Längsschnittstudie auf, welche Vorteile Bewegung im Unterricht für das gemeinsame Lernen hat. Die Ergebnisse des wissenschaftlich begleiteten Praxistests liefern für Akademiker, Lehrer, Lehramtsstudenten und Eltern gleichermaßen schlagkräftige Argumente für Bewegte Schule. Ausgehend vom konstatierten Bewegungsmangel der jungen Generation entwickeln die Autoren ein didaktisches Konzept, Bewegung als integrativen Bestandteil der Schulwirklichkeit zu installieren. Das Fundament bilden Erfahrungen aus wissenschaftlich begleiteten Bewegten Grundschulen. Diese werden für die Bausteine Unterricht, Pausen, Schulleben und Freizeit für Schüler der Klassen 5 bis 10 weiter entwickelt. Die zahlreichen Anregungen und konkreten Beispiele, wie Bewegung wirkungsvoll in die Schulpraxis integriert werden kann, werden in der Praxis einer Überprüfung hinsichtlich ihrer tatsächlichen Wirkungen unterzogen. Detailliert werden Auswirkungen auf alle Beteiligten diskutiert und machen Mut, ein solches Schulkonzept in Angriff zu nehmen. Menschen erschließen und gestalten ihre Umwelt durch Bewegung. Sie ermöglicht ihnen, sich selbst und andere wahrzunehmen, sich immer größere Räume anzueignen, Beziehungen aufzubauen. Diese anthropologischen Grundannahmen wurden jedoch in der Schule lange vernachlässigt. Bewegung scheint das Privileg des Sportunterrichts zu sein, ihre Bedeutung für Lernen, Persönlichkeitsentwicklung und soziales Klima ignoriert der Schulalltag häufig. Kapitel 1 setzt sich deshalb zunächst ausführlicher mit diesen Seiten der Bewegung auseinander. Anknüpfend an den Bewegungsdrang der Kinder kommt nicht nur die gesundheitsfördernde Wirkung von Bewegung zur Sprache. Es wird auch aufgezeigt, dass schulische Probleme Aggressivität, Demotivation, fehlendes Selbstwertgefühl, um nur einige zu nennen oft eine Ursache im Mangel an Bewegungsmöglichkeiten haben. Hieraus erwächst die Hauptzielrichtung des Bewegten Schulkonzepts beider Autoren: Die Ganzheitlichkeit des Schülers bei seiner Entwick- 159

lung zu betrachten bedeutet, ihm genügend Bewegungsraum zu lassen. Denn Bewegung unterstützt die kognitive, soziale, emotionale, motorische, körperliche und psychische Entwicklung in jeder Altersstufe. Grenzen des Konzepts sehen die Autoren vorwiegend im gesellschaftlichen Umfeld und den Gewohnheiten von Lehrern und Eltern. Letztere zu überwinden kann das Buch helfen, zumal konkrete Möglichkeiten aufgezeigt werden, Bewegung in den Schulalltag zu bringen. Bei Bewegung im Unterricht denkt jeder unweigerlich an das Fach Sport. Im Kapitel 2 jedoch wird es bewusst vernachlässigt. Alle anderen Fächer rücken in den Mittelpunkt. Bewegungsanregung wird somit als Aufgabe aller Fachlehrer begriffen. Bewegtes Lernen, dynamisches Sitzen, Auflockerungsminuten, Entspannungsphasen, bewegungsorientierte Projekte und individuelle Bewegungszeiten heißen die Zauberformeln, mit denen Bewegung in den Sitzunterricht gelangt. Ausgehend von den jeweiligen Begriffsklärungen, mit der Bewegungsform erreichbaren Wirkungen sowie Möglichkeiten und Grenzen deren Einsatzes werden konkrete, didaktisch-methodisch aufbereitete Einsatzmöglichkeiten vorgestellt. Weiterführende Literatur und andere Medientipps helfen dem interessierten Leser bei der Vertiefung in einzelne Aspekte Bewegten Unterrichts. Ansprechende Abbildungen und vielfältige Übersichten unterstützen das Zurechtfinden in der sehr umfangreichen Sammlung von Übungen und Anregungen für Bewegung in allen Fächern. Erleichtert wird die Auswahl und Umsetzung möglicher Bewegungsformen und Methoden durch deren Gliederung nach Zielstellungen sowie die stichpunktartigen Beschreibung der Übungen, Verfahren und Bauanleitungen. Während in der gängigen Fachliteratur meist nur einzelne Bewegungsaspekte beschrieben werden (Dennisson & Dennisson für Brain-Gym, Illi für Sitzen usw.), stellt dieses Kapitel eine sehr umfangreiche und alle Formen des Bewegens im Unterricht zusammenfassende Fundgrube dar und ist besonders (zukünftigen) Lehrern und Eltern zu empfehlen. Gleichwohl ist Schule mehr als Unterricht. Pausen, Feste, Wandertage und Klassenfahrten bestimmen in nicht unbeträchtlichem Umfang mit, wie wohl sich Kinder in dieser Institution fühlen. Sie sind nicht nur Ausgleich für geistige Anspannung, sie prägen ebenso wesentlich das Sozialverhalten. Sinnvolle Bewegungsaktivitäten dienen dieser Funktion und fördern quasi nebenbei die Persönlichkeitsentwicklung. Eine stimmige Rhythmisierung des Unterrichtstages aber auch des Schuljahres unterstützen das Lernen. Im Kapitel 3 werden deshalb diese Bausteine Bewegter Schule behandelt. Mit ihnen erreichbare Ziele, allgemeine Gestaltungshinweise sowie reichliche, methodisch aufbereitete Bewegungsbeispiele werden anschaulich dargestellt und bieten vielfältige Anregungen für Lehrer und Eltern. In diesem Zusammenhang taucht der Sport auf, aber nicht als Unterricht sondern in Form von Spiel- und Sportfesten, Sportfreizeiten, offener Turnhalle in der Schulpause, Ideengeber für kleine Pausenspiele usw. Schließlich gehen die Autoren auch auf die außerschulische Freizeit ein. Zwar hat Schule hier nur wenig Einfluss, jedoch gibt es Möglichkeiten, die Eltern umfassend zu informieren, sie zu aktiver Freizeit mit den Kindern anzuregen und in das Bewegte Schulleben einzubeziehen.

Wie wirksam ist nun dieses Konzept? Dieser Fragestellung widmen sich die Autoren in den Kapiteln 4 und 5. Zunächst stellen sie das Evaluationsvorhaben anschaulich und detailliert vom Input (Materialien und Gespräche mit Lehrern und Eltern) über die Beratung und Betreuung der Schulen bis zur Abrechnung der Ergebnisse dar. Von Vorteil für die Aussagekraft der Resultate erweist sich hier die mehrperspektivische Sicht auf alle Beteiligten des Prozesses Schüler, Lehrer, Eltern sowie Kontextbedingungen im Rahmen einer Längsschnittstudie. Dabei rücken nicht nur die Wirkungen des Konzeptes in den Blick der Forscher sondern auch dessen Gestaltung. Diverse Befragungen, Tests und Analysen liefern letztlich ein ganzheitliches Bild. Als wichtigstes Ergebnis erscheinen die positiven Wirkungen auf das soziale Klima. Wenn sich die Beziehungen zwischen den Schülern, den Lehrern und Eltern verbessern, kann das nicht ohne Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler insgesamt bleiben. Die Schüler profitieren außerdem hinsichtlich ihrer kognitiven, sozialen und emotionalen Entwicklung. Im konditionellen Bereich (Kraft, Ausdauer) allerdings treten erwartungsgemäß keine Divergenzen zwischen Versuchs- und Kontrollklassen auf, da hier im Projektverlauf auch keine entsprechenden Interventionsmaßnahmen liefen. Gesundheitliche Wirkungen von Bewegung setzen bekanntlich erst ab einem gewissen Mindestumfang an aktiver Bewegungszeit ein, die im Konzept nicht intendiert wird. Will man dies erreichen wären Konzeptmodifizierungen nötig bzw. müsste man verstärkt den Sportunterricht, Sportförderunterricht und außerunterrichtlichen Bewegungsbereich in seinen Zielstellungen und Gestaltungsformen beeinflussen. Deutlich positiv fallen aber Effekte im koordinativen Bereich ins Gewicht, die sich letztlich auch in verminderter Unfallhäufigkeit niederschlagen. Auch bei den Lehrern hinterlässt das Konzept Spuren. Ihr Unterricht gewinnt an Methodenvielfalt, sie selbst erreichen mehr berufliche Zufriedenheit, wenngleich anfängliche Euphorie bezüglich der Wirkungen des Konzeptes wohl auch deshalb schwindet, weil personelle und schulorganisatorische Rahmenbedingungen nicht optimal sind. Ihr Bemühen Unterricht zu verändern wird von den Eltern positiv zur Kenntnis genommen. Das ausführliche Sachwortregister erleichtert die gezielte Suche nach Einzelaspekten des Vorhabens. Es rundet ein für alle Schularten empfehlenswertes, mit Anregungen für die Unterrichtsgestaltung reich gespicktes Konzept ab. Erstmals und vor allem in diesem Umfang einmalig erhält der Leser Einblick in ein Konzept Bewegter Schule ab Klasse 5 von der theoretischen Fundierung über praktische Anregungen bis zur tatsächlichen Wirksamkeit. Diese Verbindung von Theorie und wissenschaftlich begleiteter und evaluierter Praxis macht das Buch einmalig und umfassend nutzbar. Während die Wissenschaftler Anregungen in den Kapiteln 1 und 4 bis 6 finden, halten die Praktiker eine Fundgrube mit den Kapiteln 1 bis 3 in Händen. Was nun noch fehlt ist die Umsetzung des Konzepts in aktuelles Handeln, denn und hier stimmt der Rezensent den Autoren uneingeschränkt zu Schule bewegt sich nicht von allein, sie braucht Akteure. Barbara Haupt (Nordhausen) 161

LSB (Sankt Augustin) 47(2006)2, 162-165 Bernd Schulze: Sportarten als soziale Systeme. Ansätze einer Systemtheorie der Sportarten am Beispiel des Fußballs. (Edition Global-lokale Sportkultur, Bd. 14). Münster/New York/Berlin/München: Waxmann 2005. ISBN-Nr. 3-8309- 1579-9, 298 S., 24,90 Nach anfänglichen Berührungsängsten sind viele Überlegungen, Problemstellungen und Perspektiven der soziologischen Systemtheorie auch in der Sportwissenschaft in den vergangenen Jahren umfangreich rezipiert worden. Mit der Habilitationsschrift Sportarten als soziale Systeme von Bernd Schulze ist in der Edition Global-lokale Sportkultur Ende 2005 ein neues Werk erschienen, das den systemtheoretischen Diskurs in Zukunft sicher weiter befruchten wird. Das Buch versucht mit den Ansätzen einer Systemtheorie der Sportarten am Beispiel des Fußballs - so der Untertitel - grundlegende Akzente zu setzen und vor allem ein Modell eines funktional differenzierten Sportartensystems zu erstellen. In der Einleitung formuliert Schulze, das Ziel der Arbeit sei es vor allem, eine Heuristik für zukünftige Untersuchungen der internen Differenzierung von konkreten Sportarten (13) zu entwickeln, damit diese zukünftig mit einem identischen (systemtheoretischen) Begriffsinstrumentarium betrachtet werden können. Um seine anspruchsvollen Ziele umsetzen zu können, hat (und musste) der Autor einige wichtige Entscheidungen bei der Operationalisierung seiner Ausführungen treffen, die wesentlichen Einfluss auf die Ergebnisse haben: So beruht die Arbeit im Wesentlichen auf der Differenzierungstheorie Niklas Luhmanns, die ausführlich vorgetragen wird. Schulze distanziert sich aus pragmatischen Gründen (13) ausdrücklich von anderen systemtheoretischen Autoren und ihren Ansätzen und geht ebenfalls nicht näher auf die durchaus bestehenden kritischen Stimmen zu Luhmanns Werken und Ideen (z. B. von Münch, 1991) ein. Dies ist zwar einerseits eine konsequente Beschränkung, die in der Folge zu einer differenzierten Umsetzung des theoretischen Zugangs führt. Andererseits wird die Chance vergeben, aus einem offen geführten Diskurs Vorteile zu erlangen. Weiterhin ist die Arbeit allein auf die Sportart Fußball beschränkt, was mit der günstigen Literaturlage begründet wird. Schulze verweist zudem ausdrücklich auf die Verwendung des engen Sportbegriffs im Sinne eines traditionellen Sportmodells von Heinemann (1998). Auch hier ist die deutliche definitorische Ab- bzw. Eingrenzung zu beachten, die der Exaktheit des Modells und seiner

Ausarbeitung förderlich ist, gleichzeitig aber anschließende Untersuchungen nötig erscheinen lässt. Sehr umfassend und gelungen ist der Forschungsüberblick zum Sport als Teilsystem der Gesellschaft im ersten Kapitel der Arbeit. Die ausführlichen Erläuterungen, die in übersichtlicher Gestaltung u. a. die bekannten Werke und Beiträge von Stichweh, Bette, Schimank, Cachay oder Becker zusammenfassen, belegen deutlich die Relevanz, aber auch fehlende Einheit des systemtheoretischen Zugriffs in der Sportwissenschaft und gleichzeitig die bisher fehlende Anwendung der weitreichenden Theorie auf einzelne Sportarten. Nach einer historischen Einführung entfaltet Schulze als wichtige Kategorien die Identität des Sportbegriffs mit den Begriffen Funktion, Leistung und Reflexion, die interne Umwelt des Sportsystems mit ihrer Binnendifferenzierung in Interaktion und Organisation sowie Breitensport und Leistungssport als die soziale Umwelt des Sports. Aus der Summe der kontrovers geführten Reflexion der systemtheoretischen Zugriffe zieht der Autor zum Abschluss des Forschungsüberblicks einige Konsequenzen für das weitere Vorgehen (87): Vor allem die vielfältigen Leistungsbeziehungen zu anderen Systemen, die Ressourcenarmut des Sports sowie die fehlende Trennschärfe zu anderen Systemen führen ihn zur Einschätzung, der Sport sei im Luhmannschen Sinne kein Funktionssystem der Gesellschaft und könne daher nicht mit den Kategorien Funktion, Leistung und Reflexion beschrieben werden. Als Ziel der Arbeit wird deshalb der Versuch unternommen, den Sport als Teilsystem der Gesellschaft durch seine interne Differenzierung in Sportartensysteme zu definieren (ebd.). Schulze beschreibt als Grundgedanken und Voraussetzung seiner Untersuchung den Sport als ein soziales System, dessen Kommunikationen einen Bezug zu je einer spezifischen Sportart haben. Sportarten bilden in diesem Verständnis eigene selbstreferenzielle Systeme als Segmente innerhalb des Sportsystems aus, die jeweils spezifische System/Umwelt-Konstellationen aufweisen. Während die Analyse der Interdependenzen zu anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen aus Umfangsgründen nicht erfolgen konnte (ebd.), wird von Schulze im Folgenden sein Modell der funktionalen Differenzierung von Sportartensystemen vorgestellt. Den Kernpunkt des Modells bildet die Definition von (Körper-)Bewegung als Form bildenden Basisprozess von Sportartensystemen (90) mit einer gleichzeitigen Differenzierung von Kommunikationen als Sinn bildenden Prozessen. Mit Bewegung als Formbildung von Bewegungssystemen beschreibt Schulze die Basis der Sportartensysteme, die aufgrund einer rekursiven Vernetzung von selektiven, miteinander relationierten Bewegungen (95) das Beobachten von Beobachtungen ermöglicht. Weitere Elemente der Bewegungssituationen seien Kommunikation und Bewusstsein; Bewegungssituationen erfüllen dabei für jede Sportart jeweils unterschiedliche Funktionen. Sportartensysteme basieren also auf der (kommunikativen) Beobachtung von Bewegungssituationen, die wiederum weitgehend frei von sprachlicher Kommunikation sind (264). 163

Dies ist für Schulze die Grundlage seiner internen, funktionalen Differenzierung der Sportartensysteme, die im Anschluss für die Systeme von Wettkampf, Politik, Recht, Erziehung, Wissenschaft, Medizin, Familien, Intimbeziehungen, Massenmedien, Wirtschaft, Religion, Soziale Hilfe, Protestbewegungen und Kunst mit einem jeweiligen Rückgriff auf das vorliegende Theorie-Instrumentarium Luhmanns teils mehr, teils weniger ausführlich beschrieben wird. Dabei werden die funktionalen Differenzierungen jedes Systems auf Basis der Literaturlage und bereits vorliegender Analysen auf das Beispiel des Fußballs angewendet und damit versucht, ein Modell der Sportart Fußball als System zu beschreiben. Für die Erfüllung der gesellschaftlichen Funktionen sei also innerhalb des Sportartensystems wiederum ein jeweils eigenes System zuständig - Schulze bezeichnet diese als Funktionssysteme der Sportartensysteme (101). Das wichtigste Funktionssystem ist für den Autor dabei das System des Wettkampfes, das sozusagen im Fokus des Sportartensystems steht und als Funktion die Bereitstellung des Potenzials für kollektiv bindende Wettkampfentscheidungen hat (105). Das Funktionssystem des Wettkampfes ist für Schulze dreistellig differenziert in die interaktive Wettkampfentscheidung, die organisierte Wettkampfverwaltung und das Publikum, das Wettkämpfe beobachtet. Das Wettkampfsystem wird in der Zusammenfassung als ein fragiles System beschrieben, so dass sich Sportartensysteme insgesamt trotz ihrer Autonomiebestrebungen nur schwer gegen Instrumentalisierungen anderer Systeme wie Medizin oder Wissenschaft wehren können (276). In seiner Schlussbemerkung empfiehlt Schulze, sein vorgestelltes Modell weiter zu entwickeln und vor allem mittels empirischer Forschung zu überprüfen. Zudem könnten mit dem aufgestellten, systemtheoretischen Analyseraster auch weitere Untereinheiten des Sportartensystems wie Spielklassen untersucht werden, oder andere Organisationsanalysen der unterschiedlichen Sportarten vorgenommen werden. Zuletzt weist Schulze auf die weitreichende Bedeutung seiner Theorie hin, die auch einen Beitrag zur Erforschung des System/Umwelt- Verhältnisses von Sport und Gesellschaft leisten könne. Die weitere Erforschung dieser Interdependenzen mit anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen scheint für das Modell tatsächlich angebracht, denn die Ausführungen von Schulze z. B. zum System Massenmedien und seiner Bedeutung für Sportarten (hier insbesondere des Fußballs) lassen im Forschungsstand und auch in der Anwendung auf das Modell einige Fragen offen. Die Bedeutung der massenmedial (neu-)konstruierten Realität des Sports für das System Sport selbst und die einzelnen Sportarten wird bei Schulze nur randständig thematisiert, obwohl ihr in der systemtheoretischen Literatur (Bette 1989; Schimank 1995) eine weitreichende Bedeutung sogar für die Autonomie des Sports zugemessen wird. Eine Schlüsselfrage der Arbeit scheint denn auch die Problematik des vorgestellten Modells für die innere Einheit des Sports zu sein, die durch die Differenzierung in Sportartensysteme zumindest in Frage gestellt wird - zumal dem