Wandel, Wechsel und Widersprüche Russland heute Ein Gespräch mit Petra Stykow



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Transkript:

85 Wandel, Wechsel und Widersprüche Russland heute Ein Gespräch mit Petra Stykow WT: Welche politische Bilanz der Präsidentschaft Putins würden Sie ziehen? Petra Stykow: Als Wladimir Putin Anfang des Jahres 2000 die Amtsgeschäfte von Boris Jelzin übernahm, trat er ein schweres Erbe an: Der Versuch der Demokraten der 1990er Jahre, das Land hin zu einer westlich-liberalen Demokratie mit einer freien Marktwirtschaft zu führen, hatte sich durch die realen Entwicklungen diskreditiert. Die Föderation war zeitweise an den Rand des Zerfalls geraten, die Industrieproduktion hatte sich seit 1989 halbiert, und auch vom Status einer militärischen Supermacht war nichts geblieben. Über ein Drittel der russischen Bevölkerung lebte unterhalb der Armutsgrenze. Eine Handvoll Oligarchen war als Ergebnis der Wirtschaftsreformen in die kleine Gruppe der reichsten Männer der Welt aufgestiegen und übte aufgrund ihrer Nähe zu Jelzin erheblichen Einfluss auf die Politik aus. Die charakteristischen Spieler einer demokratischen Politik Parteien und Interessengruppen hatten sich nach einem geradezu explosiven Boom in den frühen 1990ern weder organisatorisch stabilisieren noch programmatisch profilieren können; die Spielregeln der neuen russischen Politik waren in Vielem umstritten, wurden ignoriert oder ad hoc umgeschrieben. Während seiner Amtsausübung ist es Putin gelungen, die politische Stabilität und die Erwartungssicherheit an die Politik auf der föderalen Ebene wiederherzustellen. Er löste sich aus den Abhängigkeiten sowohl von seinem Amtsvorgänger als auch von den Oligarchen. Er war bestrebt, ein starkes politisches Zentrum zu etablieren, das in der Lage ist, Staat und Gesellschaft zu kontrollieren. Der Föderalismus blieb dabei faktisch ebenso auf der Strecke wie die horizontale Gewaltenteilung, gelang es doch, die Judikative in wichtigen Fragen politisch zu instrumentalisieren und das Parlament in ein Gremium zu verwandeln, das den politischen Willen des Präsidenten zuverlässig bestätigte. Im Projekt dieser gelenkten Demokratie strebt die präsidiale Exekutive die Kontrolle über Formen und Inhalte der politischen Partizipation (vom Imkerverein bis zu politischen Parteien) an Prof. Dr. Petra Stykow, geb. 1961, Geschwister- Scholl-Institut für Politikwissenschaft, LMU München. petra.stykow@ lrz.uni-muenchen.de WeltTrends Zeitschrift für internationale Politik 60 Mai/Juni 2008 16. Jahrgang S. 85-93

86 WeltTrends 60 und beansprucht, die Gesellschaft (von Kindern und Jugendlichen bis zu Medien und Wirtschaft) umfassend zu lenken. Dabei spielen Instrumente der hierarchischen Steuerung im staatlichen Institutionensystem, der sogenannten Machtvertikale, und der dem Präsidenten direkt unterstellte Gewaltapparat des Staates eine wichtige Rolle. Im Ergebnis der achtjährigen Amtszeit Putins ist das politische System Russlands heute noch exekutivlastiger geworden und die offizielle Gesellschaft weitgehend verstaatlicht. Der starke Staat übernimmt im Projekt Putins Aufgaben, deren Erfüllung er einer sich selbst organisierenden Gesellschaft und ihren Akteuren nicht zutraut. Er inszeniert sich als Garant des Gemeinwesens. Deshalb wirken demokratische Beteiligungs-, Mitwirkungs- und Abstimmungsformen wie inhaltsleere Imitate ihrer westlichen Vorbilder. Sie funktionieren nicht ergebnisoffen, sondern werden bei Bedarf gesteuert und manipuliert, um die Vorgaben aus dem Machtzentrum zu erfüllen. Gleichzeitig sind sie keineswegs funktionslos: Die politischen Eliten bedürfen der Herrschaftslegitimation durch eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung. Dies wurde beispielsweise bei den letzten Parlaments- und Präsidentenwahlen deutlich. Ihr Ergebnis war zwar bereits vorher abzusehen, dennoch wurde mit vielen Mitteln um jeden Prozentpunkt der Zustimmung für die Partei und den Kandidaten Putins gekämpft, von der Bestellung einer hohen Wahlbeteiligung bei den Gouverneuren über unlautere Methoden der Wählermobilisierung bis hin zur mehr oder weniger subtilen Fälschung der Ergebnisse. Während westliche Beobachter das politische System Russlands in den 1990er Jahren in einer Grauzone zwischen Demokratie und Autokratie eingeordnet haben und nach Anzeichen für neue Demokratisierungsimpulse suchten, sind sie sich heute über die autoritäre Entwicklungsrichtung der Putin-Ära einig. Ob der wirtschaftliche Aufschwung und der Zuwachs an staatlicher Steuerungskapazität durch die Rezentralisierung der Macht verursacht oder eher behindert wurden, ist eine offene Frage. Die meisten Experten halten das politische System Russlands inzwischen für autoritär, wenn auch nicht im klassischen Sinne einer geschlossenen Autokratie. Wenngleich es an sowjetische Traditionsbestände anknüpft, unterscheidet es sich auch erheblich vom politischen System des Staatssozialismus.

Thema 87 WT: Wie haben sich die soziale und wirtschafliche Lage sowie das geistige Klima in Russland während dieser Zeit verändert? Stykow: Die 1990er Jahre waren durch einen extremen Rückgang des Wirtschaftswachstums und die Verarmung großer Teile der russischen Bevölkerung gekennzeichnet. Nach der Finanzkrise von 1998 begann das Bruttoinlandsprodukt endlich schnell zu wachsen, im Durchschnitt der Jahre 2001 bis 2007 um jährlich über sechs Prozent. Das BIP pro Kopf liegt heute über dem von Venezuela und nähert sich dem der Türkei an. Ein beachtlicher Teil dieses Booms ging einerseits zunächst auf typische Erholungseffekte nach schweren Rezessionen und andererseits auf die gestiegenen Weltmarktpreise für Energie und Rohstoffe zurück. Jedoch wächst seit dem vergangenen Jahr erstmals auch die verarbeitende Industrie. Der Wert russischer Aktien hat sich seit 1999 um das 24-Fache gesteigert, einheimische und ausländische Investitionen nehmen zu. Die jährlichen Inflationsraten sind von über 85 Prozent im Jahr 1999 auf 8,1 Prozent im Jahr 2007 zurückgegangen. Der Aufschwung geht auch an der Bevölkerung nicht vorüber. Löhne und Gehälter sind in letzter Zeit noch stärker als die Wirtschaft gewachsen. Angaben der Weltbank zufolge betrug der Durchschnittslohn Ende 2007 460 US-Dollar und hat sich damit seit dem Jahre 2000 mehr als verfünffacht. In einigen russischen Regionen lebt noch immer über die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, jedoch ist der Anteil der Armen landesweit auf unter 14 Prozent gesunken. Das Sozialsystem ist nach wie vor wenig effizient, kaum zielgruppenorientiert und unterfinanziert. Russland verzeichnet immer noch Mord- und Selbstmordraten, die weltweit zu den höchsten gehören. Im Jahr 2006 betrug die Lebenserwartung für Männer 60, für Frauen 73 Jahre. Seit Beginn der 1990er Jahre liegen die Sterberaten höher als die Geburtenraten. Während in Deutschland eine kritische bis eindeutig negative Sicht auf die Lage in Russland dominiert, nimmt die russische Bevölkerung die Veränderungen der letzten Jahre mehrheitlich als Verbesserung wahr, die sie dem Wirken Putins zuschreibt. Alle Umfragen zeigen, dass er zum Ende seiner Amtszeit von etwa zwei Dritteln der russischen Bürger unabhängig von Geschlecht, Wohnort, Einkommen und Bildung unterstützt wurde. Meinungsfreiheit und Chancen der politischen

88 WeltTrends 60 Mitbestimmung mögen eingeschränkt sein, allerdings übersteigt die Zahl derjenigen, die auch hier Verbesserungen sehen, in den letzten Jahren fast immer leicht die Zahl derer, die eine Verschlechterung wahrnehmen. Der Anteil derjenigen, die glauben, dass Wahlergebnisse möglicherweise oder bestimmt gefälscht werden, ist auf etwas über ein Fünftel der Bevölkerung gesunken. Als weitaus negativer erscheint in der öffentlichen Wahrnehmung die Dynamik im Gesundheitswesen, im Umweltschutz, im multiethnischen Zusammenleben, bei der Gewährleistung der inneren Sicherheit sowie bei der Verteilungsgerechtigkeit. Aufgrund der starken Personalisierung des politischen Systems stärkt die hohe Popularität Putins auch die generelle Regimeakzeptanz. Angaben des russischen Zentrums zur Erforschung der öffentlichen Meinung zufolge sind heute 67 Prozent der Bürger der Auffassung, dass die allgemeine gesellschaftliche Dynamik in der Putin-Ära eher die richtige Richtung eingeschlagen habe. Zum Vergleich: Für die Amtszeit Jelzins erklären dies lediglich 9 Prozent, für die Ära Gorbatschow 15 Prozent und für die Stalinbzw. Breshnew-Zeit 37 bzw. 43 Prozent. Für deutsche Beobachter überraschend ist die Bruchlosigkeit der russisch-sowjetischen Geschichtsinterpretation, deren Traditionen zu bewahren ein wichtiger Bestandteil eines als positiv bewerteten, staatlich geförderten Patriotismus ist. So wünschen weite Teile der Bevölkerung keine Aufarbeitung des Stalin schen Terrors, weil man die Geschichte ruhen lassen solle. Auch die geopolitische Renaissance wird in Russland mit zu den größten Verdiensten Putins gezählt. WT: Wie beurteilen Sie die Persönlichkeit und das politische Konzept des neuen Präsidenten Dimitri Medwedjew? Stykow: Dmitri Medwedjew ist ausweislich seiner Biografie ein langjähriger Protegé Putins. In der ersten Hälfte der 1990er Jahre kreuzten sich die Wege des damals noch nicht 30-jährigen Professorensohns und des ehemaligen Geheimdienstlers Putin, der gern darauf verweist, seine harte Kindheit habe seine Überlebensinstinkte trainiert, in der Petersburger Stadtverwaltung des Reformpolitikers Anatolij Sobtschak. Als Putin von Jelzin zum Premierminister ernannt wurde, holte er Medwedjew wie andere seiner Landsmänner nach Moskau. Medwedjew wurde

Thema 89 zunächst stellvertretender Chef des Regierungsapparates (1999), später Leiter der Präsidialadministration (2003). Dass ihm diese wichtigen Positionen anvertraut wurden, zeugt vom Vertrauen Putins, aber offensichtlich auch davon, dass er über ausgeprägte Kompetenzen als Manager der Macht verfügt. Zwar ist Medwedjew in der öffentlichen Wahrnehmung ebenso wie seinerzeit Putin bisher kein markanter Politiker, sein Karriere profil ist jedoch beachtlich vielseitig: Er war für Putins Wahlkampf (2000) und die Durchführung der Reform des öffentlichen Dienstes (2001) verantwortlich, war Vorsitzender des Aufsichtsrates des russischen Ergaskonzerns Gazprom (seit 2002) und Erster Stellvertretender Ministerpräsident (seit Ende 2005) mit Zuständigkeit für die vier Nationalen (Reform-) Projekte im Gesundheits, Bildungs- und Wohnungswesen sowie in der Landwirtschaft. Die Art und Weise von Medwedjews Nominierung und Amtserhebung ist als Inszenierung politischer Kontinuität zu lesen. Symptomatisch dafür ist Putins Ukaz vom 3. März 2008, mit dem ihm der bisher nicht existierende Status eines gewählten, aber noch nicht in das Amt eingeführten Präsidenten verliehen wurde. Verbunden damit war die Ausstattung mit einem Arbeitsstab der Präsidialverwaltung, einer Dienstwohnung und dem einem Präsidenten zustehenden Personenschutz. Auch gehen Beobachter und Kommentatoren der russischen Politik bisher davon aus, dass Medwedjews Konzept in der Substanz kontinuitätsorientiert ist: Er werde die Re-Regulierung und Verstaatlichung wichtiger Wirtschaftssektoren weiter vorantreiben und privatwirtschaftliche Spielräume im Bereich der Dienstleistungen zulassen, den öffentlichen und politischen Raum weiterhin zu steuern versuchen und wie Putin eine realistische, interessenorientierte Außenpolitik betreiben. Gleichzeitig werden durchaus gewisse innen- und außenpolitische Kurskorrekturen erwartet. Russlandexperten betonen dabei auf der Soll-Seite gern die drängenden Probleme des Landes: ausufernde Korruption, politisch abhängige und unprofessionelle Justiz, wirtschaftliche und technologische Rückständigkeit, veraltetes Sozialsystem, demografische Krise, Bildungsnotstand und soziale Polarisierung. Auf der Haben-Seite wird vor allem auf die Persönlichkeit des neuen Präsidenten verwiesen: Er sei der Typ pflegeleichter Schwiegersohn und wirke eher wie ein Plüsch- als wie der sprichwörtliche russische Bär ( Medwed

90 WeltTrends 60 bedeutet auf Russisch Bär ). Zudem verkörpere er eine neue Generation russischer Politiker ohne geheimdienstliche Vergangenheit. Dies greift die (Selbst-)Darstellung von Medwedjew auf, der als Repräsentant der Liberalen im Kreml gilt. Sie werden als Gegenspieler der sogenannten Silowiki angesehen, die sich vorrangig aus dem Geheimdienst, der Staatsanwaltschaft, dem Militär und der Polizei rekrutierten und einen innen- und außenpolitischen Kurs der harten Hand verfolgen. Vermutet wird daher häufig, dass Medwedjews Innenpolitik liberaler als die seines Vorgängers werden könnte. Er selbst hat sich in seinen öffentlichen Auftritten dezidiert für persönliche Freiheiten, Gewaltenteilung und Rechtsstaat sowie eine professionell, effizient und ethisch korrekt arbeitende Verwaltung ausgesprochen und eine Art Politik des New Deal angemahnt, die Wirtschaftswachstum und Sozialverträglichkeit vereinen will. Damit verbinden Beobachter die Erwartung, dass Medwedjew möglicherweise kritische Stimmen und Parteienwettbewerb in größerem Maße als Putin tolerieren werde und dass er insbesondere versuchen werde, die Beziehungen zwischen Wirtschaft und Staat eher im Dialog auszuhandeln als einseitig zu diktieren. Sie interpretieren Medwedjews Auftreten als zumindest rhetorische Profilbildung, weisen aber auch darauf hin, dass damit letztlich bekannte, auch von Putin immer wieder thematisierte Probleme angesprochen werden. Der neue Präsident habe übrigens die Gelegenheiten zur realen Problemlösung, die ihm mit der Koordinationsfunktion für vier Nationale Projekte zur Verfügung standen, in seinen Jahren als Vizepräsident eher nicht ausgeschöpft. WT: Wie schätzen Sie die sich ankündigende Tandem - Variante der Machtausübung im künftigen Russland ein? Wird es einen starken Ministerpräsidenten Putin und einen zu diesem loyalen, sich gewissermaßen selbstbeschränkenden Präsidenten Medwedjew geben? Oder widerspricht das dem Charakter des Institutionensystems in Russland? Stykow: Die Verfassung von 1993 konzipiert ein semipräsidentielles Regierungssystem mit einem dominanten Staatsoberhaupt. Sie lässt mehrere Varianten für die Ausgestaltung des Tandems Medwedjew-Putin zu. Zwar kann der Präsident

Thema 91 den Ministerpräsidenten jederzeit entlassen, der Regierungschef ist jedoch nicht auf die Rolle eines technischen Premiers festgelegt, auch wenn dies während Putins Präsidentschaft so aussah. Er hat beispielsweise das Recht, Struktur und Personal des Kabinetts vorzuschlagen, und dieses Recht kann er theoretisch auch anders ausüben, als durch das öffentliche Verlesen von vorab getroffenen Entscheidungen des Präsidenten. In der Verfassung ist überdies auch nicht festgeschrieben, dass die zehn sogenannten Machtministerien, also die föderalen Verwaltungen des staatlichen Gewaltapparats, dem Präsidenten unterzuordnen seien, wie dies unter Putin praktiziert wurde. Schließlich wird der Premierminister auch den Regierungsapparat als seinen Arbeitsstab ausbauen. Dieser könnte damit in eine institutionelle Konkurrenz zur Präsidialadministration treten, welche bislang die Fäden der föderalen Politik in den Händen hält. Nicht zuletzt erschließt Putin Ressourcen außerhalb der Exekutive. So hat er den Vorsitz der Partei Einiges Russland übernommen pikanterweise, ohne Parteimitglied zu werden. Diese Partei, die über eine Zweidrittelmehrheit in der Staatsduma verfügt, hat es bisher der Präsidialadministration ermöglicht, das Stimmverhalten des Parlaments zu kontrollieren. Da nun die Führung dieser Kreml-Partei an den Premierminister übergegangen ist, hat die präsidiale Exekutive einen wichtigen Pfeiler ihres Einflusses verloren. Formal scheint damit ein konstitutionell nicht vorgegebener Zusammenhang zwischen dem Ergebnis von Parlamentswahlen und der Zusammensetzung des Kabinetts herstellbar zu sein, wie er für die europäischen parlamentarischen Regierungssysteme charakteristisch ist. Spielräume für institutionelle Veränderungen, welche die Stärke der Hausmacht von Präsident und Premier beeinflussen, sind also durchaus auch unterhalb der konstitutionellen Ebene vorhanden. Dies ist auch deshalb bedeutsam, weil die meisten einflussreichen Akteure, darunter Putin, es bisher stets ablehnten, die geltende Verfassung zu ändern, um deren systemstabilisierende Funktion nicht zu beschädigen. Ein weiterer Aspekt verdient Beachtung: Das russische Regierungssystem wird in der Literatur oft als superpräsidentiell bezeichnet. Damit wird einerseits betont, dass der Präsident über eine außerordentliche Machtfülle verfügt, welche die des Parlaments deutlich überwiegt. Andererseits soll damit ausgedrückt

92 WeltTrends 60 werden, dass diese Machtfülle sich nicht in konstitutionell gewährten Kompetenzen erschöpft, sondern vielmehr auf personeller Dominanz und ihrer Absicherung durch loyale formale und informelle Apparate (Präsidialadministration, Machtvertikale ) bzw. Netzwerke beruht. Das russische Machtsystem stellt einen Mix aus Institutionen einer rationalisierten Bürokratie und einer klientelistischen Herrschaftsorganisation dar. Deshalb ist es auch für Politik und Gesellschaft existenziell wichtig, wer an der Spitze der Macht steht: Er muss dieses System gut bedienen können, was auch heißt, dass er die Loyalität einflussreicher, aber informell organisierter Interessengruppen sichern muss. Medwedjew steht daher vor der Aufgabe, Putins bisherige Position auch in informeller Hinsicht einzunehmen oder aber zwangsläufig nur als dessen Statthalter wahrgenommen zu werden. Letzteres ist sicher nur als Zwischenlösung denkbar, weil sich die für einen russischen Präsidenten nötigen Unterstützungsnetzwerke dadurch nicht auf ihn einschwören ließen, was die Gefahr von politischer Instabilität bergen würde. Zwischen den einzelnen Elitegruppen gibt es nämlich durchaus Konkurrenz, wofür die allgegenwärtigen Gerüchte und Spekulationen über die Auseinandersetzungen zwischen den Clans der Geheimdienstler, Petersburger usw. sprechen. Diese Konkurrenz ist jedoch nicht wie in den Parteiendemokratien des Westens vorrangig parteipolitisch organisiert, und über ihren Ausgang entscheiden nicht die Wähler. Sie lässt sich nur durch eine starke Hand kontrollieren und einhegen, die früher oder später gewiss auch die faktische Schlüsselposition in der Exekutive einnehmen muss. Bei allen tatsächlichen Spielräumen für die institutionelle Ausstattung: Diese Schlüsselposition ist das Amt des Präsidenten und nicht das des Premiers, wenn die Verfassung nicht entsprechend geändert wird. Eine dauerhaft loyale Selbstbeschränkung Medwedjews wäre also wohl nicht so sehr als Zeichen charakterlicher Integrität und Treue gegenüber Putin zu deuten denn als Zeichen extremer Schwäche oder extrem geringer politischer Ambitionen. Medwedjew befindet sich heute in einer ähnlichen Situation wie Putin zu Beginn seiner ersten Amtszeit: In einem System, in dem sich die Eliten in weiten Teilen und ohne ernsthafte Beteiligung des Wahlvolks selbst rekrutieren, ist er einerseits von der Unterstützung seines Vorgängers und dessen Netzwerken

Thema 93 abhängig, die seinen Aufstieg akzeptieren müssen. Andererseits wird seine Position auf Dauer davon bestimmt, wie sehr es ihm gelingt, diese Netzwerke und ihre Ressourcen an sich zu binden, also sich selbst als das reale Machtzentrum zu etablieren. Putin hat die Emanzipation von seinem Vorgänger seinerzeit ebenso vorsichtig wie deutlich vollzogen, so durch die Verdrängung von Repräsentanten des Jelzin-Clans aus den wichtigen politischen Institutionen zugunsten von persönlich loyalen, ihm biografisch verbundenen Personen, durch den Pakt mit den Großunternehmern, sich politischer Aktivitäten zu enthalten, und nicht zuletzt durch die Reformen, die das politische System insgesamt auf den Präsidenten hin zentralisiert haben. Anders als seinerzeit Putin hat Medwedjew jedoch wahrscheinlich geringere Aussichten darauf, sich von seinem Mentor zu distanzieren. Denn dieser kann, wie gesagt, auf eine beachtliche Erfolgsbilanz verweisen, ist offensichtlich gesund und erfreut sich höchster Popularität. Medwedjew verspricht deshalb zumindest bisher Kontinuität, und allenfalls die Betonung einer besonderen politischen Liberalität und persönlichen Kultiviertheit des neuen Präsidenten können als Anzeichen einer ausbaufähigen Profilierung gedeutet werden. Wie die neue russische Dyarchie funktionieren wird, lässt sich von außen nicht besonders gut vorhersagen die bisher absehbare Kompetenz- und Ressourcenzuordnung an Putin und Medwedjew kann ebenso einvernehmliche Arbeitsteilung andeuten wie beginnende Konkurrenz. Eventuelle Veränderungen werden Hinweise auf das reale Kräfteverhältnis geben vielleicht aber auch nur auf Putins Absichten, da er höchstwahrscheinlich derjenige ist, der aus der Position des Stärkeren gestartet ist. Gleichzeitig werden solche Hinweise lückenhaft und unsicher bleiben, da sie wichtige Aspekte der Politik im Arkanbereich nur bedingt und eventuell mit Verzögerung widerspiegeln. Tatsächlich ist also das sogenannte Nachfolgerproblem noch keineswegs gelöst, über das in Russland seit Jahren intensiv diskutiert wurde: Dem nominierten Amtsnachfolger wird die Übernahme der faktischen Schlüsselposition (bisher) weder in der Öffentlichkeit noch unter Experten zweifelsfrei geglaubt. WT: Vielen Dank für das Gespräch.