Vorlesung Lehren des Strafrecht AT und Delikte gegen die Person Professor Dr. Felix Herzog Sommersemester 2015 Grundlagen des Medizinstrafrechts
Grundlagen des Medizinstrafrechts: Der ärztliche Heileingriff
Überwiegender Teil der Lehre: Tatbestandslösung (1) Eine zu Heilzwecken vorgenommene, nach den Erkenntnissen der Wissenschaft indizierte und kunstgerecht ausgeführte Behandlung ist schon tatbestandlich keine Körperverletzung. Danach erfassen die 223 ff. StGB nur die fehlerhafte und die Gesundheit verschlechternde Heilbehandlung.
Überwiegender Teil der Lehre: Tatbestandslösung (2) Argument: Der indizierte Heileingriff dient der Wiederherstellung und Erhaltung der Gesundheit; verläuft er erfolgreich, so sind auch Einzelakte dieses Heileingriffs (z.b. Operationsschnitt/Injektion) nicht als Gesundheitsbeschädigung oder körperliche Mißhandlung zu bewerten. Vgl. zu den Einzelheiten und zu im Detail abweichenden Auffassungen die Nachweise bei Wessels/Hillenkamp, BT 1, Rn. 328.
Rechtsprechung: Rechtfertigungslösung Jeder ärztliche Eingriff, der die körperliche Unversehrtheit mehr als nur unerheblich beeinträchtigt (Bsp.: Schnitt bei Operation), ist eine tatbestandliche Körperverletzung, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob die Maßnahme zu Heilzwecken angezeigt, sachgerecht ausgeführt und erfolgreich verlaufen ist. Entscheidend ist damit, ob der Eingriff durch eine Einwilligung, mutmaßliche Einwilligung oder wg. rechtfertigenden Notstands gerechtfertigt ist. Beachte: Ärztliche Instrumente sind bei bestimmungsgemäßer Anwendung durch einen zugelassenen Arzt keine gefährlichen Werkzeuge i.s.d. 224 Abs. 1 Nr. 2.
Rechtfertigende Einwilligung bei ärztlichen Eingriffen (1) Voraussetzungen: 1) Dispositionsbefugnis des Einwilligenden Aus 216 StGB folgt, dass eine Einwilligung in die Beendigung des Lebens rechtlich unzulässig ist. Wegen der Höchstpersönlichkeit des Rechtsguts der körperlichen Integrität können Eingriffe bei mündigen Personen nur durch die Einwilligung des Betroffenen selbst gerechtfertigt werden, Angehörige sind nicht dispositionsbefugt.
Rechtfertigende Einwilligung bei ärztlichen Eingriffen (2) 2) Einwilligungsfähigkeit betroffene Person muss nach ihrer geistigen und sittlichen Reife die Bedeutung und Tragweite der Einwilligung überblicken können. Hierfür kommt es nicht auf die Geschäftsfähigkeit nach bürgerlichem Recht oder ein bestimmtes Alter an, sondern auf die Konstellation des konkreten Falles 3) Einwilligungserklärung vor dem Eingriff abgegeben
Rechtfertigende Einwilligung bei ärztlichen Eingriffen (3) 4) Freiheit von Willensmängeln Einwilligung darf insbesondere nicht durch Zwang oder durch Täuschung erlangt oder durch eine falsche ärztliche Aufklärung zustande gekommen sein. Ärztliche Aufklärung muss eine eigenverantwortliche Entscheidung des Patienten über den Eingriff und seinen Umfang ermöglichen. Dem Patienten sind die Art, Bedeutung und Tragweite des Eingriffs zu erklären, er muss über Folgen des. Eingriffs und insbesondere mögliche Risiken für seine Gesundheit und sein Leben aufgeklärt sein. Irrtümer des Einwilligenden sind nach der Rspr. nur bei Erheblichkeit, nach der Lit. nur bei Rechtsgutbezogenheit beachtlich.
Rechtfertigende Einwilligung bei ärztlichen Eingriffen (4) 5) Kein Verstoß gegen die guten Sitten, 228 StGB Einwilligungen in Humanexperimente, die nicht durch die Ethik-Kommission der Klinik gebilligt wurden, sind unwirksam; die Kastration als ärztlicher Eingriff ist nur innerhalb der Grenzen des Kastrationsgesetzes zulässig. 6) subjektives Rechtfertigungselement Arzt muß in Kenntnis der Einwilligung handeln.
Mutmaßliche Einwilligung Voraussetzungen Voraussetzungen der Einwilligung (vgl. die ersten drei Punkte bei Einwilligung ) Subsidiarität bzw. Gefahr im Verzuge mutmaßlicher Wille des Betroffenen Gewissenhafte Prüfung (str.); Handeln in Kenntnis der rechtfertigenden Lage
Ärztlicher Heileingriff Konsequenzen der Rechtsprechung zum ärztlichen Heileingriff Verletzung der Patientenautonomie (Aufklärungsmängel): Arzt ist wegen vorsätzlicher Körperverletzung strafbar Schädigung der Gesundheit bzw. Ausbleiben eines Heilerfolges (Verstoß gegen Regeln der ärztlichen Kunst): Arzt ist (u.u.) wegen fahrlässiger Körperverletzung strafbar
Beispielsfall Myom (1) Die 46jährige F hat seit mehreren Jahren Unterleibsbeschwerden, weshalb sie bereits zwei Fachärzte konsultiert hat, bevor sie sich an C wendet. Bei der Untersuchung der F stellt Chefarzt C eine doppelfaustgroße Gebärmuttergeschwulst (Myom) fest und rät zu deren Entfernung. F erklärt sich nach einem kurzen Gespräch mit der operativen Entfernung des Myoms einverstanden. Während der Operation ergibt sich, dass die Geschwulst nicht auf der Oberfläche der Gebärmutter sitzt, sondern mit ihr verwachsen ist, so dass sie nicht anders als durch Entfernung der gesamten Gebärmutter beseitigt werden kann.
Beispielsfall Myom (2) C entschließt sich zu diesem weitgehenden Eingriff und entfernt die Gebärmutter. Dabei ist er sich darüber im klaren, dass die Einwilligungserklärung der F diesen Eingriff nicht mehr erfasst, geht aber davon aus, dass er als Arzt befugt sei, medizinisch indizierte Maßnahmen notfalls auch ohne den Willen des Patienten durchzuführen. Die Operation gelingt. (vgl. BGHSt 11, 111)
Abwandlung Myom F ist bereits seit mehreren Jahren bei C in Behandlung, bis C die Operation in Betracht zieht. Er klärt F umfassend auf; F willigt auch in die mögliche Operationserweiterung ein. Hätte C die Operation rechtzeitig angeordnet, so hätte das Myom noch unproblematisch aus der Gebärmutter entfernt werden können.
Fall 1 Regeln der ärztlichen Kunst ( lege artis ) (1) Die 80-jährige Geschädigte unterzog sich einer Darmspiegelung, in deren Folge sich die Gefahr eines (mittelfristigen) Darmverschlusses zeigte. Man riet ihr zu einer Operation, in die sie nach zwei Tagen einwilligte. Zuvor war sie über den Grund der Operation und die mit dem Eingriff verbundenen Risiken (insbesondere: Wundinfektion durch Darmbakterien) aufgeklärt worden. Der A, Chefarzt der chirurgischen Abteilung und zugleich Eigentümer des Krankenhauses, führte die Operation ohne Fehler am nächsten Tag durch. In der Folgezeit entzündete sich die Wunde allerdings erheblich.
Fall 1 Regeln der ärztlichen Kunst ( lege artis ) (2) Am fünften Tag nach der Operation erhielt die Geschädigte Antibiotika, dennoch verschlechterte sich ihr Zustand weiter. Der Angeklagte entschloss sich nach weiteren zwei Tagen zu einer erneuten Operation, in welche die kaum noch ansprechbare Geschädigte durch Nicken einwilligte. Am Ende dieser Operation vernähte der Angeklagte einen mit Zitronensaft getränkten Streifen in die Wunde. Jenen hatte er von Pflegekräften aus handelsüblichen Früchten mittels einer Haushaltspresse in der Stationsküche auspressen lassen....
Fall 1 Regeln der ärztlichen Kunst ( lege artis ) (3) Der Angeklagte war aufgrund "persönlicher beruflicher Erfahrung" davon überzeugt, Zitronensaft sei allgemein keimtötend und daher ein geeignetes Mittel zur Behandlung von Wundheilungsstörungen; einen wissenschaftlichen Erfahrungssatz dieser Art gibt es allerdings nicht. Die Geschädigte verstarb zehn Tage nach der zweiten Operation an der Entzündung. Dass sich die Einbringung des mit nicht sterilem Zitronensaft getränkten Wundstreifens auf den Verlauf der Entzündung negativ ausgewirkt hat, konnte nicht festgestellt werden.
Fall 2 Einwilligung der Erziehungsberechtigten in Schönheitschirurgie (1) Die (alleinerziehende) F hat große Pläne mit ihrer 15jährigen Tochter T. Im kommenden Jahr soll sie an einer Model-Casting-Show teilnehmen. Schon jetzt sind aber nach Fs Einschätzung die Brüste von T zu stark entwickelt, sie hält eine Verkleinerung für angezeigt. Sie stellt die T dem Schönheitschirurgen Sch vor. Sch ist der Überzeugung, dass T die Bedeutung und Folgen des Eingriffs nicht überblickt. Auf vorsichtige Nachfrage antwortet T:
Fall 2 Einwilligung der Erziehungsberechtigten in Schönheitschirurgie (2) Mama ist meine Managerin sie weiß, was für meine Karriere gut ist. Obwohl Schs Zweifel sich hierdurch verstärken, lässt er sich von F eine Einwilligungserklärung unterschreiben und führt den medizinisch nicht indizierten Eingriff durch.
Fall 3 Eigenblutdoping Der Profi-Radfahrer R wendet sich an den Arzt A. Er habe gehört, dass mit Eigenblutdoping die Ergebnisse deutlich verbessert werden könnten. Das sei zwar nicht ganz in Ordnung, aber ja wohl auch nicht unfair, da er ja sonst keine Medikamente zu sich nehme. A findet das auch, entnimmt dem S eine gewisse Menge Blut, das er entsprechend behandelt und ihm kurz vor dem Wettkampf wieder injiziert. Tatsächlich ist dieses Vorgehen von den Sportverbänden strikt verboten, was zumindest dem A auch hinlänglich bekannt war.
Fall 4 Personalmangel und erschöpfte Ärzte (1) Nach einer ordnungsgemäß durchgeführten Operation an P verlässt der Chirurg, wie in der Klinik üblich, den Raum. Der für die Überwachung des Aufwachens zuständige Anästhesist B, der völlig überarbeitet und übermüdet war, setzte sich in diesem Moment kurz auf einen Stuhl und fiel in einen Sekundenschlaf. Genau in diesem Augenblick bäumte sich der narkotisierte P auf, fiel vom Tisch, verletzte sich schwer am Kopf und starb an dieser Verletzung. Die Überarbeitung des B war Folge eines chronischen Personalmangels, den B gegenüber seinem Chefarzt C mehrfach angemerkt hatte.
Fall 4 Personalmangel und erschöpfte Ärzte (2) Dieser hatte daran jedoch nichts geändert. B hatte häufiger daran gedacht, dass er keine Behandlungen vornehmen sollte, wenn er zu müde war. Allerdings war in den meisten dieser Situationen kein anderer Arzt greifbar, der seinen Platz hätte übernehmen können.
Fall 5 Ärztliche Schweigepflicht Arzt A behandelt den drogenabhängigen Patienten P. Während einer Untersuchung erzählt ihm P, dass er oft völlig zugedröhnt also unter derart starkem Drogeneinfluss, dass er nicht mehr zurechnungsfähig ist mit dem Auto fährt. A versucht, ihm das auszureden, jedoch ohne Erfolg. Deshalb ruft A schließlich bei der Polizei an und berichtet dem Polizeibeamten von den Aussagen des P.
Ärztliche Schweigepflicht (1) Wer sich als Patientin oder Patient in ärztliche Behandlung begibt, kann erwarten, dass alles, was der Arzt oder die Ärztin im Rahmen der Berufsausübung erfährt, geheim bleibt. Nur so kann das zwischen Arzt und Patient erforderliche Vertrauen entstehen. Der Arzt unterliegt der Schweigepflicht hinsichtlich aller Tatsachen, die der Patient ihm im Rahmen der ärztlichen Behandlung anvertraut hat. Das Recht der Patienten auf Einhaltung der Schweigepflicht
Ärztliche Schweigepflicht (2) folgt aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung, das grundgesetzlich in Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG geschützt wird. Untergesetzlich wird es durch 9 der Berufsordnung für Ärzte und Ärztinnen im Land Bremen (im Folgenden BO ) und durch 203 StGB abgesichert. Flankiert wird der strafrechtliche Schutz durch ein umfassendes Zeugnisverweigerungsrecht des Arztes vor Gericht ( 53 StGB, 383 ZPO).
Umfang der Schweigepflicht (1) Damit erstreckt sich die Schweigepflicht auf die Art und den Verlauf der Krankheit, die Anamnese, die Diagnose und die Therapiemaßnahmen, psychische Auffälligkeiten, körperliche und geistige Besonderheiten, Patientenakten, Röntgenbilder und Untersuchungsergebnisse sowie alle Angaben über die persönlichen, beruflichen, wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse. Auch die Identität des Patienten wird vom Geheimnisbegriff umfasst, ebenso wie der Umstand, dass der Patient einen Arzt aufgesucht hat.
Umfang der Schweigepflicht (2) Die von der Schweigepflicht erfassten Tatsachen müssen geheim sein, dass heißt sie dürfen nur einem nach Person und Anzahl festgelegten Personenkreis bekannt und folglich nicht jedem zugänglich und damit offenkundig sein.
Ärztliche Schweigepflicht nach dem Tod des Patienten Die Schweigepflicht des Arztes gilt auch über den Tod des Patienten hinaus. Die Verfügungsbefugnis des Patienten über seine Geheimnisse stellt ein höchstpersönliches Recht dar und geht daher nicht mit dem Tod auf die Erben über, sodass der Arzt auch diesen gegenüber zur Verschwiegenheit verpflichtet ist.
Verstoß gegen die Schweigepflicht durch Offenbaren von Tatsachen Ein Verstoß gegen die Schweigepflicht liegt vor, wenn der Arzt das Geheimnis- ohne dazu befugt zu sein- offenbart oder verwertet. Ein Offenbaren liegt dann vor, wenn der Arzt das Geheimnis an einen Dritten weitergibt, dem diese Tatsache noch nicht bekannt war.
Möglichkeiten der gerechtfertigten Offenbarung (1) Keine unbefugte Offenbarung liegt vor, wenn die Preisgabe gerechtfertigt ist. Diese Rechtfertigung kann sich aus gesetzlichen Offenbarungspflichten und -rechten sowie aus allgemeinen Rechtfertigungsgründen des Strafgesetzbuches ergeben.
Möglichkeiten der gerechtfertigten Offenbarung (2) Gesetzliche Offenbarungspflichten Gesetzliche Offenbarungspflichten hat der Gesetzgeber z.b. in 11 Abs. 2, 12, 13 GeschlechtskrankheitenG, 6-12 InfektionsschutzG, 138, 139 Abs. 3 StGb, 7 TransplantationsG 100 SGB X, 202 SGB VII, 294 ff. SGB V festgelegt.
Möglichkeiten der gerechtfertigten Offenbarung (3) Andere Rechtfertigungsgründe Willigt der Patient gegenüber dem Arzt in die Offenbarung ein, entbindet er ihn damit von der Schweigepflicht. Diese Einwilligung ist allerdings nur wirksam, wenn der Patient Träger des generell durch die Offenbarung verletzten Rechtsgutes ist, dieses seiner Disposition unterliegt, der Patient einwilligungsfähig ist und die Einwilligung nicht durch Täuschung, Drohung oder Zwang erwirkt wurde.
Möglichkeiten der gerechtfertigten Offenbarung (4) Eine Offenbarungsbefugnis ist weiterhin immer dann anzunehmen, wenn eine gegenwärtige Gefahr für ein das Geheimhaltungsinteresse des Patienten wesentlich überragendes Rechtsgut besteht und diese Gefahr nicht anders als durch Offenbarung des Geheimnisses abgewendet werden kann. Hierbei ist eine Abwägung der Interessen im jeweiligen Einzelfall erforderlich.
Rechtsfolgen beim Verstoß gegen die Schweigepflicht Verletzt der Arzt oder eine sonst der Schweigepflicht unterliegende Person die Schweigepflicht, macht diese sich gem. 203 StGB der Verletzung von Privatgeheimnissen strafbar. Der Arzt verstößt zudem gemäß 9 BO gegen geltendes Berufsrecht, so dass er mit berufsrechtlichen Konsequenzen die Ärztekammer oder deren Berufsgerichtsbarkeit zu rechnen hat.