Abschlussbericht. Projekttitel "Therapieprozess- und Ergebnisforschung bei ALITA (Ambulante Langzeit-Intensiv-Therapie für Alkoholkranke)"



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Abschlussbericht Projekttitel "Therapieprozess- und Ergebnisforschung bei ALITA (Ambulante Langzeit-Intensiv-Therapie für Alkoholkranke)" AZ 119(328)-4919-4/149 Prof. Dr. Dr. Hannelore Ehrenreich, Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin Hermann-Rein-Str. 3 37075 Göttingen Tel: 0551-3899628, Fax: 0551-3899670 E-mail: ehrenreich@em.mpg.de

Inhaltsverzeichnis 1 EINLEITUNG 3 2 ALKOHOLABHÄNGIGKEIT 4 3 MODELLPROJEKT ALITA 10 3.1 Elemente des Therapieprogramms ALITA 10 3.2 Forschungsstand zu ALITA und Ableitung der untersuchten Teilprojekte 13 4 BEARBEITUNG DER UNTERSUCHTEN TEILPROJEKTE 15 4.1 Teilprojekt 1 17 4.1.1 Ausgangspunkt 17 4.1.2 Fragestellung und Hypothesen 21 4.1.3 Material und Methoden 21 4.1.4 Ergebnisse 35 4.1.5 Kurzzusammenfassung der Ergebnisse aus Teilprojekt 1 91 4.2 Teilprojekt 2 95 4.2.1 Ausgangspunkt 95 4.2.2 Fragestellung 96 4.2.3 Material und Methoden 97 4.2.4 Ergebnisse 97 4.2.5 Kurzzusammenfassung der Ergebnisse aus Teilprojekt 2 131 4.2.6 Exkurs: Exemplarische Untersuchung des Krankheitskonzepts an einer Teilstichprobe (n=38) für die Untersuchungszeitpunkte Therapiebeginn (t1) und Halbjahresmarke (t2) 131 5 SCHLUSSFOLGERUNGEN AUS DEN TEILPROJEKTEN 1 UND 2 143 6 LITERATUR 148 Zeichen für statistische Fehlerwahrscheinlichkeiten: *p=.05 **p.01 ***p.001 2

1 Einleitung Die Ambulante Langzeit-Intensivtherapie für Alkoholkranke, "ALITA", ist ein biopsychosoziales Therapiekonzept für schwer alkoholkranke Patienten, das als zweijähriges ambulantes Behandlungsprogramm der stationären Entgiftung folgt. Wesentliche Bestandteile der Therapie sind: (1) Hochfrequente Kurzgespräche, anfangs täglich, mit langsamer Reduktion der Kontaktfrequenz bis auf eine einmal wöchentlich stattfindende ALITA-Gruppe. (2) Therapeutenrotation. (3) Unterstützung der sozialen Reintegration und aggressive Nachsorge. (4) Induktion von Alkoholunverträglichkeit durch Hemmstoffe der Acetaldehyd-Dehydrogenase. (5) Kontrolle durch überwachte Einnahme von Aversiva und regelmäßige Urinuntersuchungen auf Alkohol. Von 1993-2002 wurden 180 schwerst Alkoholkranke (144 Männer; 36 Frauen) in sechs Rekrutierungsperioden konsekutiv aufgenommen und behandelt. Die Patienten waren bei Aufnahme in das Programm 44 ± 8 Jahre alt, 18 ± 7 Jahre alkoholabhängig, zuletzt mit einem täglichen Konsum von 437 ± 162 g reinen Alkohols, hatten 7 ± 9 stationäre Entgiftungen sowie 1 ± 1 stationäre Langzeittherapien hinter sich. Bei Eintritt in ALITA waren 58% der Patienten arbeitslos, 81% litten an psychiatrischen komorbiden Störungen aller Kategorien (DSM-IV, 53% Achse-I-Störungen, 61% Achse-II-Störungen). 30% wiesen schwere Suizidversuche in der Vorgeschichte auf. Die körperliche Beeinträchtigung der Patienten ist gravierend: während bei nur 10.6% leichte Folgeschäden (z.b. Fettleber) diagnostiziert wurden, litten 32.8% unter deutlichen (z.b. epileptische Anfälle), 43.9% unter schweren (z.b. Polyneuropathie) und 12.8% unter schwersten (z.b. Leberzirrhose) Alkoholfolgekrankheiten. In der aktuellen 7-Jahreskatamnese liegt der Prozentsatz abstinenter Patienten bei ca. 50%. Die Arbeitslosenrate fiel auf 22% (regionale Arbeitslosenquote > 15%). Die komorbiden psychiatrischen Störungen Angst und Depression (DSM-IV, Achse I) gingen von ca. 60% auf unter 13% zurück. Die hohe Rate an Langzeitabstinenz und der drastische Rückgang der komorbiden Störungen legen es nahe, das ALITA-Setting generell zur ambulanten Behandlung chronisch psychisch kranker Menschen vorzuschlagen. Aufgrund der schweren Beeinträchtigung der Patienten bei Eintritt in ALITA und der ausgezeichneten Rehabilitationsleistungen des Programms wird eine regelhafte duale Finanzierung durch Krankenkassen und Rentenversicherer angestrebt. Auf dem Weg dorthin wäre ein dreijähriges multizentrisches Modellprojekt auf Franchisebasis (Reproduzierbarkeit und Qualitätskontrolle) wünschenswert. Um ALITA an anderen Standorten effektiv implementieren zu können, und auch um Elemente des Konzeptes integrierbar für andere 3

Programme zu machen, war es zunächst vor allem wichtig, die bisherigen Ergebnisdaten in dem Projekt "Therapieprozess- und Ergebnisforschung bei ALITA (Ambulante Langzeit- Intensiv-Therapie für Alkoholkranke) AZ 119(328)-4919-4/149" differenzierter auszuwerten und die Wirkfaktoren der Therapie mittels Prozess-Analysen näher zu erforschen. 2 Alkoholabhängigkeit Die Alkoholabhängigkeit zeigt sich in ihrer Entstehung, Aufrechterhaltung und den Folgeschäden als heterogenes Krankheitsbild. Körperliche Störungen, psychische Beeinträchtigungen und soziale Probleme bilden interindividuell variierende Muster (Tabelle 1). Die Psychopathologie des Alkoholismus entwickelt ihre Vielfalt vor allem durch eine erhöhte Prävalenz verschiedener komorbider psychiatrischer Störungen. Berücksichtigt man die Chronizität der Alkoholkrankheit, ihr heterogenes und schwankendes Verlaufsmuster, die erhöhte Mortalität, sowie die langfristig niedrigen Abstinenzchancen der meisten alkoholabhängigen Patienten, zeichnet sich ein Verständnis der Störung und ihrer Behandlung ab, das einen hohen gesundheitspolitischen Reformbedarf impliziert. Die Alkoholkrankheit lässt sich in die Gruppe chronischer Krankheiten wie Arthritis, Bluthochdruck, Asthma und Diabetes einordnen und macht eine umfassende, flexible und mitunter lebenslange Behandlung erforderlich (Ehrenreich et al., 2000; Ehrenreich & Krampe, 2002; Krampe et al., 2001a; O'Brien & McLellan, 1996). Tabelle 1: Facetten der Alkoholabhängigkeit Problembereich Beispielhafte Symptome Körperliche Toleranzentwicklung; Körperliche Störungen Entzugserscheinungen (Schwitzen, erhöhter Puls, Handtremor, Schlafstörungen, Übelkeit, Erbrechen); Psychische Beeinträchtigungen Soziale Probleme aus: Krampe & Ehrenreich, 2006 Malnutrition; Schädigungen fast aller Organsysteme Gier nach Alkohol; Kontrollverlust hinsichtlich Beginn, Dosis und Beendigung des Alkoholkonsums; affektive Dysregulation; Aggressivität; Konzentrationsschwierigkeiten; verringertes Selbstwertgefühl; Spiegeltrinken; periodisches Trinken Vernachlässigung von Familie, Freunden, Arbeit und Freizeit; Konflikte und aggressive Auseinandersetzungen mit dem Partner und der Familie; Schulden; Abmahnung durch den Arbeitgeber; Arbeitslosigkeit, Führerscheinverlust 4

Diagnose Als zentrale alkoholbedingte Störungen lassen sich Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit unterscheiden. Sie werden diagnostiziert, wenn ein Patient eine bestimmte Anzahl und ein spezifisches Muster verschiedener Symptome erfüllt. Substanzabhängigkeit und -missbrauch werden nach dem wichtigsten psychiatrischen Diagnosemanual DSM-IV (AmericanPsychiatricAssociation, 2000) für alle Suchtstoffe identisch definiert (Tabelle 2 und Tabelle 3). Davon abzugrenzen ist der riskante Gebrauch, d.h. das Überschreiten einer bestimmten Menge an täglich konsumiertem reinen Alkohol, so dass das Risiko für Folgeschäden erhöht ist, z. B. ab 20 g/d für Frauen bzw. ab 30 g/d für Männer. Weitere alkoholbedingte Störungen beschreiben diverse Alkoholfolgeschäden. Sie werden entweder der Gruppe der psychiatrischen alkoholinduzierten Störungen (z.b. akute Intoxikation, Entzugssyndrom, Intoxikationsdelir, Entzugsdelir, Demenz, amnestisches Syndrom, psychotische Störung) oder der somatischen Alkoholfolgekrankheiten zugeordnet (z.b. Fettleber, Leberzirrhose, Pankreatitis, Polyneuropathien, Gastritis). Tabelle 2: Diagnosekriterien für Substanzabhängigkeit nach DSM-IV Ein unangepasstes Muster von Substanzgebrauch führt in klinisch bedeutsamer Weise zu Beeinträchtigung oder Leiden, wobei sich mindestens drei der folgenden Kriterien manifestieren, die zu irgendeiner Zeit in demselben 12-Monats-Zeitraum auftreten: 1) Toleranzentwicklung, definiert durch eines der folgenden Kriterien: a) Verlangen nach ausgeprägter Dosissteigerung, um einen Intoxikationszustand oder erwünschten Effekt herbeizuführen, b) deutlich verminderte Wirkung bei fortgesetzter Einnahme derselben Dosis. 2) Körperliche Entzugssymptome, die sich durch eines der folgenden Kriterien äußern: a) charakteristisches Entzugssyndrom der jeweiligen Substanz, b) dieselbe (oder eine ähnliche) Substanz wird eingenommen, um Entzugssymptome zu lindern oder zu vermeiden. 3) Die Substanz wird häufig in größeren Mengen oder länger als beabsichtigt eingenommen. 4) Anhaltender Wunsch oder erfolglose Versuche, den Substanzgebrauch zu verringern oder zu kontrollieren. 5) Viel Zeit für Aktivitäten, um die Substanz zu beschaffen, sie zu sich zu nehmen oder sich von ihren Wirkungen zu erholen. 6) Wichtige soziale, berufliche oder Freizeitaktivitäten werden aufgrund des Substanzmissbrauchs aufgegeben oder eingeschränkt. 7) Fortgesetzter Substanzmissbrauch trotz Kenntnis eines anhaltenden oder wiederkehrenden körperlichen oder psychischen Problems, das wahrscheinlich durch den Substanzmissbrauch verursacht oder verstärkt wurde. 5

Tabelle 3: Diagnosekriterien für Substanzmissbrauch nach DSM-IV A. Ein unangepasstes Muster von Substanzgebrauch führt in klinisch bedeutsamer Weise zu Beeinträchtigung oder Leiden, wobei sich mindestens eines der folgenden Kriterien innerhalb desselben 12-Monats-Zeitraums manifestiert: 1) Wiederholter Substanzgebrauch, der zu einem Versagen bei der Erfüllung wichtiger Verpflichtungen bei der Arbeit, in der Schule oder zu Hause führt. 2) Wiederholter Substanzgebrauch in Situationen, in denen es aufgrund des Konsums zu einer körperlichen Gefährdung kommen kann. 3) Wiederkehrende Probleme mit dem Gesetz in Zusammenhang mit dem Substanzgebrauch. 4) Fortgesetzter Substanzgebrauch trotz ständiger oder wiederholter sozialer oder zwischenmenschlicher Probleme, die durch die Auswirkungen der psychotropen Substanz verursacht oder verstärkt werden. B. Die Symptome haben niemals die Kriterien für Substanzabhängigkeit der jeweiligen Substanzklasse erfüllt. Die Unterscheidung zwischen riskantem Konsum, Missbrauch und Abhängigkeit hat wichtige therapeutische Implikationen. Bei riskantem Gebrauch und Missbrauch bestehen alternative Behandlungsziele, z.b. Dosisreduktion oder Abstinenz. Häufig eingesetzte Therapieverfahren mit mittelgroßen Effektstärken stellen hier Kurzinterventionen, wie z.b. das so genannte Motivational Interviewing, dar (Burke et al., 2003; Moyer et al., 2002). Im Gegensatz dazu erfordert die Alkoholabhängigkeit eine intensive und langfristige Behandlung, die sich konsequent am Therapieziel der Abstinenz orientiert. Zur Differentialdiagnose von Abhängigkeit, Missbrauch oder riskantem Konsum sollten die Ergebnisse einer ausführlichen Ernährungs- und Suchtanamnese, einer körperlichen Untersuchung inklusive Blutbefund (vor allem erhöhte Werte der Leberenzyme Gamma- GT, GOT und GPT, von MCV, MCH oder erniedrigte Harnstoffwerte weisen auf alkoholbedingte Störungen hin), eines strukturierten psychiatrischen Interviews und suchtspezifischer Tests und Interviews (z.b. EuropASI, Gsellhofer et al., 1999; SESA, John et al., 2001) verwendet werden. Als Screeningverfahren haben sich sehr kurze Fragebögen (z.b. LAST, Rumpf et al., 2001) bewährt, die mit guter Sensitivität und Spezifität unterscheiden können, ob eine alkoholbedingte Störung vorliegt oder nicht. Epidemiologie Die Alkoholabhängigkeit zählt zu den häufigsten psychischen Störungen. Die Angaben zur Lebenszeitprävalenz schwanken zwischen 7.9% (Regier et al., 1990) und 14.1% (Kessler et al., 1994). Bei Männern stellt sie mit 20.1% die häufigste psychische Störung dar (gefolgt von Major Depression, Alkoholmissbrauch und Sozialphobie), bei Frauen ist sie mit 8.2% Lebenszeitprävalenz die vierthäufigste aller psychischen Störungen (nach 6

Major Depression, einfacher Phobie und Sozialphobie) (Kessler et al., 1994). Für die Bundesrepublik Deutschland wurden folgende aktuelle Ergebnisse ermittelt: eine 12- Monats-Prävalenz für Abhängigkeit von 3% (wobei Männer 3.7 mal häufiger betroffen sind als Frauen), für Missbrauch von 5%, und für riskanten Konsum von 8%, also insgesamt 16% alkoholbezogene Störungen (Kraus & Bauernfeind, 1998). Der volkswirtschaftliche Schaden durch Alkoholkonsum ist in Deutschland mit jährlich ca. 21 Milliarden Euro, 42.000 Toten, 14.000 Frührenten, 40.000 Reha-Maßnahmen, 570.000 Krankenhausaufenthalten und 850.000 Arbeitsunfähigkeitsfällen beträchtlich (Bergmann & Horch, 2000). Verlauf und Prognose Obwohl sich Alkoholismus individuell sehr unterschiedlich entwickeln kann, haben Langzeitstudien, die zwischen 4 und 35 Jahre überblickten, wesentliche Verlaufsmerkmale identifiziert (Finney & Moos, 1991; Lewis et al., 1995; Liskow et al., 2000; de Soto et al., 1989; Vaillant, 1995): Sowohl Alkoholabhängigkeit als auch -missbrauch gehen langfristig mit deutlich erhöhten Sterblichkeitsraten zwischen 15% und 60% einher. Somit ist das Mortalitätsrisiko für Menschen mit Alkoholismus 2.5 bis 9 mal höher als bei Menschen ohne Alkoholismus. Mit ca. 5% - 30% der Stichproben zu Studienbeginn ist im Langzeitverlauf nur ein kleiner Prozentsatz abstinent; die meisten Patienten sind langfristig rückfällig (25%-60%), gestorben (15% - 60%), oder wechseln zwischen Phasen der Abstinenz, des reduzierten Konsums und des Rückfalls (10%-16%). Während Chronizität, schwere körperliche Folgekrankheiten, eine komorbide dissoziale Persönlichkeitsstörung, häufige Trinkexzesse in der Vorgeschichte, Trennung vom Partner und Arbeitslosigkeit als Prädiktoren für einen ungünstigen Verlauf identifiziert worden sind, werden eine stabile Partnerschaft, Wiederbeschäftigung, die Dauer einer Behandlung und die langfristige Teilnahme an Selbsthilfegruppen häufig als Prädiktoren für eine positive Prognose genannt. Der Erholungsprozess schreitet in den ersten Jahren der Abstinenz am schnellsten voran, dauert jedoch insgesamt 10 Jahre und länger an. Erst ab dem dritten abstinenten Jahr ist das Rückfallrisiko deutlich und relativ stabil niedrig. Die Alkoholabhängigkeit ist das Ergebnis heterogener pathogenetischer Prozesse und Interaktionen, die in ihrer Komplexität erst ansatzweise aufgeklärt sind und am besten in offenen biopsychosozialen Erklärungsmodellen dargestellt werden (Abbildung 1). 7

Persönlichkeitsmerkmale: erhöhte Stressvulnerabilität, Impulsivität, Hyperaktivität, Sensation Seeking Lernprozesse: klassische Konditionierung, instrumentelle Konditionierung, Modell-Lernen Interaktion mit komorbiden Störungen psychisch Genetische Disposition Niedrige physiologische Alkoholempfindlichkeit Beeinträchtigung der körperlichen Stressreaktion DROGE: Pharmakologie des Alkohols ABHÄNGIGKEITSENTWICKLUNG Eltern Peer-Group Partner Körperliche Toleranzentwicklung und Entzugserscheinungen körperlich sozial Kinder Neurobiologische Korrelate des Craving Arbeitslosigkeit Körperliche Folgekrankheiten Belastende Lebensereignisse Abbildung 1: Ein biopsychosoziales Faktorenmodell der Alkoholabhängigkeit aus: Krampe & Ehrenreich, 2006 Genetische Disposition Übereinstimmend belegen Familien-, Zwillings-, Adoptions- und High-Risk-Studien, dass genetische Faktoren bei der Entstehung der Alkoholabhängigkeit einen bedeutenden Einfluss ausüben (z.b. Heath et al., 1997; Kendler, 2001; Merikangas et al., 1998). Kendler (2001) kommt zusammenfassend zu dem Schluss, dass die Erblichkeit für die Alkoholkrankheit bei Frauen wie bei Männern zwischen 50-64% liegt. Somit spielen genetische Faktoren und individuumspezifische Umweltfaktoren bei der Entwicklung dieser Störung eine gleich große Rolle. Das am deutlichsten bestätigte prämorbide Merkmal für die spätere Entwicklung einer Alkoholabhängigkeit ist eine niedrige Empfindlichkeit gegenüber den unangenehmen Wirkungen von Alkohol (Schuckit & Smith, 1996). Dauerhafte pathophysiologische Veränderungen Beim Konsum von Alkohol kommt es zu Veränderungen in der Interaktion wichtiger zentral und peripher wirkender Neurotransmitter und Hormone, z. B. GABA, Glutamat, Dopamin, Opioide, Adrenalin, Noradrenalin, Serotonin, Acetylcholin, Cannabinoide, CRF und Neuropeptid Y. Dysregulationen in diesen Transmittersystemen sind sowohl für den 8

Alkoholrausch verantwortlich, als auch für die Alkoholabhängigkeit und das Entzugssyndrom. Bei den Gehirnstrukturen, die bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Sucht beteiligt sind, handelt es sich vorwiegend um Teile des sogenannten limbischen Systems, vor allem Hippocampus und Amygdala, den Nucleus caudatus, Teile des Frontallappens und den Nucleus accumbens. Diese Strukturen interagieren komplex miteinander und repräsentieren zusammen ein System, das als Belohnungssystem des Gehirns bezeichnet wird. Die wesentlichen neurobiologischen Veränderungen, die der Abhängigkeit zugrunde liegen, sind irreversibel (Koob & Le Moal, 2001; Lingford-Hughes & Nutt, 2003; Robbins & Everitt, 1999). Die Störungen wichtiger physiologischer Systeme, die durch die Abhängigkeit geschädigt worden sind, dauern auch während kontrollierter Abstinenz lange an. Die Regenerationsprozesse erstrecken sich oft auf drei bis neun Monate, und einige Parameter bleiben persistierend gestört. Beispiele sind das Stressreaktionssystem, die Rate an Chromosomenaberrationen, hämatologische Parameter, die Regulation der Sexualhormone und die Wasser- und Elektrolythomöostase (Doering et al., 2003; Ehrenreich et al., 1997b; Hasselblatt et al., 2001; Hasselblatt et al., 2003; Hüttner et al., 1999; Jahn et al., 2004; Schmitt et al., 1999). Lernprozesse der Abhängigkeit und Einflüsse des sozialen Umfeldes Operante und klassische Konditionierungsprozesse sowie das soziale Umfeld haben einen entscheidenden Einfluss auf die Abhängigkeitsentwicklung, den Rückfall und die Abstinenzaufrechterhaltung. Aus der Perspektive der Lernpsychologie stellt die situationsübergreifende und zeitliche Stabilität des selbstschädigenden Suchtverhaltens das Ergebnis von jahrzehntelangen hochüberlernten Lernprozessen dar. Lernen wirkt jedoch nicht ausschließlich behavioral, sondern wird durch kognitive, emotionale, volitionale und interpersonale Faktoren vermittelt (vgl. Bigelow, 2001; Collins & Bradizza, 2001; Drobes et al., 2001). Interaktion mit komorbiden psychischen Störungen Über die Hälfte der alkoholabhängigen Patienten leidet an einer weiteren psychischen Störung, wobei Suchtkrankheit und komorbide Störungen in Entstehung, Entwicklung und Verlauf komplexe und dynamische Interaktionen aufweisen. Zu den häufigsten komorbiden Störungen gehören Persönlichkeitsstörungen (ca. 30-60%), Angststörungen (20-30%) und affektive Störungen (20%) (Kessler et al., 1997; Regier et al., 1990; Ross, 1995; Verheul, 2001). Persönlichkeitsmerkmale Die Ergebnisse empirischer Studien zeigen klar, dass die früher angenommene Alkoholiker- oder Suchtpersönlichkeit nicht existiert. Die Persönlichkeitsmuster von 9

suchtkranken Menschen sind genauso vielfältig wie die von nicht süchtigen Menschen. Es wurden jedoch einige Persönlichkeitsmerkmale gefunden, die mit der späteren Entwicklung einer Alkoholabhängigkeit assoziiert sind, z. B. niedrige physiologische und subjektive Empfindlichkeit gegenüber Alkohol, Impulsivität, Hyperaktivität, Sensation Seeking sowie eine erhöhte Stressvulnerabilität (vgl. Cox et al., 2001; Verheul, 2001). Übereinstimmend berichten Meta-Analysen und Literaturübersichten der vergangenen 30 Jahre Abstinenzraten nach Therapieende von ca. 30% nach einer Sechs-Monats- Katamnese. Alkoholismusbehandlung ist zumindest kurzfristig wirksam und kosteneffizient. Die an der 12-Schritte-Philosophie der Anonymen Alkoholiker orientierten Behandlungsprogramme, wie auch kognitiv-behaviorale Therapieansätze haben sich als gleich effektiv erwiesen (Emrick, 1974; Finney & Monahan, 1996; Miller et al., 2001; Miller & Wilbourne, 2002). Es gibt bislang keine empirischen Befunde für einen ausreichenden Erfolg einer ausschließlich pharmakotherapeutischen Alkoholentwöhnungstherapie. Dennoch hat sich die medikamentöse Unterstützung der psychotherapeutischen Suchtbehandlung durch die Anticravingsubstanzen Acamprosat und Naltrexon (Carmen et al., 2004), oder durch das Alkoholaversivum Disulfiram als hilfreich erwiesen (Ehrenreich & Krampe, 2004; Fuller & Gordis, 2004). Obwohl der kurzfristige Erfolg der herkömmlichen Alkoholismustherapie empirisch gut belegt ist, zeigen die wenigen validen Langzeituntersuchungen kaum dauerhafte Effektivität. Bei Verwendung objektiver Ergebnisvariablen (wie Atemalkohol- und Blutuntersuchungen) werden z.b. nur geringe Abstinenzraten von unter 20% nach zwei Jahren ermittelt (Burtscheidt et al., 2002). Eine Ausnahme stellt das ambulante Therapieprogramm ALITA dar. Die Integration von intensiver Therapie und langer Behandlungsdauer berücksichtigt sowohl die in der frühen Abstinenz extrem beeinträchtigte psychobiologische Stresstoleranz der Patienten, als auch die Chronizität der Alkoholkrankheit (siehe Ehrenreich et al., 1997b; Wagner et al., 2003). Regelmäßige Katamnesekontakte, die ein kurzes Gespräch und Urin- oder Blutuntersuchungen auf Alkohol umfassten, erbrachten eine objektiv ermittelte Abstinenzrate von über 50% nach sieben Jahren (Krampe et al., 2006a). 3 Modellprojekt ALITA 3.1 Elemente des Therapieprogramms ALITA Das biopsychosoziale Therapiekonzept von ALITA zielt auf einen sofortigen Beginn der sozialen Wiedereingliederung der Patienten unter psychotherapeutischer und medizinischer Begleitung ab. Als vierstufiges ambulantes Behandlungsprogramm schließt 10

sich ALITA direkt an die stationäre Entgiftung an und erstreckt sich über insgesamt zwei Jahre (siehe Tabelle 4). Tabelle 4: Die praktische Durchführung des Therapieprogramms Stationäre Vorphase: Entgiftung (2-3 Wochen) Einführungsgespräch, Motivationsarbeit, Selektion, Anamneseerhebung, Aufbau einer Arbeitsbeziehung, Ausloten der sozialen Einbindung, Beginn der täglichen kontrollierten Einnahme von Colme (Calciumcarbimid, 50 mg), täglich Urinkontrollen Ambulante Phase I: Intensivphase (tägliche Kontakte über 3 Monate) Täglich 15 Minuten Gespräch (primär supportiv), praktische Unterstützung der sozialen Reintegration, Gespräche mit Angehörigen, Hausbesuche, täglich kontrollierte Einnahme von Colme (Calciumcarbimid, 50 mg), täglich Urinuntersuchung auf Alkohol und andere Suchtstoffe, aggressive Nachsorge Ambulante Phase II: Stabilisierungsphase (je nach individuellem Bedarf 3-4 Monate) Schrittweise Kontaktreduktion auf dreimal pro Woche, weiterhin jeweils 15 Minuten supportives Gespräch, Intensivierung der sozialen Reintegrationsbestrebungen, regelmäßige Angehörigengespräche (individuell ausgerichtet), kontrollierte Einnahme von Antabus (Disulfiram, 400-500 mg), Urinkontrolle, aggressive Nachsorge Ambulante Phase III: Ablösungsphase (Erreichen der "Einjahresmarke") Kontaktreduktion auf zweimal pro Woche, jetzt jeweils 30 Minuten Gespräch, Stabilisierung der sozialen Reintegration, kontrollierte Einnahme von Antabus (Disulfiram, 400-500 mg), Urinkontrolle, aggressive Nachsorge Ambulante Phase IV: Nachsorgephase (Überschreiten der "Einjahresmarke") Einmal wöchentlich Teilnahme an der ALITA-Gruppe (therapeutenbegleitete Gruppe), initial noch wöchentlich ein Einzelgespräch (30 Minuten), kontinuierlich aggressive Nachsorge; Ziel: schrittweise Einstellung von Einzelgesprächen und Aversionsmedikation, dauerhafte, regelmäßige Teilnahme an Selbsthilfegruppen oder der ALITA-Gruppe Wesentliche Therapieelemente von ALITA sind: Hochfrequente Kurzgesprächskontakte: Strukturierte, sichernde Anbindung durch supportive, wenig fordernde Kurzgespräche; initial täglich 15 Minuten, einschließlich an Wochenenden und Feiertagen; langsame Reduktion der Kontaktfrequenz mit dem Ziel einer regelmäßigen und dauerhaften wöchentlichen Gruppenteilnahme. Kriseninterventionsbereitschaft: Das ALITA-Team ist im Notfall für die Patienten immer erreichbar: 24 Stunden, 365 Tage. 11

Soziale Reintegration und Hausbesuche: Konkrete Unterstützung beim Aufbau eines abstinenzfördernden sozialen Umfeldes; explizite Beteiligung der Angehörigen an der Therapie; Familien- und Paargespräche; aktive Hilfe bei Problemen am Arbeitsplatz und mit Behörden; Unterstützung bei Wohnungssuche, Umzug, Wiedereinstieg ins Berufsleben, Schuldentilgung und Klärung juristischer Angelegenheiten. Schaffung einer Alkoholunverträglichkeit: Einnahme von Calciumcarbimid (Colme ) bzw. Disulfiram (Antabus ) als so genannte Alkoholaversiva (die Hemmung des alkoholabbauenden Enzyms Acetaldehyddehydrogenase führt bei Alkoholkonsum zur Anhäufung des toxischen Acetaldehyds mit den Folgen einer "inneren Vergiftung", der so genannten "Antabusreaktion", d.h. flush-symptomatik, Blutdruckentgleisung, Pulsrasen, Übelkeit, Erbrechen, gelegentlich sogar Kreislaufkollaps (vgl. Azrin et al. 1982; Fuller 1995; Fuller & Roth 1979; Krampe et al., 2006a). Kontrolle: Kontrollierte Einnahme der Aversiva, regelmäßige Urin- und Blutuntersuchungen auf Alkohol und andere Suchtstoffe. "Aggressive Nachsorge" zur sofortigen Beendigung beginnender oder Verhinderung drohender Rückfälle (Rückfall = Notfall!): Patienten, die nicht zum vereinbarten Termin erscheinen, werden mit Telefonanrufen, mehrmaligen spontanen Hausbesuchen oder Briefkontakten zur Fortführung der Behandlung bzw. zur Wiederaufnahme der Abstinenz aufgefordert. Bei diesen "aggressiven therapeutischen Einsätzen", deren Ablauf zu Therapiebeginn mit den Patienten genau vereinbart wird, werden explizit Angehörige und nahe stehende Bezugspersonen miteinbezogen. Um dieses "Miteinbeziehen" in Notzeiten zu ermöglichen, ist der sukzessive Aufbau eines tragfähigen "Hilfsnetzes" im sozialen Umfeld von Anfang der Therapie an erforderlich. So stellt der Notfall, wenn er wirklich eintritt, keine völlig überraschende Situation mehr dar. Therapeutenrotation: Systematische Zusammenarbeit der Patienten mit mehreren gleichermaßen verantwortlichen Therapeuten des ALITA-Teams. Hierbei handelt es sich um eine Psychotherapieform, welche ganz ähnlich zu Beginn des letzten Jahrhunderts von Alfred Adler beschrieben wurde, und die für schwer betroffene psychisch kranke Patienten von erheblichem Vorteil sein dürfte (Langegger, 1990). So wird das ALITA- Konzept durch die Therapeutenrotation nicht nur umsetzbar, sondern auch besonders wirksam. Ein Team aus sechs bis sieben Therapeuten (leitender Psychiater, Psychologe, Arzt, Sozialpädagoge, Krankenpfleger, Medizindoktorand, Psychologiediplomand) ist 12

gleichermaßen für alle Patienten zuständig. Auf das klassische Bezugstherapeutensystem wird konsequent verzichtet. Vielmehr soll erreicht werden, dass jeder Therapeut mit jedem Patienten eine tragfähige Arbeitsbeziehung aufbaut. Die einzelnen therapeutischen Beziehungen entwickeln sich somit zu einer multiplen therapeutischen Allianz. Dadurch kann eine interdisziplinäre Zusammenarbeit bei der Behandlung körperlicher, psychischer und sozialer Konsequenzen der Abhängigkeit sowie eine begleitende Therapie körperlicher und psychischer komorbider Störungen simultan erfolgen. Auf der Basis der klinischen Erfahrung haben sich zwei spezifische Wirkmechanismen der Therapeutenrotation ableiten lassen: (1) Kongruenz und Wiederholung: Bestimmte Prozesse und Inhalte der Therapie werden grundsätzlich übereinstimmend durchgeführt bzw. dargestellt und oft wiederholt. (2) Verschiedenheit und Variation: die Patienten werden mit verschiedenen Aussagen und Handlungen von verschiedenen Personen konfrontiert, um bei grundsätzlicher Kongruenz eine Variation der wichtigsten Therapieinhalte und eine Beschäftigung mit neuen Sichtweisen, Interpretationen und Handlungsmöglichkeiten zu provozieren (ausführliche Darstellung in Krampe et al., 2001b; Krampe et al., 2001c; Krampe et al., 2003a; Krampe et al., 2004). 3.2 Forschungsstand zu ALITA und Ableitung der untersuchten Teilprojekte ALITA wurde 1993 als Modellprojekt begonnen und im Sommer 2003 nach Durchführung von 6 Rekrutierungsperioden (Tabelle 5) abgeschlossen. Tabelle 5: Sechs Rekrutierungsperioden ALITA 1: Okt. 1993 - Mai 1994 n = 11 ALITA 2: Febr. 1995 - Juli 1995 n = 19 ALITA 3: Juni 1996 - April 1997 n = 32 ALITA 4: April 1998 - Okt. 1999 n = 50 ALITA 5: Mai 2000 - Aug. 2001 n = 44 ALITA 6: Jan. 2002 - Juni 2002 n = 24 N = 180 Die bisherigen Ergebnisse belegen sehr deutlich, dass die Therapie wirksam ist (Ehrenreich et al., 1997a; Ehrenreich et al., 2000; Ehrenreich et al., 2002; Wagner et al., 2001; Krampe et al., 2003b; Krampe et al., 2006a). Die Abstinenzquote von 50% in der 13

aktuellen 7-Jahreskatamnese ist im Vergleich zu internationalen Studien mit kürzeren Katamnesezeiträumen und weniger stark beeinträchtigten Patienten sehr hoch (vgl. Burtscheidt et al., 2001; Burtscheidt et al., 2002; Emrick, 1974; Miller et al., 2001; Moos et al., 1999; ProjectMATCHResearchGroup, 1997; ProjectMATCHResearchGroup, 1998, Anton et al., 2006). Der Rückgang der komorbiden Angst- und affektiven Störungen während der Therapie von ca. 60% auf 13% übertrifft deutlich die Ergebnisse von Pilotstudien internationaler Arbeitsgruppen zur integrativen Therapie alkoholkranker Patienten mit komorbiden psychiatrischen Störungen (vgl. Brown et al., 1997; Drake et al., 1998; Drake et al., 2001; Fisher & Bentley, 1996; Moggi et al., 1999a; Moggi et al., 1999b; Najavits et al., 1998; Ouimette et al., 1998; Thevos et al., 2000; Weiss et al., 2000; Weiss et al., 2000). Die erfolgreiche Behandlung der psychiatrischen Komorbidität mit einem umfassenden und langfristigen Programm bestätigt außerdem Arbeiten, die gezeigt haben, dass ein bloßes Aneinanderreihen von Suchttherapie und Psychotherapie komorbider Störungen uneffektiv oder sogar schädlich für die Patienten sein kann (vgl. Bowen et al., 2000; Randall et al., 2001). Die biologischen Untersuchungen unserer Arbeitsgruppe haben des Weiteren gezeigt, dass alkoholabhängige Patienten nicht nur im Entzug, sondern auch in den ersten Monaten der Alkoholentwöhnung persistierende Störungen komplexer physiologischer Prozesse aufweisen (Ehrenreich et al., 1997b; Doering et al., 2003; Hasselblatt et al., 2001; Hasselblatt et al., 2003; Hasselblatt et al., 2006; Jahn et al., 2004; Schmitt et al., 1999). Diese tief greifenden Veränderungen regenerieren sich erst im Verlauf langfristiger stabiler Abstinenz. Die umfassende und integrative Langzeitbehandlung durch ALITA stellt das suchttherapeutische und psychotherapeutische Korrelat dieser "Kinetik der Regeneration" dar. Während die biologische Begleitforschung schon ein relativ differenziertes Bild darstellt, sind in der Therapieforschung zu ALITA noch sehr wichtige Fragen offen. Um herauszufinden, warum und wie ambulante Suchttherapie schwerstabhängiger Patienten wirkt, und um die Therapie korrekt an anderen Standorten implementieren zu können und somit eine multizentrische Überprüfung des Behandlungskonzeptes bestmöglich vorzubereiten, war es dringend erforderlich, die psychotherapeutischen Wirkfaktoren von ALITA differenziert empirisch zu untersuchen. Hierzu wurde zunächst (a) ein theoretisches Rahmenmodell entworfen und (b) während der Jahre 2000-2002 an einer Teilstichprobe (N=65) eine umfangreiche multimodale Prozessdiagnostik durchgeführt (Krampe et al., 2001a; Krampe et al., 2001c; Krampe et al., 2001b; Krampe et al., 2003a; Krampe et al., 2004). Um keine Erwartungseffekte zu erzeugen, wurden diese Prozessdaten bis zum Ende der Diagnostikphase nicht ausgewertet. 14

4 Bearbeitung der untersuchten Teilprojekte Das vom Bundesministerium für Gesundheit geförderte Projekt umfasste zwei Teilprojekte zur Erforschung zentraler Aspekte der Prozess- und Ergebnisfaktoren von ALITA. Um Forschungsfragen dieser Art bearbeiten zu können, wurde das Beobachtungsinstrument "Videoassistiertes Monitoring therapeutischer Prozesse bei chronischen psychiatrischen Krankheiten (VAMP)" entwickelt, mit dem externe Beobachter das Verhalten von Patient und Therapeut, sowie deren Interaktionen in Therapiegesprächen beurteilen. (1) Im Verlauf der Projektbearbeitung wurden N= 176 Videos von insgesamt 65 Patienten der Patientenrekrutierungen V und VI mit dem VAMP analysiert (Abbildung 2). (2) Insgesamt wurden drei Therapiezeitpunkte mit dem VAMP erfasst (Therapiebeginn, nach ca. 21 Tagen täglicher ALITA-Kontakte; Halbjahresmarke; Jahresmarke). (3) Desweiteren wurde ein Kurzrating zur schnelleren Beurteilung von Therapiegesprächen entwickelt: "Videoassistiertes Monitoring therapeutischer Prozesse bei chronischen psychiatrischen Krankheiten - Kurzversion (VAMP-K)". (4) Es wurden die zwei Therapiezeitpunkte Therapiebeginn und Halbjahresmarke von 38 Patienten (Teilstichprobe aus der VAMP-Untersuchung) von einem externen Experten- Rater mit dem VAMP-K beurteilt. Gesamtzahl der Patienten N=65 t 1 Therapiebeginn t 2 Halbjahresmarke t 3 Jahresmarke VAMP n=65 VAMP n=58 VAMP n=53 VAMP-K n=38 VAMP-K n=38 Abbildung 2: Übersicht der untersuchten Patientenstichprobe Aufgrund von 7 Rückfällen im ersten halben Jahr reduziert sich die Stichprobe zu t2 von 65 auf 58 Patienten. Im zweiten halben Jahr wurden weitere 5 Patienten rückfällig, so dass zu t3 noch 53 Patienten in die Untersuchung eingehen. Die 38 Patienten, deren Therapiegespräche zu t1 und t2 mit dem VAMP-K beurteilt wurden, sind eine Teilstichprobe aus der VAMP-Untersuchung. 15

Zur Beurteilung eines Therapiegesprächs lagen jeweils die Videoaufnahme, das Gesprächs-Transkript und eine kurze Patientenbeschreibung vor. Von den 65 Patienten wurden insgesamt 176 Gespräche transkribiert, in semantische Einheiten (SE) und 5- Minuten-Einheiten eingeteilt und zur Beurteilung vorbereitet. Die Reihenfolge der Videos für die Ratingprozedur wurde zufallsbestimmt, um einen "Prozess-Bias" zu verhindern. Auch erhielten die Rater keine Information darüber, aus welcher Therapiephase ein spezielles Video stammt. Die Gespräche wurden in der VAMP-Untersuchung von 4 Rating-Personen in 3 Rating-Phasen mit dem VAMP beurteilt. Für 76 dieser Videos wurden zusätzlich von einem Experten-Rater eine Beurteilung mit dem VAMP-K durchgeführt. Die Rating-Phasen schlossen sich jeweils an ausführliche Ratertrainings an und wurden durch ständige Kontrolle der Beobachterübereinstimmungen und wiederholte Eichsitzungen begleitet, um der Gefahr des "observer drifts", also einer Veränderung des Beurteilungsstandards, entgegenzuwirken. Folgende Teilprojekte 1 und 2 wurden bearbeitet: Teilprojekt 1 Multimodale Prozess- und Ergebnisstudie zur Untersuchung der Wirkfaktoren von ALITA: Inwiefern werden in der integrativen Therapie schwer alkoholkranker Patienten zwei zentrale psychotherapeutische Prozessfaktoren (emotionalinterpersonaler und kognitiv-behavioraler Faktor) aktiviert? Teilprojekt 2 Unterscheiden sich rückfällige und langfristig abstinente Patienten in ihren therapeutischen Veränderungsprozessen? Multimodaler Vergleich der Prozessvariablen von rückfälligen vs. abstinenten Patienten während der ersten zwölf Monate der Therapie. 16

4.1 Teilprojekt 1 Multimodale Prozess- und Ergebnisstudie zur Untersuchung der Wirkfaktoren von ALITA 4.1.1 Ausgangspunkt In der allgemeinen Psychotherapie hat Therapieprozessforschung eine lange Tradition (vgl. Goldfried et al., 1990; Grawe, 1995; Grawe, 1997; Greenberg, 1999; Greenberg & Pinsof, 1986; Orlinsky et al., 1994; Russell, 1994; Schindler, 1996). Mit dem Aufkommen sozial-kognitiver Therapie- und Rückfallmodelle und dem Infragestellen traditioneller Behandlungsansätze hat auch der Suchtbereich den Anschluss an die Prozessforschung gefunden (vgl. Carroll, 2001; Etheridge & Hubbard, 2000; Longabaugh & Morgenstern, 1999; Morgenstern & Longabaugh, 2000; Simpson, 2001; Sutton, 2001). Während Vertreter der allgemeinen Psychotherapie jedoch über umfassende und elaborierte Therapieprozessmodelle verfügen (z.b. Barkham et al., 1996; Grawe, 1997; Greenberg & Pinsof, 1986; Stiles et al., 1994; Sachse, 1990), stellt die suchttherapeutische Prozessforschung meist ein schwer überblickbares Konglomerat an Untersuchungen einzelner suchtspezifischer Konstrukte dar (z.b. Abstinenzzuversicht, coping skills zur Abstinenzaufrechterhaltung, Veränderungsbereitschaft, Alkoholerwartungen etc.). Das Phasenmodell von Prochaska & DiClemente soll die Auseinandersetzung eines süchtigen Menschen mit der eigenen Störung erfassen (Prochaska & DiClemente, 1986). Es hat vor allem einen pragmatischen Wert, indem es geholfen hat, konfrontative, pessimistische und erfolglose Interventionen und Einstellungen von Suchttherapeuten durch klientenzentrierte, optimistische und motivationsfördernde Haltungen und Behandlungsalternativen zu ersetzen; in der empirischen Forschung hat es sich aber ausschließlich zur Erfassung von aktueller Behandlungsbereitschaft bewährt und kann nicht die vielen Facetten des therapeutischen Änderungsprozesses abbilden (vgl. Davidson et al., 1991; Miller & Heather, 1998; Sutton, 2001; Vellemann, 1992). Es fehlen umfassende Änderungsmodelle, die Suchtforschungskonstrukte und Ansätze der allgemeinen Therapie-Prozessforschung integrieren. Dieser Mangel erschwert die Interpretierbarkeit der einzelnen Studien enorm. So gibt es zwar empirisch fundierte Hinweise, dass es für suchtkranke Patienten wichtig ist, Fertigkeiten zur Aufrechterhaltung von Abstinenz zu erlernen. Es ist aber nicht klar, ob und wie sich Coping-Fertigkeiten in verschiedenen Suchttherapieprogrammen verändern, und wie sie mit allgemeinen Prozessfaktoren, wie z.b. der therapeutischen Allianz, interagieren (z.b. Chung et al., 2001; Litt et al., 2003; Longabaugh & Morgenstern, 1999; Morgenstern & Longabaugh, 2000). 17

Um die Wirkfaktoren von ALITA zu untersuchen, wurde deshalb ein überprüfbares Therapieprozess-Modell entwickelt. Es geht davon aus, dass schwerstabhängige Patienten sowohl genug Behandlungsmotivation haben, als auch die Fertigkeiten entwickeln können, in einem ambulanten Therapiesetting abstinent zu leben. Das Modell geht jedoch auch davon aus, dass die Patienten über einen langen Zeitraum einem sehr hohen Rückfallrisiko ausgesetzt sind, welches im Verlauf der Abstinenz zwar abnimmt, aber lebenslang erhöht bleibt (als Ursachen dafür werden u.a. vermutet: eine erhöhte Vulnerabilität für Stress; die persistierende Unfähigkeit zum kontrollierten Konsum von Alkohol; die zentrale Rolle schwer kontrollierbarer neurobiologischer Prozesse ("Suchtgedächtnis"); die permanente Verfügbarkeit und Kultivierung von Alkoholkonsum in unserer Gesellschaft). Die einzige dauerhaft erfolgreiche Behandlungsmethode wird deshalb in einer langfristigen, umfassenden und intensiven Therapie gesehen (d.h. Kombination von Suchttherapie, Sozialarbeit, medizinischer Betreuung und Psychotherapie), die im Anschluss an die Intensivtherapiephase sowohl eine Nachsorge durch Selbsthilfegruppen, als auch die Möglichkeit für lebenslange "Abstinenz-Check-ups" und therapeutische Kriseninterventionen bei Rückfall vorsieht. Das Modell geht davon aus, dass alkoholkranke Patienten diese einschneidende Kombination an Behandlungsmerkmalen (intensiv, umfassend, langfristig) dann erfolgreich nutzen können, wenn die Therapie bei ihnen zwei zentrale psychotherapeutische Prozessfaktoren aktiviert: (I) eine sehr starke, auf der Therapeutenrotation basierende multiple therapeutische Allianz, die eine funktionale Balance zwischen Abhängigkeits- und Freiheitsbedürfnissen der Patienten erlaubt (emotional-interpersonale Komponente: z.b. emotionale Nähe und Bindung, Vertrauen, Wertschätzung und Akzeptanz, Verantwortung und Verpflichtung). (II) ein aus der Gesamtheit der einzelnen spezifischen und allgemeinen Wirkmechanismen resultierender funktionaler Umgang mit Problemen und mit der eigenen Krankheit (kognitiv-behaviorale Komponente: z.b. Störungsmodell, Rückfallwachsamkeit, flexibler Einsatz von Coping-Fertigkeiten, Analyse und Änderung dysfunkionaler Kognitionen). Mit der Anwendung eines multimodalen Erhebungsinventars (s.u.) soll untersucht werden, ob die postulierten Faktoren als bedeutsame Therapieprozesse bei ALITA wirken. Der Nutzen dieser Fragestellungen für den klinischen Alltag ist offensichtlich. Sollten sich die psychotherapeutischen Wirkfaktoren als nicht oder nur schwach identifizierbar erweisen, würde ALITA wahrscheinlich vor allem durch seine Kontroll-Elemente (überwachte Einnahme der Aversionmedikation, Abstinenzkontrolle) funktionieren. Dies würde den Stellenwert des personal- und zeitaufwendigen Einsatzes der psychotherapeutischen Behandlungselemente in Frage stellen. Weisen die beiden 18

postulierten Wirkfaktoren jedoch eine zentrale Bedeutung auf, wäre dies ein wichtiger Hinweise für die Entscheidung, welche ALITA-Elemente in andere Programme übernommen werden sollten: demnach wäre es wenig erfolgversprechend, nur die leicht realisierbaren und wenig anstrengenden Elemente aus dem Gesamtprogramm zu übernehmen ("ALITA light", z.b. ausschliesslich Antabus und Urinkontrolle). Hochrangige Therapie-Prozess-Forschung verwendet immer Kombinationen von Fragebogeninstrumenten und komplexen Beobachtungsmethoden, die auf Audio- oder Videoaufnahmen von Behandlungssitzungen beruhen (vgl. Elliott & Anderson, 1994; Grawe et al., 1999; Greenberg & Pinsof, 1986; Sachse, 1990; Schindler, 1996; Greenberg, 1994). Bis auf wenige Arbeiten zur therapeutischen Beziehung (Carroll et al., 1997; Cecero et al., 2001; Raytek et al., 1999) basieren die meisten Prozess-Studien aus dem Suchtbereich jedoch ausschliesslich auf Fragebogenerhebungen. Sowohl die Arbeit von Litt et al. (2003), als auch die Erfahrungen in der Komorbiditätsstudie bei ALITA zeigen, dass Auskünfte mittels Fragebögen nur einen kleinen Aspekt des Erlebens und Verhaltens von suchtkranken Patienten erfassen (vgl. Litt et al., 2003). Die Kombination von Fragebogen-, Interview-, und videogestützten Beobachtungsmethoden ist zwar äußerst zeit- und personalaufwendig, stellt aber eine attraktive Alternative dar, um die Datenerhebung detaillierter und umfassender zu machen. Diese Art der Erfassung ist im vorliegenden Projekt nötig, weil die starke psychiatrische Beeinträchtigung der meisten ALITA-Patienten damit verbunden ist, dass sie ihre eigenen Defizite und Probleme in Fragebogenuntersuchungen unterschätzen (Wagner et al., 2004). Um Veränderungsprozesse bei ALITA trotzdem valide zu erfassen, wurde von 2000-2002 eine multimodale Prozess- und Outcome-Diagnostik durchgeführt. Während die Fragebogen-, und Interviewdaten relativ einfach und standardisiert auszuwerten sind, musste für die Videoaufnahmen der Therapiesitzungen eine neue Auswertungsmethode entworfen werden. Deshalb wurde das "Video-assistierte Monitoring für therapeutische Prozesse bei chronischen psychiatrischen Krankheiten (VAMP)", ein Codier- und Ratingsystem zur Beurteilung der Patientenaussagen und der therapeutischen Beziehung, entwickelt und empirisch überprüft. Es erfasst sowohl Faktoren der allgemeinen Therapieprozesse, als auch suchtspezifische Konstrukte: Konstrukte der allgemeinen Psychotherapie: Arbeitsatmosphäre, therapeutische Beziehung (Patient, Therapeut), allgemeine Wirkfaktoren (Erfahrung von Ressourcen, emotionale Intensität/Erleben, Selbstwirksamkeit, Analysieren/Reflektieren/Verstehen, Selbstöffnung), funktionale vs. dysfunktionale Problembearbeitung (10 spezifische Skalen), standardisierter psychiatrischer Befund. 19

Konstrukte der Suchttherapie: Krankheitsmodell, Abstinenzzuversicht, Rückfallwachsamkeit, Rückfallgefahr, funktionale vs. dysfunktionale suchtassoziierte Problembearbeitung (10 spezifische Skalen) Das Teilprojekt (1) setzt hier an. Um die Wirkfaktoren von ALITA empirisch zu untersuchen, wurde eine ausreichend große Stichprobe an Gesprächsaufnahmen aus den Rekrutierungsperioden V und VI festgelegt. Es wurden von der gesamten Stichprobe zunächst ein frühes Therapievideo und ein Video zur Halbjahresmarke ausgewertet. Nach einer statistischen Überprüfung der Beobachterübereinstimmung wurden ausführliche Analysen zur faktoriellen Validität und zur Konstruktvalidität (Zusammenhänge mit Fragebogen- und Interviewmaßen) durchgeführt. Schließlich folgte die Berechnung der Prozessveränderungen von Therapiebeginn bis zur Halbjahresmarke auf allen Skalen, die sich in den Validierungsuntersuchungen bewährt hatten. Die Anwendung des VAMP ist bezüglich der Beobachterübereinstimmung optimal, sie ist aber auch sehr zeit- und personalaufwendig. Dies liegt vor allem daran, dass die Therapiegespräche transkribiert und in semantische Einheiten eingeteilt werden müssen. Auch die Codierung der semantischen Einheiten durch mehrere geschulte Rating- Personen dauert lange. Das aufwendige Vorgehen entspricht den Erfahrungen der Prozessforschung aus der allgemeinen Psychotherapie, die gezeigt haben, dass intersubjektiv überprüfbare, reliable und valide Beobachtungen nur durch die Beurteilungen kleiner Analyse-Einheiten zustande kommen, die dann zu komplexeren Skalen zusammengefasst werden (Elliott & Anderson, 1994; Schindler, 1996; Greenberg & Pinsof, 1986; Greenberg, 1994). Will man schwer zugängliche Therapieprozesse differenziert erfassen und dabei eine hohe psychometrische Qualität gewährleisten, erscheint unser Vorgehen gerechtfertigt. Für die Beurteilung größerer Mengen an Videoaufnahmen, z.b. um viele Therapiegespräche im Rahmen einer Multicenter-Studie zu verarbeiten, ist diese klassische Methode zu aufwendig. Deshalb wurde in einem letzten Schritt eine Checkliste zur Screening-Untersuchung von Videos entwickelt ("Videoassistiertes Monitorings für therapeutische Prozesse bei chronischen psychiatrischen Krankheiten - Kurzversion (VAMP-K)"). Dabei wurden nur die Skalen, die sich bei den vorausgegangenen Untersuchungen am bedeutsamsten erwiesen haben, berücksichtigt. Es wurden nur die trennschärfsten Items mit den stabilsten Übereinstimmungskoeffizienten ausgewählt. 20

4.1.2 Fragestellung und Hypothesen Es wurden verschiedene empirische Untersuchungen durchgeführt, um das Therapieprozess-Modell von ALITA zu untersuchen. Das Modell postuliert, dass die Therapie bei den Patienten zwei zentrale psychotherapeutische Prozessfaktoren aktiviert: (I) den emotional-interpersonalen Faktor (II) den kognitiv-behavioralen Faktor Hypothese 1: Falls die Komponente "emotional-interpersonaler Faktor" wirkt, sollten die therapeutische Arbeitsatmosphäre und die therapeutische Allianz (Patientenurteil, Therapeutenurteil, Beobachterurteil) entweder während der Therapie stabil positiv sein, oder aber im Verlauf der Behandlung ansteigen. Hypothese 2. Falls die Komponente "kognitiv-behavioraler Faktor" wirkt, sollte sich dies in einem Anstieg der Funktionalität der allgemeinen Problembearbeitung und des Umgangs mit der Alkoholabhängigkeit (z.b. Störungsmodell, Rückfallwachsamkeit, Abstinenzzuversicht, suchtassoziierte Problembearbeitung) im Verlauf der Therapie zeigen. 4.1.3 Material und Methoden In die Untersuchung des Teilprojektes 1 gehen als Erhebungsinstrumente die beiden Fremdbeurteilungssysteme "Video-assistiertes Monitoring für therapeutische Prozesse bei chronischen psychiatrischen Krankheiten (VAMP)" und "Video-assistiertes Monitoring für therapeutische Prozesse bei chronischen psychiatrischen Krankheiten - Kurzversion (VAMP-K)", ein, sowie zur Selbstbeurteilung von Patient und Therapeut diverse Fragebögen. Es werden jeweils die Patienten-, Therapeuten-, Rater- und Video- Stichproben für die beiden Untersuchungen mit dem VAMP und mit dem VAMP-K charakterisiert. VAMP Die Entwicklung des "Video-assistierten Monitorings für therapeutische Prozesse bei chronischen psychiatrischen Krankheiten (VAMP)" durchlief verschiedene Prozessstufen. 21

Zunächst wurden auf Basis der Literatur und aufgrund eigener klinisch-therapeutischer Erfahrungen potentiell relevante Prozessvariablen abgeleitet. Diese wurden dann so exakt wie möglich operationalisiert. In Abbildung 3 sind die acht Module des Erhebungsinstruments dargestellt. Makroanalyse Modul 1 "Psychotherapiefaktoren - Patient" Video-assistiertes Monitoring therapeutischer Prozesse bei chronischen psychiatrischen Krankheiten (VAMP) Modul 2 "Relevante Suchtprozesse - Patient" 5 Einzel-Items, 4-stufiges Rating (0-3) je 3 Erhebungszeitpunkte (Beginn, Mitte, Ende des Therapiegesprächs) Beispiel-Item: "Emotionale Intensität / Erleben" Modul 3 "Krankheitskonzept - Patient" Einzel-Item, Beurteilung des subjektiven Störungsbildes des Patienten 6-stufiges Rating Beispiel: "Krankheit, Störung - elaboriert" Modul 5 "Psychopathologische Symptome - Patient" PANSS - Positive and Negative Syndrome Scale Positive Subskala (7 Items), Negative Subskala (7 Items), Allgemeine Psychopathologie Subskala (16 Items), 7-stufiges Rating (1-7) Beurteilung des Patienten während des gesamten Therapiegesprächs Beispiel-Item: "Wahn" Modul 7 "Therapeutische Allianz - Therapeut" Skala mit 30 Items, 4-stufiges Rating (0-3) Beurteilung des Therapeutenanteils an der therapeutischen Allianz während des gesamten Therapiegesprächs Beispiel-Item: "wirkt vertrauensvoll" 5 Einzel-Items, 4-stufiges Rating (0-3) jeweils Beurteilung der Patientenaussagen des gesamten Therapiegesprächs Beispiel-Item: "Abstinenzzuversicht" Modul 4 "Arbeitsatmosphäre" Skala mit 27 Items, 4-stufiges Rating (0-3) Beurteilung der Gesprächssituation und Interaktion während des gesamten Therapiegesprächs Beispiel-Item: "Konstruktivität" Modul 6 "Therapeutische Allianz - Patient" Skala mit 30 Items, 4-stufiges Rating (0-3) Beurteilung des Patientenanteils an der therapeutischen Allianz während des gesamten Therapiegesprächs Beispiel-Item: "ist ehrlich" Mikroanalyse Modul 8 "Problembearbeitung - Patient" 10 einander ausschließende Kategorien, Beurteilung der einzelnen Patientenaussagen (SE) Beispiel-Kategorie: "funktionale Problembearbeitung aktuelles Problem" Abbildung 3: Übersicht der VAMP-Module Bei den ersten sieben Modulen ist die Vorgehensweise bei der Beurteilung makroanalytisch, d. h. dass das Gespräch im Ganzen bewertet wird. Bei der Problembearbeitung (Modul 8) werden mikroanalytisch einzelne semantische Einheiten der Patientenaussagen beurteilt. Mit dem VAMP sollen die Häufigkeiten bestimmter Verhaltensweisen erfasst und die Ausprägung einzelner Variablen eingeschätzt werden. Um die nötige Beobachterübereinstimmung zu erreichen, wurde ein ausführliches Ratertraining durchgeführt, wobei sich die Rater während des Trainings und auch während der anschließenden Ratingphase sehr eng am VAMP-Manual orientieren sollten (vgl. Greve & Wentura, 1997). 22