Die Verfassungsbeschwerde in Polen



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ISSN 2029-6134 print Development of Public Law / Viešosios teisės raida / Entwicklungen im öffentlichen Recht 2010 (1): 66 77 Verfassungsentwicklung in Litauen und Polen im Kontext der Europäisierung / Lietuvos ir Lenkijos konstitucijų raida europeizacijos kontekste Dr. Piotr Tuleja Jagiellonen-Universität Krakau Die Verfassungsbeschwerde in Polen 1. Die Genese der Verfassungsbeschwerde in Polen Die Verfassungsbeschwerde ist in Polen eine neue Institution und wurde in das polnische Recht samt der im Jahre 1997 verabschiedeten und gegenwärtig geltenden Verfassung eingeführt. Die Forderungen nach der Einführung der Verfassungsbeschwerde wurden in den 80er Jahren formuliert. Eine reale Chance für die Einführung der Verfassungsbeschwerde bestand erst im Jahre 1989, zu den Zeiten der Diskussion über die Verabschiedung der neuen Verfassung. Die Postulate hatten jedoch einen allgemeinen Charakter und berücksichtigten die Geltung der schon in anderen Ländern präsenten Verfassungsbeschwerde nicht. Die gegenwärtige Form der Verfassungsbeschwerde ist vor allem das Arbeitsergebnis der Verfassungskommission der Nationalversammlung, die den Wortlaut der Verfassung vorbereitet hat. Die Verfassungskommission hat sich auf zwei Voraussetzungen gestützt. Erstens, die Einführung der Verfassungsbeschwerde wurde für notwendig gehalten und das wegen dem ausgebauten Katalog der Grundrechte, die eine Schutzmaßnahme genießen sollten. Zweitens, es wurde festgestellt, dass die Form der Verfassungsbeschwerde an das Konzept des Verfassungsgerichthofes angepasst sein sollte 109. Als grundlegende Kompetenz des Verfassungsgerichtshofes, ab dem Tag dessen Berufung im Jahre 1985, galt die Verfassungsmäßigkeitskontrolle der Rechtsnormen. Es wurde also festgestellt, dass die Verfassungsbeschwerde der Einleitung der Kontrollprozedur von Verfassungsmäßigkeit der Rechtsnormen durch den Verfassungsgerichtshof dient, wobei die unmittelbare Prüfung der Rechtsanwendung den Gegenstand der Verfassungsbeschwerde nicht darstellen sollte. Die Befürchtung, dass die Zulassung der Verfassungsbeschwerde gegen Einzelakte der Fachgerichte und der Verwaltung die Belastung des Verfassungsgerichtshofs verursachen könnte, war in der Diskussion über die Form der Verfassungsbeschwerde von grundlegender Bedeutung. Man hat sich also in diesem Fall auf das Beispiel aus Deutschland berufen. Die Verfassungskommission zog die Stellungnahme des Obersten Gerichts in Anbetracht, das die Möglichkeit der Kontrolle von Gerichtsentscheidungen durch Verfassungsgerichtshofe als kritisch beurteilte 110. 109 B. Banaszkiewicz, Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes der Republik Polen seit dem Inkrafttreten der neuen Verfassung bis zum Urteil über die EU-Mitgliedschaft (1997 2005), 2006, S. 21 f. 66 110 J. Repel, Geneza skargi konstytucyjnej w Polsce, in: J. Trzciński (Hrsg.), Skarga konstytucyjna, 2000, S. 33 f.

Die Verfassungsbeschwerde in Polen 2. Definition der Verfassungsbeschwerde Gemäß Art. 79 Abs. 1 der Verfassung hat jedermann, dessen verfassungsmäßige Freiheiten oder Rechte verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der durch Gesetz bestimmten Regeln, eine Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetztes oder einer anderen Rechtsnorm, auf deren Grundlage ein Gericht oder ein Organ der öffentlichen Verwaltung über seine in der Verfassung bestimmten Freiheiten, Rechte oder Pflichten endgültig entschieden hat, zu erheben. Mit dieser Vorschrift wird das subjektiv-öffentliche Recht auf Verfassungsbeschwerde zum Ausdruck gebracht. Dieses Recht beruht darauf, dass der Beschwerdeführer auf der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsvorschrift durch den Verfassungsgerichtshof bestehen kann. In der Verfassung wird die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerdeprüfung von der Bezeichnung durch den Beschwerdeführer der Verletzung seiner Verfassungsrechte abhängig gemacht. Jedoch sowohl in der Verfassung als auch im Gesetz über den Verfassungsgerichtshof wird kein Erfordernis der Selbstbetroffenheit formuliert. Der Beschwerdeführer sollte lediglich die Tatsache glaubhaft machen, dass es zu einer solchen Verletzung gekommen ist, und dass deren Quelle die angegriffene Rechtsnorm ist. Ähnlich wie in anderen Rechtssystemen wird die Verfassungsbeschwerde im polnischen Rechtssystem auf das Subsidiaritätsprinzip gestützt. Dieses Prinzip wurde in Art. 46 Abs. 1 des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof zum Ausdruck gebracht. Gemäß dieser Vorschrift ist die Einlegung der Beschwerde erst nach Erschöpfung des Rechtsweges zulässig 111. 3. Subjektive Voraussetzungen Die Verfassungsbeschwerde kann von jedermann, der das Subjekt der Grundrechte ist, eingelegt werden. Das gilt vor allem für natürliche Personen. Ein Teil der Grundrechte steht ausschließlich den polnischen Staatsbürgern zu. Im Rahmen dieses Grundrechtsschutzes haben nur die polnischen Staatsbürger das Recht auf die Beschwerde. Sonstige Rechte stehen auch den Ausländern sowie den Staatslosen zu. Die Ausländer dürfen die Verfassungsbeschwerde gegen Asylrechtsverletzung sowie gegen Verletzung des Rechtes auf Erlangung des Flüchtlingsstatus nicht einlegen. Diese Möglichkeit wird durch den Art. 79 Abs. 2 der Verfassung ausgeschlossen. Die Verfassungsbeschwerde kann auch von einer juristischen Person eingelegt werden, sofern diese ein Subjekt des gegebenen Grundrechts sein kann (z. B. des Eigentumsrechts oder des Gewerbefreiheitrechts). Die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde einer juristischen Person des öffentlichen Rechts weckt jedoch Zweifel. Als Person des öffentlichen Rechts wird diejenige 111 Beschluss vom 13. Februar 2001, Signatur Ts 189/00, http://www.trybunal.gov.pl/otk/teksty/otkpdf/2001/ Ts189r00.pdf 67

Piotr Tuleja juristische Person definiert, die eine öffentliche Gewalt ausübt. Nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofs ist die Verfassungsbeschwerde ein Mittel zum Schutz der dem Individuum zustehenden Grundrechte vor deren Verletzung seitens der öffentlichen Gewalt. Es ist also auszuschließen, dass die Gemeinde zum Beispiel, als Person des öffentlichen Rechtes, eine Verfassungsbeschwerde einlegt. Der Verfassungsgerichtshof wies auch darauf hin, dass gemäß Art. 191 Abs. 1 Pkt. 3 der Verfassung die beschlussfassenden Organe der Gebietskörperschaften in Angelegenheit der Vereinbarkeit der Rechtsnorm mit der Verfassung antragsberechtigt sind, sofern der Antrag den Wirkungsbereich der Verfassung betrifft. Das Recht auf Beschwerde steht auch solchen Subjekten zu, die die Rechtspersönlichkeit nicht besitzen, sofern sie das ihnen zustehende Grundrecht aufweisen. Aus dem oben dargelegten lässt sich erschließen, dass der subjektive Bereich der Verfassungsbeschwerde vom subjektiven Umfang der Grundrechte abhängig ist. Steht einem gegebenen Subjekt das gegebene Grundrecht zu, so kann er zwecks dessen Schutzes eine Verfassungsbeschwerde einlegen 112. 4. Der Gegenstand der Verfassungsbeschwerde Gemäß Art. 79 Abs. 1 der Verfassung stellt der Beschwerdeführer einen Antrag auf Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm. Es ist deutlich zu betonen, dass allein die Verletzung der Grundrechte des Beschwerdeführers als Gegenstand der Verfassungsbeschwerde nicht betrachtet werden kann. Die Glaubhaftmachung dieser Verletzung gilt als Zulässigkeitsvoraussetzung der Verfassungsbeschwerde. Dies entscheidet über die Eigenartigkeit der polnischen Verfassungsbeschwerde, die als Verfassungsbeschwerde sensu largo bezeichnet werden kann. Der Beschwerdeführer kann die Verfassungsmäßigkeitsprüfung der Rechtsnorm verlangen, die nach seiner Auffassung einen Grund für die Verletzung seiner in der Verfassung garantieren Grundrechte darstellt. Das aufgrund der Verfassungsbeschwerde eingeleitete Verfahren bezweckt die Feststellung, ob der Rechtsetzungsakt verfassungsmäßig oder verfassungswidrig ist. In einem solchen Verfahren stellt der Verfassungsgerichtshof nicht fest, ob es zur Verletzung der dem Beschwerdeführer verfassungsmäßig garantierten Freiheiten und Rechte gekommen ist. In der Verfassungsbeschwerde kann ausschließlich die Verfassungsmäßigkeit der Rechtsnorm beanstandet werden. Die Rechtsnorm beinhaltet generell-abstrakte Normen. A contrario ist die Verfassungsbeschwerde gegen Rechtsanwendungsakte unzulässig. In der polnischen Rechtsprechung ist der gegenständliche Umfang der Verfassungsbeschwerde verhältnismäßig eingeschränkt. Als Gegenstand der Verfassungsbeschwerde können ausschließlich Rechtsnormen (Rechtsetzungsvorschriften) in Betracht gezogen werden. Es entsteht also die Frage, welche Art von Rechtsnormen die Verfassungsbeschwerde zum Gegenstand haben kann? Gemäß Art. 188 Pkt. 1 3 der Verfassung prüft der 112 Beschluss vom 23. Februar 2005, Signatur Ts 35/04, http://www.trybunal.gov.pl/otk/teksty/otkpdf/2005/ Ts035z04.pdf 68

Die Verfassungsbeschwerde in Polen Verfassungsgerichtshof die Vereinbarkeit der völkerrechtlichen Verträge mit der Verfassung, der Gesetze mit den völkerrechtlichen Verträgen und mit der Verfassung sowie die durch die zentralen Staatsorgane erlassenen Rechtsvorschriften mit den oben genannten Rechtsnormen. Die Verfassung besagt nicht direkt, ob die Rechtsnormen niedrigeren Ranges als Gegenstand der Verfassungsbeschwerde in Betracht gezogen werden können. Diese Möglichkeit ist jedoch zuzulassen, und das wegen abwehrrechtlichen Charakters der Beschwerde. Es entsteht auch die Frage, ob die Rechtsnormen des gemeinschaftlichen Rechts einen Gegenstand der Verfassungsbeschwerde darstellen können. Im Falle des primären Gemeinschaftsrechts, wenn wir mit den völkerrechtlichen Verträgen zu tun haben, ist die Antwort positiv. Jedoch im Falle des sekundären Gemeinschaftsrechts sollte diese Möglichkeit ausgeschlossen werden. Nach Auffassung des Gerichtshofes gehören die Vorschriften des sekundären Gemeinschaftsrechtes nicht in den Bereich dessen Kompetenz 113. 5. Verfassungsbeschwerdeverfahren 5.1. Eingangsprüfungsverfahren (das selektive Verfahren) Im Eingangsprüfungsverfahren wird eine Feststellung bezweckt, ob die Verfassungsbeschwerde die in der Verfassung sowie im Gesetz über den Verfassungsgerichtshof formulierten Erfordernisse erfüllt. Die Beschwerde wird von einem einzelnen Richter geprüft, der einen Beschluss über die Nichtzulassung der Beschwerde erlassen kann. Im Falle der Nichtzulassung steht dem Beschwerdeführer eine Beschwerde zu, über die der Gerichtshof in der Besetzung von drei Richtern entscheidet. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass die Zulässigkeitsprüfung der Verfassungsbeschwerde im Erkenntnisverfahren auch möglich ist. Die zur sachlichen Prüfung der Rechtssache genannte Besetzung des Gerichtshofes ist zur Einstellung des Verfahrens befugt, falls die Beschwerde formelle Erfordernisse nicht erfüllt und der Urteilserlass unzulässig ist. Zu den Erfordernissen, von denen oben die Rede ist, zählen neben der Bezeichnung der angefochtenen Rechtsvorschrift auch die Bezeichnung der angegriffenen Grundrechte, die Bezeichnung der Art und Weise deren Verletzung durch die angefochtenen Rechtsnormen, die Bezeichnung der auf Grund der angegriffenen Vorschriften erlassenen Gerichtsentscheidung, Rechtswegerschöpfung, Einlegung der Beschwerde innerhalb von drei Monaten ab dem Datum des Erhalts der endgültigen Entscheidung, Einlegung der Beschwerde durch Vermittlung eines Rechtsanwalts. Die Zulässigkeitsvoraussetzung der Verfassungsbeschwerde sowie deren Auslegung durch den Verfassungsgerichtshof sind für die Festlegung des Rechtsinhalts der Verfassungsbeschwerde und Inhalte einzelner Verfassungsrechte von grundlegender 113 Urteil vom 29. November 2005, Signatur P 10/05). http://www.trybunal.gov.pl/otk/teksty/otkpdf/2005/ P_10_05.pdfvom 69

Piotr Tuleja Bedeutung. Die Verfassungsbeschwerde ist kein actio popularis, und aus diesem Grunde muss der Beschwerdeführer seine Grundrechte bezeichnen, die durch die angefochtenen Vorschriften verletzt worden sind, außerdem muss er auch die Verletzungsweise bestimmen. Der Verfassungsgerichtshof entscheidet über die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde, sofern der Beschwerdeführer als Grundlage die Verfassungsvorschriften des subjektiv-öffentlichen Rechts angibt. Als Prüfungsmaßstab können keine Verfassungsvorschriften in Betracht gezogen werden, die ausschließlich den Rechtsgrundsatz sachlichen Charakters, z. B. Gewaltenteilungsprinzip, zum Ausdruck bringen. In der bisherigen Rechtsprechungspraxis tauchten Zweifel auf, ob in manchen Verfassungsvorschriften subjektive Rechte zum Ausdruck kommen. Diese Bedenken beziehen sich auf den das Rechtsstaatsprinzip enthaltenen Art. 2 der Verfassung. Nach Auffassung des Gerichtshofs ist das Rechtsstaatsprinzip als einzige Grundlage der Verfassungsbeschwerde zu betrachten, sofern der Beschwerdeführer aus diesem Prinzip das subjektiv-öffentliches Recht ableitet. Wenn sich der Beschwerdeführer ausschließlich auf Vorschriften objektiven Charakters beruft, z. B. auf das Prinzip lex retro non agit, dann soll er auf das Grundrecht verweisen, in dessen Bereich dieses Prinzip verletzt worden ist 114. Ähnliche Stellung nahm der Gerichtshof im Hinblick auf das Gleichheitsprinzip. Nach Auffassung des Gerichtshofes ist die Anlehnung der Verfassungsbeschwerde an den Vorwurf der Verletzung des Gleichheitsprinzips zulässig, sofern der Beschwerdeführer aufweist, in welchem Bereich der Grundrechte zu einer ungleichen Behandlung gekommen ist. Die Verfassungsbeschwerde, der ausschließlich die Verletzung des Gleichheitsprinzips zugrunde liegt, ist unzulässig. Die oben beschriebene Auffassung, in der angenommen wird, dass das Recht auf gleiche Behandlung gemäß Art. 32 Abs. 1 der Verfassung kein subjektives Recht ist, sorgt für Bedenken 115. Auch soziale Grundrechte lassen in dieser Hinsicht Zweifel aufkommen. Die Verfassung besagt, dass der Inhalt dieser Rechte durch das Gesetz bestimmt wird. Darüber hinaus können gemäß Art. 81, die in Art. 65 Abs. 4 und 5, Art. 66, Art. 69, Art. 71 und Art. 74 76 der Verfassung bestimmten Rechte in den gesetzlich festgelegten Grenzen anhängig gemacht werden. Nach Auffassung des Gerichtshofs bietet die Verfassung dem Gesetzgeber viel Freiheit in der Gestaltung dieser Rechte. Mit der Verletzung der sozialen Rechte haben wir es dann zu tun, wenn der Gesetzgeber deren Wesen angreift. Wenn der Beschwerdeführer den Schutz seiner sozialen Rechte fordert, so hat er die Verletzung deren Wesens aufzuweisen. Bedenken betreffen auch einzelne Berechtigungen, die im Bereich der Grundrechte enthalten sind. Zum Beispiel, die Auffassung, dass das Recht auf Gericht nicht das Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens umfasst, sorgt in der heutigen Rechtsprechung für Kontroversen 116. 114 Beschluss vom 23. Januar 2002, Signatur Ts 105/00, http://www.trybunal.gov.pl/otk/teksty/otkpdf/2002/ Ts105z00.pdf 115 Beschluss vom 24. Oktober 2001, Signatur SK 10/01, http://www.trybunal.gov.pl/otk/teksty/otkpdf/2001/ SK_10_01.pdf 70 116 Beschluss vom 18. Januar 2006, Signatur Ts 55/05), http://www.trybunal.gov.pl/otk/teksty/otkpdf/2006/ Ts055r05.pdf

Die Verfassungsbeschwerde in Polen Bei der Bezeichnung der Art und Weise der Verletzung von Grundrechten des Beschwerdeführers wird die Glaubhaftmachung erfordert, dass als Verletzungsquelle die angegriffene Rechtsnorm oder deren Teil gilt und nicht ausschließlich die auf deren Grundlage erlassene Entscheidung. Dieses Erfordernis wird auf die Annahme einer eindeutigen Abgrenzung zwischen den Ebenen der Rechtsetzung und Rechtanwendung sowie die Auffassung zurückgeführt, dass es eindeutig festzustellen ist, ob als Verletzungsquelle von Verfassungsrechten ein Gesetz, eine andere Rechtsvorschrift, eine Gerichtsentscheidung oder eine Verwaltungsentscheidung zu betrachten ist. In der Rechtsprechungspraxis ist eine solche Abgrenzung erschwert, und im Rechtsauslegungsprozess sind die beiden Ebenen miteinander verbunden. Aus diesem Grunde entstehen in vielen Fällen Bedenken, ob es zur Rechtsverletzung des Beschwerdeführers wegen eines Gesetzes oder wegen einer Entscheidung, die aufgrund dieses Gesetzes erlassen wurde, gekommen ist 117. Der Beschwerdeführer kann sich nur auf die Vorschriften berufen, die der in seiner Angelegenheit erlassenen Einzelfallentscheidung zugrunde lagen. Der Verfassungsgerichthof nimmt eine weite Auslegung des Begriffes Entscheidungsgrundlage an, in dem er voraussetzt, dass der Begriff auch Verfahrensvorschriften sowie Ordnungsvorschriften beinhaltet, z. B. Vorschriften über die Gerichtsbesetzung. Gleichzeitig stellt der Gerichtshof im Hinblick auf Art. 79 Abs. 1 der Verfassung fest, dass es keine Ausnahmen von dem Erfordernis der Entscheidungsbezeichnung durch den Beschwerdeführer gibt. Die Erhebung einer Beschwerde direkt gegen eine Rechtsnorm ist also unzulässig. Vor dem Hintergrund der einzelnen Prozeduren weckte anfänglich das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung Bedenken. In der Rechtsprechung des Gerichtshofes gestaltete sich eine Auffassung, dass die Erschöpfung des Rechtsweges erst dann vorliegt, wenn der Beschwerdeführer alle ihm zustehenden Rechtsmittel erschöpft und als Folge davon eine rechtskräftige Entscheidung erlangt. Die Erlangung einer rechtskräftigen Entscheidung befreit den Beschwerdeführer von Erhebung weiterer Beschwerdemittel, auch wenn er eine solche Möglichkeit hätte. Beispielsweise braucht der Beschwerdeführer keine Kassation beim Obersten Gericht anhängig zu machen, um einen Rechtsweg zu erschöpfen. Nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofs bestehen keine Ausnahmen vom Erfordernis der Rechtswegerschöpfung 118. Diesem Erfordernis liegt die Erfüllung des Subsidiaritätsprinzips der Verfassungsbeschwerde zugrunde. Eine solche Stellungnahme lässt jedoch Bedenken aufkommen und das in Fällen, wenn die Einlegung der Berufungsmittel die erlassene Entscheidung nicht ändern kann. Zu solchen Vorfällen kommt es z. B., wenn Gerichte eine einheitliche Auslegung der Vorschriften annehmen. Das Verlangen vom Beschwerdeführer, dass er ein Berufungsmittel zwecks der Erschöpfung des Rechtsweges einlegt, scheint dann unnötig zu sein und stellt eine unbegründete Erschwerung bei der 117 Urteil vom 31. März 2005, Signatur SK 26/02 und die abweichende Meinung zu der Entscheidung, http://www.trybunal.gov.pl/otk/teksty/otkpdf/2005/sk_26_02.pdf 118 Beschluss vom 13. Februar 2001, Signatur Ts 189/00, http://www.trybunal.gov.pl/otk/teksty/otkpdf/2001/ Ts189r00.pdf 71

Piotr Tuleja Einlegung der Verfassungsbeschwerde dar. Die Verfassungsbeschwerde ist natürlich unzulässig, wenn sie offensichtlich unbegründet ist. Der Verfassungsgerichtshof interpretiert diesen Begriff mit Zurückhaltung. In der Praxis wird eine offensichtliche Unbegründetheit in solchen Fällen in Anspruch genommen, wenn der Beschwerdeführer aus dem Prüfungsmaßstab der Verfassungsvorschriften solche Berechtigungen ableitet, die im Bereich der ihm zustehenden Grundrechte nicht enthalten sind, oder wenn sich der Beschwerdeführer auf falsche Auslegung der angegriffenen Vorschriften beruft. Der Verfassungsgerichtshof greift jedoch immer öfter auf eine offensichtliche Unbegründetheit, verstanden als Aussetzung der Beschwerde. Dieses spiegelt sich in der steigenden Anzahl von Beschwerden wieder. Die Verfassungsbeschwerde ist von einem Rechtsanwalt oder von einem Rechtsberater anzufertigen. Der Anwaltszwang wurde anfänglich kritisiert, heutzutage gilt er jedoch als zweckmäßig, weil er zur Senkung der Anzahl von unbegründeten Verfassungsbeschwerden beigetragen hat. 5.2. Erkenntnisverfahren Nach der Zulassung der Verfassungsbeschwerde zur sachlichen Prüfung kommt es zu einem Erkenntnisverfahren. Das Verfahren bezweckt die Feststellung, ob die angefochtene Rechtsnorm mit der Verfassung vereinbar ist. Auf Grund eines engen Umfangs der Verfassungsbeschwerde ist die Festlegung, ob es zur Grundrechtsverletzung des Beschwerdeführers gekommen ist, nicht das Ziel des Erkenntnisverfahrens. Die Lage, in der sich der Beschwerdeführer befindet, wird natürlich in Rücksicht genommen, aber nur als Element der Beurteilung von Verfassungsmäßigkeit der angefochtenen Rechtsnorm. Im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof wird also kein Beweisverfahren durchgeführt, dessen Aufgabe auf der Feststellung der Tatsachen über den Beschwerdeführer selbst beruht, es wird auch keine Überprüfung des durch das Gericht bestimmen tatsächlichen Sachbestands vorgenommen. Das infolge der Einlegung der Verfassungsbeschwerde anhängig gemachte Erkenntnisverfahren unterscheidet sich nicht grundsätzlich von dem infolge der Einlegung eines Antrags oder einer Rechtsfrage eingeleiteten Verfahren. Neben dem Subjekt, der einen Antrag, eine Rechtsfrage oder eine Verfassungsbeschwerde erhebt, nehmen am Erkenntnisverfahren auch Vertreter des Organs, das die angegriffene Rechtsnorm erlassen hat, sowie der Generalstaatsanwalt teil. Am Verfahren kann auch der Beauftragte für Bürgerrechte seine Teilnahme erklären. Der Beauftragte für Bürgerrechte entscheidet selbständig, ob er am Verfahren teilnimmt und ob er die Verfassungsbeschwerde unterstützt. In der Praxis nimmt der Beauftragte für Bürgerrechte am Verfahren vor Verfassungsgerichtshof erst dann teil, wenn er feststellt, dass es in der Rechtssache zur Verletzung von Grundrechten des Beschwerdeführers gekommen ist, oder wenn er der Meinung ist, dass die Beschwerdevorwürfe der Klärung benötigen und die vom Rechtsanwalt dargelegten Argumente sich als unzureichend erwiesen haben. Sobald der Beauftragte für Bürgerrechte seine Teilnahme am Verfahren erklärt, so ist er auch berechtigt, neue Argumente zugunsten der Verfassungswidrigkeit der Rechtnorm 72

Die Verfassungsbeschwerde in Polen geltend zu machen. Er darf jedoch den Beschwerdegegenstand nicht ändern z. B. darf er den Umfang der angegriffenen Rechtsnormen nicht erweitern. Das Erkenntnisverfahren wird in Anlehnung an das in Art. 66 des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof bestimmte Klageprinzip anhängig gemacht. Gemäß diesem Prinzip ist der Verfassungsgerichtshof an den Umfang der Verfassungsbeschwerde gebunden. Der Verfassungsgerichtshof darf also von Amts wegen die Verfassungsmäßigkeit solcher Rechtsnormen nicht prüfen, die der Beschwerdeführer in seiner Beschwerde nicht genannt hat. Zulässig ist jedoch, dass sich der Verfassungsgerichtshof auf den vom Beschwerdeführer nicht direkt genannten Prüfungsmaßstab beruft. Der Verfassungsgerichtshof leitete aus dem Klageprinzip die Grundsätze der Beweislastaufteilung ab. Laut dem Gerichtshof wird im Falle einer angegriffenen Rechtsnorm die Verfassungsmäßigkeitsvermutung in Erwägung gezogen. Der Beschwerdeführer hat zur Aufgabe diese Vermutung zu widerlegen. Die Aufweisung der Verfassungswidrigkeit einer Rechtsnorm obliegt also dem Beschwerdeführer. Weist der Beschwerdeführer die Verfassungswidrigkeit der Rechtsnorm nicht auf, so hat der Gerichtshof anzunehmen, dass die besagte Rechtsnorm verfassungsmäßig ist. Eine solche Stellungnahme weckt Zweifel. Sie wird vom Gerichtshof nicht konsequent realisiert, zumal dass er nicht einmal selbständig nach den Argumenten sucht, die von der Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Rechtsnormen zeugen. Es scheint also, dass die Übertragung der Argumentationslast ausschließlich auf das Subjekt, das das Verfahren vor dem Gerichtshof initiiert, unbegründet ist, insbesondere, wenn wir mit der Verfassungsbeschwerde zu tun haben 119. Das Erkenntnisverfahren setzt sich aus zwei Teilen zusammen: Verhandlungseröffnung und Verhandlungsdurchführung. Die Verfassungsbeschwerde wird von der aus drei oder fünf Richtern bestehenden Kammer vorgeprüft, abhängig von der Art der angegriffenen Rechtsnorm. Im Falle eines besonders komplizierten Sachverhalts der Beschwerde kann der Präsident des Verfassungsgerichtshofes über die Vorprüfung der Rechtssache durch die volle Besetzung entscheiden. Der Präsident des Verfassungsgerichtshofes ist auch befugt über die Möglichkeit der Abtretung der früher durch die volle Besetzung angenommenen Rechtsmeinung zu entscheiden. Die Verhandlung wird von dem Vorsitzenden des Spruchkörpers vorbereitet. Während der Verhandlungsvorbereitungen werden von den Verfahrensbeteiligten die Meinungen zur Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Rechtsnorm gesammelt. Zweck der Verhandlung ist, dass die Teilnehmer des Spruchkörpers die Verfahrensbeteiligten zu befragen sowie dass sich die Verfahrensbeteiligten zu ihren Stellungnahmen gegenseitig äußern. Die Verhandlung wird geschlossen, nachdem alle wesentlichen Umstände der Rechtssache geklärt worden sind. Die Verhandlungsdurchführung ist ein Prinzip, wovon das Gesetz über den Verfassungsgerichtshof eine Ausnahme vorsieht. Gemäß Art. 59 Abs. 2 dieses Gesetzes kann der Verfassungsgerichtshof eine Verfassungsbeschwerde in einer nicht öffentlichen Sitzung vorprüfen, wenn aus den schriftlichen Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten unbestritten hervorgeht, dass die Rechtsvorschrift mit der Verfassung unvereinbar ist. 119 K. Wojtyczek, Ciężar dowodu i argumentacji w procedurze kontroli norm przed Trybunałem Konstytucyjnym, Przegląd Sejmowy, 1/2004, S. 9 f. 73

Piotr Tuleja 5.3. Einstweilige Anordnung Gemäß Art. 50 Abs. 1 des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof kann der Gerichtshof eine einstweilige Anordnung über die Aussetzung oder die Unterbrechung des Vollzugs der im Anlassfall der Verfassungsbeschwerde ergangenen Entscheidung erlassen, wenn die Vollziehung des Urteils nicht wieder gutzumachende Nachteile für den Beschwerdeführer nach sich ziehen könnte oder wenn ein wichtiges öffentliches Interesse oder ein anderes Interesse des Beschwerdeführers dafür spricht. Es ist das einzige Verfahren vor dem Verfassungsgerichthof, in dem als Verfahrensgegenstand die Lage des Beschwerdeführers in Betracht kommt. Der Gerichtshof kann die Anordnung zu jeder Zeit auf Antrag des Beschwerdeführers oder von Amts wegen erlassen. Wenn die oben genannten Gründe weggefallen sind, hebt der Gerichtshof die einstweilige Anordnung auf. In der Praxis erlässt der Gesichtshof diese Art von Anordnungen verhältnismäßig selten. Eine Schwierigkeit bei der Anwendung einer solchen Rechtsinstitution ist damit verbunden, dass das grundsätzliche Normenkontrollverfahren die Lage, in der sich der Beschwerdeführer befindet, nicht betrifft. 5.4. Verfahrenskosten Das Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof ist gebührenfrei. Fällt der Gerichtshof ein Urteil, in dem er einer Verfassungsbeschwerde stattgibt, so ordnet er durch Beschluss die Auslagenerstattung zugunsten des Beschwerdeführers durch das Organ an, das die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Rechtsnorm erlassen hat. Das Gesetz über den Verfassungsgerichtshof sieht keine Strafen für die Einlegung unbegründeter Verfassungsbeschwerden vor. Die Barriere für die Verhinderung dieser Art von Beschwerden ist der Anwaltszwang. 6. Charakter des Urteils des Verfassungsgerichtshofes und seine Folgen In einem der Beschwerde nicht stattgebenden Urteil entscheidet der Gerichtshof über die Verfassungsmäßigkeit der Rechtsnorm. In einem der Beschwerde stattgebenden Urteil stellt der Verfassungsgerichtshof die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Rechtsnorm oder ihres Teils fest. Die Feststellung der Verfassungsmäßigkeit der Rechtsnorm stellt kein res iudicata dar. Es ist also zulässig, erneut die Beschwerde gegen die gleiche Rechtsnorm einzulegen. Eine solche Beschwerde sollte jedoch auf andere Argumente gestützt werden. Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Rechtsnorm führt dazu, dass sie an ihrer Geltungskraft verliert. In seinem Urteil stellt der Gerichtshof die Verletzung der Grundrechte des Beschwerdeführers nicht fest. Das Urteil des Gerichtshofes erfasst auch keine in der Angelegenheit des Beschwerdeführers erlassenen Individualentscheidungen. Die Stattgabe der Verfassungsbeschwerde beruht also auf der Stattgabe des Antrags vom Beschwerdeführer auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Rechtsnorm. 74

Die Verfassungsbeschwerde in Polen Gibt der Verfassungsgerichtshof der Beschwerde statt, so ist damit die Rechtsnorm oder ihr Teil aufgehoben. Dies kann jedoch die Rechtslage des Beschwerdeführers direkt nicht ändern. Zu einer solchen Änderung der Rechtslage kann es durch die Verhandlu ngswiederaufnahme kommen, von der im Art. 190 Abs. 4 der Verfassung die Rede ist. Der Beschwerdeführer und jede andere Person über den/die eine auf verfassungswidrigen Vorschriften beruhende Einzelfallentscheidung erlassen wurde, hat das Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens sowie auf Erlangung der individuellen Entscheidung, die unter Nichtbeachtung dieser Vorschriften (Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens) erlassen wurde. In der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes bildete sich die Meinung, dass das Wiederaufnahmeverfahren keinen absoluten Charakter hat und auch eingeschränkt werden kann, wenn dafür die Notwendigkeit des Schutzes von Grundrechten oder Rechten der anderen Subjekte spricht. Man soll jedoch in Erinnerung behalten, dass nicht der Verfassungsgerichtshof über die Zulässigkeit der Verfahrenswiederaufnahme entscheidet, sondern das Organ, vor dem das Verfahren nach dessen Wiederaufnahme anhängig gemacht sein soll. Am häufigsten ist dieses Organ das Gericht. Der Verfassungsgerichtshof verfügt über keine Rechtsmittel, infolge deren er einen Einfluss auf die Entscheidung über die Zulässigkeit der Wiederaufnahme haben könnte. Aus dem Gesichtspunkt des Beschwerdeführers kommt es dann zu einer besonderen Situation, wenn der Verfassungsgerichtshof der Verfassungsbeschwerde stattgibt und die Rechtsvorschriften als verfassungswidrig ansieht, aber gleichzeitig das Außerkrafttreten der verfassungswidrigen Rechtsvorschriften aufschiebt. Gemäß Art. 190 Abs. 3 der Verfassung kann der Verfassungsgerichtshof das Außerkrafttreten der Rechtsvorschriften um 18 Monate aufschieben. Während dieser Zeit sind die Vorschriften weiterhin anzuwenden 120. Diese Angelegenheit wird sowohl in der Verfassung als auch im Gesetz über den Verfassungsgerichtshof nicht direkt geregelt. Der Gerichtshof hat in einem seiner Urteile entschieden, dass das Außerkrafttreten der Rechtsvorschrift die Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens ausschließt, jedoch betrifft dieses Verbot nicht den Beschwerdeführer 121. Der Beschwerdeführer kann die Wiederaufnahme des Verfahrens und die Aufhebung der in seiner Angelegenheit früher erlassenen Individualentscheidung verlangen, und das aufgrund einer so genannten Ergreiferprämie. Es ist aber nicht sicher, ob die oben geschilderte Auffassung durch die über Wiederaufnahme des Verfahrens entscheidenden Gerichte akzeptiert wird. Die oben beschriebene Situation schildert die aufkommenden Schwierigkeiten, wenn der Verfahrensgegenstand keine direkte Verletzung der Grundrechte des Beschwerdeführers, sondern lediglich die Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften darstellt. 120 B. Banaszkiewicz, Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes der Republik Polen seit dem Inkrafttreten der neuen Verfassung bis zum Urteil über die EU-Mitgliedschaft (1997 2005), 2006, S. 25 f. 121 Urteil vom 18. Mai 2004, Signatur SK 38/03, hhttp://www.trybunal.gov.pl/otk/teksty/otkpdf/2004/sk_38_ 03.pdf 75

Piotr Tuleja 7. Die Zusammenfassung Die Verfassungsbeschwerde erschien in der polnischen Verfassung als Konsequenz des angenommenen Katalogs von Freiheiten und Rechte des Menschen. Die Verfassungsvorschriften geben dieser Rechte die Gestalt der subjektiv-öffentlichen Rechte an. Eine grundlegende Funktion dieser Rechte ist, das Individuum vor unzulässigem Eingreifen der öffentlichen Gewalt zu schützen. Als ein grundlegendes Mittel des Verfassungsrechtsschutzes ist das im Art. 45 Abs. 1 und Art. 77 Abs. 2 der Verfassung formulierte Recht auf Prüfung der Rechtssache durch das Gericht. Ein weiteres Schutzmittel ist das Recht auf Entschädigung für das rechtswidrige Handeln der öffentlichen Gewalt. Die Verfassungsbeschwerde soll das Individuum vor der Verletzung der ihm laut Verfassung zustehenden Grundrechte durch die gesetzgebenden Organe schützen. Das Charakteristische an der Verfassungsbeschwerde in polnischem Rechtsystem ist ein eingeschränkter sachlicher Umfang, der sich, erstens, ausschließlich auf Rechtsnormen begrenzt und, zweitens, die Möglichkeit der Beschwerdeeinlegung gegen Vollzugsakte ausschließt. Der eingeschränkte Umfang der Verfassungsbeschwerde ist an die Konzeption des Verfassungsgerichtshofes angepasst. Aus dem Art. 188 der Verfassung geht hervor, dass der Gerichtshof das Gericht des Rechtes ist, das sich mit der Prüfung der hierarchischen Vereinbarkeit von Vorschriften befasst 122. Es ist kein Organ der Rechtsprechung sowie kein Organ, das die Aufsicht über die Gerichte führt. Die Einführung der Verfassungsbeschwerde hatte einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs. Die Beschwerde ist zu einem Impuls für das Erlassen von vielen wesentlichen Entscheidungen aus dem Gesichtspunkt des Individuumsschutzes geworden. In der Konsequenz der Einlegung von Verfassungsbeschwerden ist es zur Beseitigung vieler verfassungswidriger Rechtsvorschriften aus dem Rechtssystem gekommen. Ein eingeschränkter Umfang der Verfassungsbeschwerde führt jedoch dazu, dass sie eine vor allem objektive Funktion erfüllt, die die Kohärenz des Rechtssystems gewährleistet. In einem viel geringeren Ausmaß erfüllt die Verfassungsbeschwerde eine subjektive Funktion, die auf dem Schutz der Grundrechte des Individuums beruht, das die Beschwerde eingelegt hat. In vielen Fällen wäre es erwünscht, dass der Umfang der Verfassungsbeschwerde auch auf Vollzugsakte erweitert wäre. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem Inhalt der angegriffenen Rechtsnormen und deren gerichtlichen Auslegung. Die Erweiterung des Umfangs der Verfassungsbeschwerde, auch wenn das in der Lehre gefordert wird, ist nicht einfach. Dies würde eine gewisse Änderung des Modells des Verfassungsgerichtshofs nach sich ziehen und infolge dessen könnte der Verfassungsgerichtshof ausschließlich die Funktion des Gericht des Rechtes nicht mehr erfüllen. Aus diesem Grunde werden die Forderungen über die Zulassung der Verfassungsbeschwerden gegen die Gerichtsentscheidungen sehr vorsichtig und eher als 122 G. Brenner, Der Zugang des Einzelnen zur Verfassungsgerichtsbarkeit im europäischen Raum, Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Band 50, S. 218 f. 76

Die Verfassungsbeschwerde in Polen Ausnahme von der Regel formuliert. Es wird zum Beispiel vorgeschlagen, eine Einlegung der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsentscheidungen zu ermöglichen, in Fällen wenn das Gericht das Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Gerichtshofsurteil verweigert. Das sind aber nur erste Vorschläge. Die polnische Rechtslehre verfügt zurzeit noch über keine durchdachte Konzeption der Erweiterung des Umfangs der Verfassungsbeschwerde. Siehe Anhang, Tabelle Nr. 4 (unterschiedliche Regelung Nr. 3) Hrsg. Dr. Piotr Tuleja Krokuvos universitetas Konstitucinis skundas Lenkijoje Santrauka Konstitucinis skundas naujas Lenkijos teisės sistemos institutas, sukurtas vadovaujantis 1997 m. priimta Konstitucija. Dabartinis konstitucinio skundo modelis buvo ir tebėra grindžiamas dvejopai. Pirma, šis skundas yra būtinas dėl išplėsto konstitucinių asmens teisių sąrašo. Antra, šis skundas turi būti priderintas prie Konstitucinio Tribunolo įgaliojimų vykdyti teisės normų kontrolę, t. y. skundo dalykas neturi būti tiesioginė teisės normų taikymo kontrolė. Vykstant diskusijoms itin svarbūs buvo nuogąstavimai, kad konstitucinis skundas galėtų apsunkinti Konstitucinio Tribunolo darbą, jei būtų teikiamas dėl kitų teismų ir valdymo institucijų aktų kontrolės. Buvo atsižvelgta ir į Aukščiausiojo Teismo poziciją jis kritiškai vertino Konstitucinio Tribunolo galimybę tikrinti kitų teismų sprendimus. Pagal Konstitucijos 79 straipsnio 1 dalį reikalaujama, kad pateikiamame konstituciniame skunde asmuo nurodytų savo pažeistas konstitucines teises. Pažymėtina, kad Konstitucijoje ir Konstitucinio Tribunolo įstatyme nėra reikalavimo, kad skundą teikiantis asmuo turėtų pagrįsti savo suinteresuotumą. Todėl asmuo turi tik pagrįsti faktą, kad yra padarytas jo konstitucinių teisių pažeidimas ir kad tokio pažeidimo šaltinis yra skundžiama teisės norma. Kaip ir kitų atitinkamų valstybių teisinėse sistemose, Lenkijoje konstitucinis skundas grindžiamas subsidiarumo principu. Pagal šį principą pateikti konstitucinį skundą galima tik tada, kai jau yra išnaudotos visos galimybės kreiptis į kitus valstybės teismus. Pažymėtina, kad dalis asmens konstitucinių teisių yra garantuojama išimtinai Lenkijos valstybės piliečiams, todėl tik piliečiai gali pateikti konstitucinį skundą dėl minėtų teisių pažeidimo. Kita dalis asmens konstitucinių teisių yra garantuojama ir užsienio valstybių piliečiams bei asmenims be pilietybės, tačiau užsieniečiai negali teikti konstitucinio skundo dėl prieglobsčio teisės, taip pat teisės gauti pabėgėlio statusą pažeidimo. Tai numatyta Konstitucijos 79 straipsnio 2 dalyje. Juridinis asmuo gali pateikti konstitucinį skundą, jei jis gali būti atitinkamos konstitucinės teisės (pvz., nuosavybės teisės, ūkinės veiklos laisvės) subjektu. 77