Alkohol Noch immer die Gesellschaftsdroge No. 1?!



Ähnliche Dokumente
Die neue S3 Behandlungsleitlinie. Potentiell konkurrierende Interessen

S3-Leitlinie: Alkoholbezogene Störungen

Die Droge aus dem Supermarkt Therapie bei Alkoholproblemen und Wege aus der Sucht

Behandlung von Alkoholabhängigkeit Vortrag am Eva Gunkel Fachpflegerin Psychiatrie Stellv. Stationsleitung Sozialstiftung Bamberg

Behandlung und Beratung von Alkoholabhängigen

Erratum Benkert, Pocket Guide, Psychopharmaka von A bis Z. 3.Aufl. ISBN (print): / DOI /

Wie finde ich das richtige Krankenhaus für meine psychische Erkrankung? BPtK veröffentlicht Checkliste für Psychiatrie und Psychosomatik

Rezepte für die Entzugsmedikation. Dr. Ralf Hardenberg Krankenhaus St. Elisabeth, Damme Klinik für Innere Medizin

Medizinische Rehabilitation bei Epilepsie

Erster Deutscher Kongress für Patientenorientierte Arzneimittelinformation Köln, Januar 2009

» Ihre Bedürfnisse stehen im Mittelpunkt» Alle Fachdisziplinen in einem Haus» Medizinische Diagnostik & Therapie wissenschaftlich fundiert

Ambulant/stationäre Entzugsbehandlung im Rahmen einer integrierten Versorgungsstruktur gem. 140 a ff. SGB V. Wir helfen weiter!

Depressive Patienten in der stationären Entwöhnungsbehandlung

KURZKONZEPT. Lotsennetzwerk Brandenburg zur Rückfallprävention. für Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen

Grundlagen. Qualifizierter Entzug. Grundlagen. Grundlagen Entzug Leitlinien Wirksamkeit Ausblick Verweildauer Finanzierung

Arzneimittel im Alkoholentzug AWMF-S3-Leitlinie Sucht (Entwurf)

Suchtberatungsdienste im Landkreis Neumarkt

AWO-Qualitätsbericht. stationär

Ambulante und stationäre Behandlung von pathologischen Glücksspielern: Entwicklung in Bayern

7. Forum Psychiatrie und Psychotherapie am 29./30. Oktober 2002 in Paderborn

Technische Universität München. Patienteninformationstag Prostatakrebs. TU München. P. Herschbach Roman-Herzog-Krebszentrum München

Ambulant betreutes Wohnen eine Chance!

Abhängigkeit von Schlafund Beruhigungsmitteln: Herausforderung für Arzt und Apotheker

Übergänge. Entzug - Entwöhnung

Die Absicherung Ihrer Existenz. Advigon.BU-SCHUTZ Private Berufsunfähigkeitsversicherung

Wie erleben Verbraucher IGeL? Ergebnisse einer Umfrage der Verbraucherzentralen

DemTect. Vorgehen. Beurteilung. 58 DemTect

Seminar für diagnoseübergreifende Psychoedukation.

Ist Fernsehen schädlich für die eigene Meinung oder fördert es unabhängig zu denken?

Erwachsenen- Psychotherapie

Screening Das Programm. zur Früherkennung von Brustkrebs

Diese Broschüre fasst die wichtigsten Informationen zusammen, damit Sie einen Entscheid treffen können.

S 3 Leitlinie Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen

Arbeitslos und suchtkrank! Bedingungen stationärer Rehabilitation. Dr. Lukas Forschner

Tag der offenen Tür, 9. Oktober Psychiatrie erleben und verstehen. Depression. erkennen und behandeln. Klaus-Thomas Kronmüller

Faktenbox Kombinationsbehandlung (Antidepressiva und Psychotherapie) bei schweren Depressionen

Hellweg-Klinik Bielefeld. Ganztägig ambulante Rehabilitation suchtkranker Menschen

micura Pflegedienste München/Dachau GmbH

Alkohol und Medikamente im Seniorenalter

LWL-KLINIK MÜNSTER. Abteilung für Suchtkrankheiten. Psychiatrie - Psychotherapie - Psychosomatik - Innere Medizin.

micura Pflegedienste München Ost

Seniorenheim Theresianum. Kontinuität. Leistung. Stürzen vorbeugen. Informationsbrief für Bewohnerinnen, Angehörige & Betreuer

Mein Leitbild. Dr. Christian Husek

Unterstützung und Beratung für schwangere Frauen in Not

SUBSTANZABHÄNGIGKEIT - PROBLEMSTELLUNG IN DER BEURTEILUNG DER FAHRTAUGLICHKEIT

Der Anspruch an eine ethische Nutzen- und Kostenbewertung

Vertrag zwischen. der AOK Berlin - Die Gesundheitskasse - und der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin (KV)

Neuer Standort in Burgdorf ab. 1. Sept Sucht tut weh. Suchtmedizinische Abklärung und Behandlung

Das NEUE Leistungspaket der Sozialversicherung. Mehr Zahngesundheit für Kinder und Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr. Fragen und Antworten

Langfristige Genehmigungen

In unserem Zentrum für Traditionelle Chinesische Medizin bieten wir folgende Sonderleistungen an: Augenakupunktur

Wege aus Krise und Hoffnungslosigkeit

Hohe Leistung, tiefe Prämie. Michèle Bowley, Geschäftsleiterin «Gsünder Basel»

Erfahrungen mit Hartz IV- Empfängern

Was sind die Gründe, warum die Frau, der Mann, das Paar die Beratungsstelle aufsucht?

Lineargleichungssysteme: Additions-/ Subtraktionsverfahren

Neue Patientenleitlinie zu Colitis Ulcerosa erschienen

Clever investieren und für den Pflegefall vorsorgen: Gothaer PflegeRent Invest

Psychotherapie und Psychopharmakologie Wo liegt die Balance: Psychosen

Verschreibungsfreie Arzneimittel wieder in der Erstattung

Meinungen zum Sterben Emnid-Umfrage 2001

HeilpraktikerIn Psychotherapie Ein Beruf mit Zukunft

INSIEME BERATUNG: Burnout Scheck Detailinformation

Patientenverfügung. Was versteht man genau unter einer Patientenverfügung? Meine persönliche Patientenverfügung

Leistungen für Demenzpatienten

Dienstleistungsvertrag

Prinzip: Vorbeugen ist besser als Heilen. Ziel: Verhütung von Krankheit bzw. Erhaltung der Gesundheit.

Osteoporose. Ein echtes Volksleiden. Schon jetzt zählen die Osteoporose und die damit verbundene erhöhte Brüchigkeit der Knochen

Postfach Oberursel. Versicherungs-Nr.: Zu versichernde Person: Geburtsdatum:

Alkohol aus der Sicht des. Psychiaters

SCHWERE KRANKHEITEN VORSORGE RISIKOSCHUTZ FÜR KINDER

Psychosen. By Kevin und Oliver

Informationen über die Ableistung der Famulatur gemäß 7 der Approbationsordnung für Ärzte (ÄAppO) vom 27. Juni 2002

Stationäre und ambulante Rehabilitation

SKA ORTHOPÄDIE. Patienteninformation. Rechtsträger: Warmbader Krankenanstalten GmbH Ärtliche Leitung: Privatdozent Prim. Dr.

Zu dieser Folie: Schulungsziel: TN kennen wesentliche diagnostische und therapeutische Maßnahmen bei Harnund Stuhlinkontinenz

Psychische Veränderungen und Erkrankungen im höheren Lebensalter

Für Menschen in einer psychischen Krise in der zweiten Lebenshälfte. Alterspsychiatrie (U3) Psychiatrie

Glaube an die Existenz von Regeln für Vergleiche und Kenntnis der Regeln

APOTHEKIA SPECIAL DIE PILLE DANACH

Was Hänschen nicht lernt? Entwicklungschancen durch Suchtberatung und Therapie

Einen Detailierten Leitfaden für den Antrag einer Dolmetscherkostenübernahme, sowie die benötigten Anhänge finden Sie auf Seite 3.

Anreizstrukturen und Fehlanreize im Rahmen der qualitätsorientierten Vergütung PD Dr. M. Lüngen

Akutgeriatrie und geriatrische Rehabilitation

Hautkrebsscreening. 49 Prozent meinen, Hautkrebs sei kein Thema, das sie besorgt. Thema Hautkrebs. Ist Hautkrebs für Sie ein Thema, das Sie besorgt?

Hinweise in Leichter Sprache zum Vertrag über das Betreute Wohnen

Alkohol am Arbeitsplatz in Europa Fragebogen

Projekt: Gründung einer Einrichtung zur sozialmedizinischen Nachsorge kranker Kinder

Wie machen es die anderen? Beispiel Schweiz. Dr.med. Thomas Maier Chefarzt St. Gallische Kantonale Psychiatrische Dienste Sektor Nord

Geriatrische Rehabilitation. Bezirksklinikum Ansbach

Förderzentrum am Arrenberg

Brachytherapie Präzise bestrahlen

Psychosomatische Medizin. Klinikum am Europakanal

Die Pflegeleistungen. Das ändert sich ab 1. Januar Quelle: Bundesministerium für Gesundheit

Substitution: Herausforderungen in Medizin, Politik und Finanzierung

Ideenskizze für die Nutzung einer IPv6-Infrastruktur zur Vitaldatenüberwachung von Menschen:

micura Pflegedienste Köln

Familiale Pflege. Herzlich Willkommen zur Demenzschulung für Angehörige und Interessierte

Transkript:

Ökumenisches Hainich Klinikum ggmbh Akademisches Lehrkrankenhaus des Universitätsklinikums Jena Fachkrankenhaus für Neurologie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. med. K. Schoett Vorsitzende des Suchtausschusses der LÄK Thüringen Chefärztin der Abt. für Suchtmedizin des ÖHK Mühlhausen/Thüringen k.schoett@oehk.de Alkohol Noch immer die Gesellschaftsdroge No. 1?! Neue S3-Leitlinie im Alkoholbereich 1

Gliederung des Vortrags 1. Wozu braucht es eine S3-Leitlinie für alkoholbezogene Störungen? 2. Was beinhaltet die neue S3-Leitlinie? a.) Screening und Diagnose b.) Kurzintervention c.) Körperliche Entgiftung d.) Qualifizierte Entzugsbehandlung e.) Pharmakotherapie f.) Entwöhnung und andere Formen der Postakutbehandlung 3. Bedeutet dies einen Paradigmenwechsel?

Krankwerden durch Alkoholkonsum in Deutschland? Anerkennung als Krankheit erst 1968, bei Privatversicherungen bis heute oft nicht Die Deutschen gehören zu den führenden Nationen weltweit: Alkohol- und Tabakkonsum bedingen hierzulande zusammen 20 % des Risikos für die Gesamtheit aller Erkrankungen bei Männern (Plass et al. 2014). Wirksame verhältnispräventive Maßnahmen fehlen bisher. In Deutschland gibt es ca. 1,9 Millionen Alkoholabhängige und rund 1,6 Millionen Menschen mit schädlichem Gebrauch von Alkohol (Pabst et al. 2013). Täglich sind rund 200 Todesfälle durch zu hohen Alkoholkonsum zu beklagen, jährlich liegt die Zahl bei 74.000 (Gärtner et al. 2013). Die Kosten liegen mit mindestens 30 Milliarden Euro pro Jahr auch im europäischen Vergleich an der Spitze aller durch psychische Störungen verursachten Kosten (Effertz & Mann 2013). 3

Behandlungen von Patienten mit psychischen und Verhaltensstörungen durch Alkohol pro Jahr Art der Behandlung / Intervention Häufigkeit Referenz Krankenhausbehandlungen im Jahre 2012 (vollstationär) - wegen psychischer oder Verhaltensstörung durch Alkohol (alle ICD-10 F10-Diagnosen) - wegen Intoxikation (ICD-10 F10.0) 345 034 121 595 Statistisches Bundesamt 2012 Entgiftungs-/Entzugsbehandlungen in somatischen Kliniken - insgesamt - als qualifizierter Entzug DRG (V40Z) Behandlungen in psychiatrischen Kliniken und Abteilungen (je nach Erhebung) Ca. 160 000 Ca. 7 000 200 000 bis 270 000 Statistisches Bundesamt 2012 Längle (2012) Maßregelvollzug nach 64 StGB (Stichtag 31.03.2013) 1 144 Statistisches Bundesamt 2014b stationäre Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (v. a. Entwöhnungsbehandlungen in Fachkliniken für Suchtkranke) durch die gesetzliche Rentenversicherung als Leistungsträger (die DRV ist in 85% der Fälle Leistungsträger) Ca. 30 000 DRV-Bund 2013 Bachmeier et al. 2013 4

Versorgung von Menschen mit Alkoholbezogenen Störungen Defizite beim Angebot Schädlicher Gebrauch war bislang kaum Anlass für Beratung oder Behandlung. Abhängigen wird traditionell eine Therapie mit körperlicher Entgiftung, qualifizierter Entzugsbehandlung und medizinischer Rehabilitation angeboten. Dabei ist die lebenslange Abstinenz von Alkohol das allgemein anerkannte Therapieziel. Nutzung von Hilfeangeboten (lt. Wienberg 2002): - Rehabilitationsbehandlungen: 3-4 % der Alkoholabhängigen (ca. 35.000) / Jahr - Suchtmedizinischen Abteilungen der Psychiatrischen Kliniken: 200.000 / Jahr - Somatische Abteilungen der Krankenhäuser: mehr als 335.000 Patienten / Jahr - Niedergelassener Arzt: sieht pro Jahr etwa 70-80 % der Betroffenen wg. diverse Symptome 5

Versorgung von Menschen mit Alkoholbezogenen Störungen Defizite bei der Nachfrage Viele Betroffene sind unsicher und schrecken gerade zu Beginn einer Abhängigkeit vor dem Aufsuchen einer Beratung und Behandlung zurück. - In den USA war knapp die Hälfte der Personen mit behandlungsbedürftigen Alkoholproblemen trotz eigener Einsicht in die Notwendigkeit (noch) nicht bereit, vollständig auf Alkoholkonsum zu verzichten (SAMHSA 2013). - Auch die Reduktion der Trinkmengen ist als zumindest intermediäres Therapieziel für Alkoholabhängige anzuerkennen (englische Therapieleitlinie NICE 2011), ein Standpunkt, den auch die European Medicines Agency vertritt (EMA 2011). S3-Leitlinie Alkohol stimmt dieser Auffassung zu: Die damit verbundene Senkung der Eingangsschwellen soll deutlich mehr Menschen in eine Beratung und Behandlung führen als bisher. Könnte die Inanspruchnahme von psycho- und pharmakotherap. Angeboten von bisher 10 % auf 40 % der Betroffenen erhöht werden, ließen sich nach einer aktuellen Modellrechnung pro Jahr rund 2 000 Menschenleben in Deutschland retten (Rehm et al. 2014) 6

S3-Leitlinie: Screening und Diagnose In Deutschland liegen die Grenzwerte für einen risikoarmen Alkoholkonsum bei bis zu 24 g Reinalkohol pro Tag für Männer (z.b. zwei Gläser Bier à 0,3l) und bis zu 12g Reinalkohol für Frauen (Seitz, Bühringer & Mann 2008). Der Begriff risikoarm impliziert, dass es keinen risikofreien Alkoholkonsum gibt. 20 gr Alkohol = 0,5 l Bier = 0,2 l Wein = 0,06 l Schnaps Rauschtrinken ( binge drinking ): Einnahme von großen Alkoholmengen innerhalb von kurzer Zeit - bei Männern fünf oder mehr Getränke (Standarddrinks) bei einer Gelegenheit (SAMSHA, 2006), bei Frauen vier oder mehr Getränken (Standarddrinks) bei einer Gelegenheit. Screening mittels AUDIT (bei Cut-off von 5 P. für Männer bzw. 4 P. für Frauen). Auch Kurzform möglich, Hauptsache, es wird überhaupt gescreent, in jedem Setting. (Soll-Empf.) Nachweis Alkoholkonsum: - Akut mittels BAK, AAT und ETG im Urin - Chronisch mittels MCV, GGT und CDT als Kombination, ev. ergänzt noch durch ALAT + ASAT Diagnostische Einschätzung mittels Klassifikationsschemata von ICD bzw. DSM 7

AUDIT-C Screening Test zur Selbstbeurteilung Wie oft trinken Sie Alkohol? Nie 0 Punkte Wenn Sie Alkohol trinken, wie viele Gläser trinken Sie dann üblicherweise an einem Tag? (1 Glas Alkohol entspricht 0,33 l Bier / 0,25 l Wein / 0,02 l Spirituosen) Wie oft trinken Sie 6 oder mehr Gläser Alkohol bei einer Gelegenheit? 1 x im Monat oder seltener 1 2 bis 4 x im Monat 2 2 bis 3 x pro Woche 3 4 x pro Woche oder öfter 4 1 2 Gläser pro Tag 0 3 4 Gläser pro Tag 1 5 6 Gläser pro Tag 2 7 9 Gläser pro Tag 3 10 oder mehr Gläser pro Tag 4 Nie 0 Seltener als 1 x im Monat 1 Jeden Monat 2 Jede Woche 3 (fast) jeden Tag 4 Ab 5 P. (bzw. bei Frauen 4 P.) = erhöhtes Risiko für alkoholbezogene Störungen! 8

S3-Leitlinie: Kurzintervention Kurzinterventionen sind ein Weg, Menschen mit problematischem Alkoholkonsum in nichtspezialisierten Settings zu einer Trinkmengenreduktion oder ggf. zur Abstinenz zu motivieren. Sie dauern bis zu 60 Minuten bei bis zu fünf Sitzungen. Die Interventionen zielen auf eine Verringerung des Alkoholkonsums und alkoholassoziierter Probleme und integrieren u.a.: 1.) personalisiertes Feedback, 2.) individuelle Zielfindung sowie 3.) konkrete Ratschläge. Sie können durch schriftliches Infomaterial ergänzt werden oder auch computergestützt dargeboten werden. Unerwünschte Wirkungen bestehen nicht. Bei Riskantem Konsum gilt das Nutzen-Risikoverhältnis als positiv und die Umsetzbarkeit in der Versorgung möglich. (A) Bei Rausch-Trinken sind die Ergebnisse heterogen. (B) Bei Abhängigkeit ebenfalls inkonsistente Befunde, können angeboten werden (0). In der primärmedizinischen Versorgung sollen Kurzinterventionen zur Reduktion problematischen Alkoholkonsums angeboten werden. (A) 9

S3-Leitlinie: körperliche Entgiftung Eine körperliche Entgiftung umfasst die Behandlung von Alkoholintoxikationen mit körperlich-neurologischen Ausfallerscheinungen und/oder von Alkoholentzugssymptomen, wie sie bei einem relevanten Anteil der alkoholabhängigen Patienten auftreten können. Ziel ist die Sicherstellung der Vitalfunktionen und die Vermeidung von Komplikationen sowie die Reduzierung / Linderung von Entzugserscheinungen. Eine symptomorientierte Behandlung des Alkoholentzuges anstatt eines fixen Dosierschemas sollte dann angeboten werden, wenn 1.) ein engmaschiges Assessment und Symptomkontrolle unmittelbar bei Behandlungsbeginn und während des gesamten Verlaufes sichergestellt sind und 2.) das Personal adäquat in Assessment und Überwachung eines Alkoholentzugs geschult ist, z.b. in der Zuhilfenahme eines standardisierten Beurteilungsinstrumentes (KKP) Die Dauer der Behandlung sollte sich individuell an der Schwere der Entzugserscheinungen und der körperlichen und psychischen Begleit- oder Folgeerkrankungen orientieren. (KKP) Da eine körperliche Entgiftung allein keine hinreichende Therapie der Suchterkrankung darstellt, sollen weitere suchtmedizinische Hilfen vorgehalten bzw. vermittelt werden. (KKP) 10

S3-Leitlinie: körperliche Entgiftung Eine stationäre Behandlung in Form einer körperlichen Entgiftung oder qualifizierten Entzugsbehandlung soll angeboten werden 1.) bei einem Risiko eines alkoholbedingten Entzugsanfalles und/oder Entzugsdelirs und/oder 2.) bei Vorliegen von gesundheitlichen bzw. psychosozialen Rahmenbedingungen, unter denen Alkoholabstinenz im ambulanten Setting nicht erreichbar erscheint 3.) (zu erwartende) schwere Entzugssymptome, 4.) schwere und multiple somatische oder psychische Begleit- oder Folgeerkrankungen, 5.) Suizidalität, 6.) fehlende soziale Unterstützung, 7.) Misserfolg bei ambulanter Entgiftung Alkoholabhängige, die sich keinem Alkoholentzug unterziehen wollen, sollten informiert werden über 1.) Risiken der nicht überwachten plötzlichen Trinkmengenreduktion oder eines Trinkstopps, wie z.b. Entzugskomplikationen und deren Behandlungsmöglichkeiten. 2.) alternative Hilfeangebote Ziel einer Entzugsbehandlung ist das komplikationslose Freiwerden vom Suchtmittel (Abstinenz). Die Aufrechterhaltung einer Abstinenz stellt eine eigene Herausforderung dar und profitiert in der Regel deutlich von einer Post-Akutbehandlung. 11

S3-Leitlinie: Qualifizierte Entzugsbehandlung Suchtpsychiatrische / -medizinische Akutbehandlung, die über die körperliche Entgiftung hinausgeht: Behandlung der Intoxikations- und Entzugssymptome + Diagnostik/Behandlung der psych. und somat. Begleit- und Folgeerkrankungen + psycho- und soziotherap. sowie psychosoziale Interventionen zur Förderung der Änderungsbereitschaft, -kompetenz und Stabilisierung der Abstinenz (incl. Vermittlung in das regionale Hilfesystem, in soziale oder medizinische Rehabilitation. Es sollte eine Qualifizierte Entzugsbehandlung (QE) statt einer reinen körperlichen Entgiftung angeboten werden, auch bei Ambivalenz zu weiterführenden Maßnahmen. Zur Erhöhung der Effektivität sollte eine Qualifizierte Entzugsbehandlung in der Regel 21 Behandlungstage umfassen, ggf. auch länger. 12

S3-Leitlinie: Pharmakotherapie Eine medikamentengestützte Alkoholentzugsbehandlung ist einer Nichtbehandlung bezüglich der Schwere der auftretenden Entzugssymptome und der Häufigkeit von Entzugskomplikationen überlegen. Benzodiazepine: reduzieren effektiv die Schwere und Häufigkeit von Alkoholentzugssymptomen sowie die Häufigkeit schwerer Entzugskomplikationen wie Delire und Entzugskrampfanfälle. Benzodiazepine sollen zur Behandlung des Alkoholentzugssyndroms eingesetzt werden. (A) Bei Delirien Kombination mit Antipsychotika (z.b. Haldol) empfohlen. Clomethiazol reduziert effektiv die Schwere und Häufigkeit von Alkoholentzugssymptomen sowie die Häufigkeit schwerer Entzugskomplikationen wie Delir und Entzugskrampfanfälle, sollte unter stationären Bedingungen zur Behandlung eingesetzt werden. (B) Nicht ambulant zugelassen! Nicht mit Benzos kombinieren! Missbrauchspotential beachten! Antikonvulsiva sollten zur Verhinderung von Alkoholentzugskrampfanfällen eingesetzt werden, zugelassen ist nur Carbamazepin. Einsatz bei Anfällen in der Vorgeschichte. (B) Außerdem können Carbamazepin, Valproinsäure, Gabapentin und Oxcarbazepin zur Therapie leicht- bis mittelgradiger Alkoholentzugssyndrome eingesetzt werden (0) 13

S3-Leitlinie: Pharmakotherapie Neuroleptika wie Haloperidol werden beim akuten Alkoholdelir mit Wahn- oder Halluzinationen empfohlen, sollen aber aufgrund der fehlenden eigenen Wirkung auf vegetative Entzugssymptome mit z.b. Benzodiazepinen oder Clomethiazol kombiniert werden. (B) Beta-Blocker und Clonidin eignen sich nicht zu einer Monotherapie des Alkoholentzugssyndroms, können aber in Ergänzung zu Benzodiazepinen oder Clomethiazol zur Behandlung von vegetativen Alkoholentzugssymptomen eingesetzt werden. (0) Baclofen sollte aufgrund der derzeitigen Studienlage nicht für die Behandlung des Alkoholentzugssyndroms eingesetzt werden. (0) GHB sollte aufgrund der Nutzen-Risiko-Bewertung nicht für die Behandlung des akuten Alkoholentzugssyndroms eingesetzt werden. (B) Alkohol soll nicht für eine medizinisch überwachte Alkoholentzugsbehandlung eingesetzt werden. (KKP) 14

S3-Leitlinie: Pharmakotherapie Medikamente mit prokonvulsiven und anticholinergen Wirkungen wie niederpotente Neuroleptika und trizyklische Antidepressiva sollten im Alkoholentzug vermieden werden. (KKP) Tiapridex kann in Kombination mit einem Antikonvulsivum zur Behandlung leichter bis mittelschwerer Alkoholentzugssymptome eingesetzt werden. (0) Im Alkoholentzug sollte zur Prophylaxe der Wernicke Enzephalopathie Thiamin gegeben werden (bei parenteraler Glucosegabe auch iv. kombinieren). (KKP) Bei Schwangerschaften sollten im Alkoholentzug bevorzugt Benzodiazepine eingesetzt werden. Dies sollte innerhalb eines stationären und interdisziplinären Settings erfolgen (KKP) Bei Lebererkrankungen mit Einschränkung der Leberfunktion werden Benzodiazepine mit kürzerer Halbwertszeit und geringer Verstoffwechselung in der Leber (z.b. Oxazepam, Lorazepam) empfohlen, zur Anfallsprophylaxe dann Gabapentin oder Levetirazetam. (KKP) 15

S3-Leitlinie: Entwöhnung und andere Formen der Postakutbehandlung Nach Entgiftung/qualifiziertem Entzug soll eine nahtlose Postakutbehandlung angeboten werden (A), die z.b. in einer der genannten Formen erfolgen kann: - ambulante, ganztägig ambulante bzw. teilstationäre oder stationäre Entwöhnung - Adaptionsbehandlung - medikamentöse Rückfallprophylaxe - vertragsärztliche Versorgung - ambulante Psychotherapie - ambulante oder stationäre psychiatrische Weiterbehandlung - soziotherapeutische Einrichtungen für chronisch mehrfach geschädigte Abhängige - Angebote der Eingliederungshilfe und niedrigschwellige Hilfeangebote - Beratungsangebote - Maßnahmen der Arbeitsförderung und beruflichen Rehabilitation Bei postakuten Interventionsformen ist Abstinenz bei Alkoholabhängigkeitssyndrom primäres Therapieziel. Ist die Erreichung von Abstinenz z.z. nicht möglich oder liegt schädlicher bzw. riskanter Konsum vor, soll eine Reduktion des Konsums (Menge, Zeit, Frequenz) im Sinne einer Schadensminimierung angestrebt werden. (A) 16

S3-Leitlinie: Entwöhnung und andere Formen der Postakutbehandlung Bei höherem Lebensalter soll eine Postakutbehandlung (einschließlich Entwöhnung) der alkoholbezogenen Störung mit Hinweis auf die überdurchschnittlich günstige Prognose angeboten werden. (KKP) Zur nachhaltigen Abstinenzstabilisierung und Rückfallprävention soll nach der Postakutbehandlung (einschließlich Entwöhnung) nahtlos eine aufeinander abgestimmte, individuell angepasste suchtbezogene Versorgung von mindestens 1 Jahr angeboten werden. Dabei handelt es sich um eine Komplexbehandlung durch ein multiprofessionelles Team. (KKP) Im Rahmen der Postakutbehandlung sollen angeboten werden: Motivationale Interventionen, (kognitive) Verhaltenstherapie, Kontingenzmanagement, Angehörigenarbeit, Paartherapie. Eventuell auch psychodynamische Kurzzeittherapie, angeleitete Patientengruppen, neurokognitives Training 17

S3-Leitlinie: Pharmakotherapie und Postakutbehandlung Nach Berücksichtigung von und Aufklärung über mögliche Risiken sollte bei Alkoholabhängigkeit in der Postakutbehandlung außerhalb der stationären Entwöhnung eine pharmakotherapeutische Behandlung mit Acamprosat oder Naltrexon im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplanes angeboten werden. (B) Nach Berücksichtigung von und Aufklärung über mögliche Risiken kann bei Alkoholabhängigkeit in der Postakutbehandlung außerhalb der stationären Entwöhnung eine pharmakotherapeutische Behandlung mit Disulfiram im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplanes angeboten werden, wenn andere zugelassene Therapieformen nicht zum Erfolg geführt haben. Disulfiram ist für diese Indikation in Deutschland nicht mehr zugelassen. (0) Wenn das Ziel die Trinkmengenreduktion ist, kann nach Berücksichtigung von und Aufklärung über mögliche Risiken bei Alkoholabhängigkeit in der Postakutbehandlung außerhalb der stationären Entwöhnung eine pharmakotherapeutische Behandlung mit Nalmefen im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplanes angeboten werden. (KKP) 18

Bedeutet dies alles einen Paradigmenwechsel? - Enormes Verbesserungspotenzial sieht die Leitlinie in der Früherkennung und Frühintervention, die in Deutschland dringend flächendeckend zu etablieren sind. - Die Ergebnisse der Behandlung sind deutlich besser, wenn Behandler und Patient gesundheitsbezogene Entscheidungen gemeinsam treffen ( shared decision-making ). - Psychotherapie wirkt, nachgewiesen z.b. bei Project MATCH (1726 TN), wobei Verhaltenstherapie, soziales Kompetenztraining und Streßbewältigungsstrategien jeweils eine deutliche Trinkmengenreduktion ergaben ohne Präferenz eines Armes. - Gedanke der Trinkmengenreduktion reiht sich ein in ein neues Verständnis im Umgang mit den Pat., die ernstgenommen werden wollen auf Augenhöhe und nicht als erstes verdammt werden für ihren Wunsch, etwas zu trinken - Nalmefenstudie: Allein durch das Nachdenken und die Entscheidung, an der Studie teilzunehmen, halbierten die TN bereits ihre Trinkmenge um fast 50%. Der dann folgende Medikamenteneffekt erscheint eher gering. Ist als eine mögliche Therapieoption anzubieten. In der Studie gehörte auch PSB mit dazu, die nun bei der allgemeinen Verordnung nicht mehr abgefragt wird. 19