von Kai ein Stückchen weg. Bevor es Eberhard gelang, sich zu befreien, und er die beiden Mädchen, die sich noch mal auf ihn warfen, in ein Gebüsch mit Dornen stieß, schaffte es Lisa, ihn zu kratzen: Die langen weißen Striche in seinem Nacken füllten sich mit Blut. Währenddessen stieß Karl-Heinz, ein kurzes Nicken, Franco die Stirn ins Gesicht. Franco kippte auf die Wiese, saß dort, schüttelte benommen seinen Schädel, klapperte mit den Augenlidern und blieb hocken. Die Arme knickten etwas ein, als er sich auf die Knie drehte. Und deshalb gab er auf, verharrte so, wie er auf dem Rasen saß, und leckte bloß das Blut von seinen Lippen. Während Sürel sich vergeblich gegen die beiden Brüder wehrte, blieb ich immer noch bloß stehen wie gelähmt und wartete, ob einer der Kahlrasierten nicht auch mich schlagen würde. Aber das wollte keiner der beiden. Es ging mir wie so oft: Man übersah mich. Sie traten nur nach Sürels Rippen und manchmal gegen seinen Kopf, nachdem sie ihm die Beine gemeinsam weggeschlagen hatten und niemand mehr da war, der ihm half. Während Sürel versuchte, hauptsächlich seinen Kopf vor den blank polierten Stiefeln der Brüder zu schützen, ächzte er hin und wieder und ich stand neben ihm. Wie Kai hob er die Arme, es sah schwach und hilflos aus. Die Brüder
sagten kein Wort. Sie waren wie Maschinen. Die Beine, die nach dem Verkrümmten traten, waren wie Pleuelstangen aus Stahl. Sie fuhren regelmäßig nach vorn und dann zurück. Und keiner von uns rief etwas oder bewegte sich auch nur. Es war, als hätte jemand den Figuren eines Karussells plötzlich den Stecker rausgezogen. Wir sahen nur zu und wussten, dass alles anders werden würde als vorher.
3 Als man uns am nächsten Morgen vor der Schule fragte, woher wir die Schrammen hätten, schwiegen wir. Die Brüder schwiegen ebenfalls. Wieder flatterte Frau Schubert, um sich einen süßen Duft aus Parfüm und Deo, unstet durch das Klassenzimmer, während sie vorn an der Tafel Schaubilder entstehen ließ: Karl der Große, Kaiserkrönung, Schlachten, Feldzüge und Seuchen, alles einmal umgerührt. Schaubilder gefielen ihr, auch wenn niemand von uns sie verstand. Wieder fiel die weiße Sonne zwischen windbewegten Blättern auf den Boden. Wieder war es warm und hell. Einzig Sürel lag zu Hause mit geprellten Rippen, einer Platzwunde. Und Kai trug an einer Hand einen Verband. Nichts geschah. Die große Pause kam und ging vorbei. Wir blieben im Klassenzimmer. Denn obwohl wir genau wussten, wie man sich verhalten muss dass man Ältere nicht ansieht, ihnen nicht zu lange ins Gesicht schaut und schon gar nicht in die Augen, dass man ihnen aus dem Weg geht, auch bestimmte Gegenden meidet und am Freitagabend nicht mit jeder S-Bahn oder U-Bahn fährt, wussten wir nicht, was wir
angesichts der Brüder machen sollten. Jedes Mal, ehe man anfing, sich mit einem andern rumzuprügeln, gab es zuerst einen Ablauf: schubsen, pöbeln, rempeln, buffen. Niemand würde sofort losschlagen, nur einfach so. Und keiner würde jemanden, der vor ihm auf dem Boden lag, mit Stiefeln treten und nichts dabei sagen. Dass die beiden Brüder geschwiegen hatten, als sie Kai und Sürel im Park zusammenschlugen, machte es beinah noch schlimmer. Das Schweigen der beiden war schrecklich gewesen, weil sie dadurch nicht zornig oder wütend wirkten, sondern kalt und berechnend. Wir warteten das Ende der letzten Stunde nicht mehr ab. Wir sprangen kurz vorm Klingeln auf, liefen durch den Seitenausgang, rannten fast die Schultreppe hinunter. Und auch als uns die Brüder weder im Park erwarteten noch irgendjemanden verfolgten, wurden wir nicht langsamer. Im Gegenteil, wir schauten uns ständig nervös nach ihnen um. Natürlich hätten wir uns fortan von Ayfers Onkeln und Cousins abholen lassen können, bis die Kahlköpfe genügend eingeschüchtert waren. Ayfers Onkel wussten, was man hätte machen müssen. Türken wissen so was meistens besser als die Deutschen.
Aber wir, wir hätten ratlos im Fond eines Wagens gesessen und uns dabei geschämt. Wir wären im Polster eines Straßenkreuzers versunken, um uns Chrom und weiches Leder. Wir hätten uns hinter den Scheiben auf dem Rücksitz klein gemacht. Wir hätten uns geduckt, und jeden Morgen hätte uns ein anderes Auto bis zum Schulhoftor gebracht. Denn Ayfers Onkel handelten mit Autos die manchmal fuhren, manchmal nicht. Und vielleicht hätten Ayfers Cousins irgendwann sogar etwas gegen die Glatzenköpfe unternommen. Sie sagten:»glatzenköpfe.«doch danach hätten wir uns immer noch geschämt. Deshalb sagten wir niemandem etwas von den Kahlrasierten: weder Ayfers Onkeln noch ihren Cousins. Sondern wir beschlossen selbst zu handeln.