Beitrag: Wenn Kinder Kinder missbrauchen Ein gesellschaftliches Tabuthema



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Transkript:

Manuskript Beitrag: Wenn Kinder Kinder missbrauchen Ein gesellschaftliches Tabuthema Sendung vom 19. Januar 2016 von Martina Morawietz Anmoderation: Es sind noch Kinder. Sie sind unter vierzehn und nicht strafmündig, aber was sie tun, würde Erwachsene ins Gefängnis bringen. Es sind Kinder, die anderen Kindern, jüngeren und schwächeren, Schlimmes antun, sie zu sexuellen Handlungen bis hin zum Geschlechtsverkehr zwingen. Es sind Kinder, die so gar nicht unserem Bild von Kindheit entsprechen. Und dennoch gibt es mehr von ihnen als unsere Gesellschaft wahrhaben will. Und es gibt einige wenige Pädagogen und Therapeuten, die wissen, wie man ihnen hilft und die an die Kinder glauben. Martina Morawietz blickt hinter die verschlossenen Türen eines Kinderheimes. Blick in eine Tabuzone. Text: Sechs Uhr früh. Im heilpädagogischen Kinderheim in Bad Salzuflen beginnt der Alltag. O-Ton Stefanie Grüttemeier, Pädagogin: Guten Morgen. In der Mädchen-Intensivgruppe der Einrichtung werden sechs- bis 14-Jährige aufgenommen. Alle hier haben andere Kinder, Freunde, Geschwister, Mitschüler sexuell missbraucht. Noch sind sie strafunmündig und daher keine Täter. Lena heißt in Wahrheit anders. Sie ist seit zwei Jahren hier und inzwischen 15. Von ihrem eigenen Bruder wurde sie missbraucht. Ihre Mutter starb, da war sie sieben. Mit zehn wurde Lena erwischt, als sie sich an ihrem Pflegebruder verging. Ich habe Sachen gemacht, die er nicht wollte. Zum Beispiel? Kann man das benennen?

Nein. Willst du nicht? Nein. Hat er sich gewehrt? Jein, er war vier. Kannst Du erklären, warum man sexuell übergriffig wird bei einem Kind? Ja, weil man das quasi selbst erlebt hat. Und was ist das dann für ein Gefühl, wenn man das bei jemandem anderen macht? Dass man Macht über den hat und er das dann auch wissen soll. Weiß man denn als Zehnjährige, das ist eigentlich falsch - oder ist einem das dann egal oder wie ist das? Also, mir war s in dem Moment egal. Manche Kinder kommen aus hochsexualisierten Familien, erleben Pornokonsum, Gewalt, Erniedrigung und verlieren die Grenzen von Richtig und Falsch. In den Intensivgruppen des Kinderheims sollen Jungen und Mädchen wieder lernen sich zu kontrollieren. Stefanie Grüttemeier arbeitet seit Jahren als Pädagogin in der Mädchen-Intensivgruppe. Während der Nacht sind die Räume hier alarmgesichert. Keines der Mädchen soll unkontrolliert sein Zimmer verlassen können. Die Kinder werden rund um die Uhr überwacht und müssen sich auf strenge Regeln einlassen. Über ein Punktesystem können sie in verschiedene Stufen aufsteigen, langsam wieder mehr Unabhängigkeit bekommen.

O-Ton Stefanie Grüttemeier, Pädagogin: Wenn die Mädchen hier ankommen, wissen wir noch gar nichts über die Mädchen. Über ihre Auffälligkeiten lesen wir ein bisschen was in den Akten, aber müssen sie ja auch einschätzen mit ihrem grenzverletzenden Verhalten. Deswegen Stufe null, das bedeutet hier, dass sie in Hör- und Sichtweite sind, also ständig an der Seite eines Pädagogen, dass da auch nichts passieren kann in Richtung Übergriffe. 6.30 Uhr. Frühsport vor dem Schulunterricht. Lena und die anderen Mädchen sind in einen engmaschigen Tagesablauf eingebunden. Er fordert alle Disziplin. Sie kommen aus ganz Deutschland, bleiben im Durchschnitt vier Jahre. Zusätzlich zu der Intensivgruppe für Jungen hat Birgit Ogieniewski 2008 die Intensivgruppe für Mädchen gegründet. Es ist die einzige in Deutschland. Die Arbeit, meint sie, verhindere spätere Sexualstraftaten, sei damit auch der beste Opferschutz. O-Ton Birgit Ogieniewski, Therapeutin: Ich bin sehr sicher, dass wir damit auch Straftäter-Karrieren vermeiden, weil die Kinder, wenn wir schon früh mit ihnen arbeiten können, noch ein viel größeres Veränderungspotenzial haben. Ich glaube, je älter die Kinder oder Jugendlichen dann sind, umso mehr hat sich vielleicht dieses übergriffige Verhalten schon festgesetzt. Es ist kurz vor acht. Lena darf das Gelände des Kinderheims inzwischen verlassen und besucht wieder eine externe Schule. O-Ton Stefanie Grüttemeier, Pädagogin: Ich wünsche dir einen schönen Schultag. Die anderen Mädchen in der Sicherheitsstufe null gehen in die interne Schule der stationären Jugendhilfe-Einrichtung - so wie die 14-Jährige, die wir Julia nennen. Mit zwölf kam Julia nach Bad Salzuflen. Schon mit sieben war sie sexuell übergriffig. Dieses Verhalten steigerte sich immer mehr gegenüber anderen Kindern. O-Ton Julia: Ein paar waren gleich alt mit mir und ein paar älter und ein paar auch jünger. Mit drei oder vier hatte ich mehrmals Geschlechtsverkehr. Und haben die sich gewehrt? O-Ton Julia: Nein, ich hab die überredet, das zu tun.

Tut dir das dann irgendwie leid oder wie geht s dir damit? O-Ton Julia: Eigentlich nicht gut, weil ich dadurch die Kinder sozusagen verletze. Und denkst du, das hast du heute im Griff? O-Ton Julia, Noch nicht, da muss ich noch ein bisschen ran. Julia muss lernen, wieder ein Gefühl zu bekommen für den Umgang mit sich und anderen. Es geht um Eigenverantwortung und um Grenzen. Teambesprechung am Nachmittag. Schwierigkeiten und Entwicklungsschritte werden diskutiert. Die Experten sind sich einig: Sexuelle Übergriffe von Minderjährigen geschehen viel häufiger als wahrgenommen. Die Kinder kommen aus allen Schichten der Gesellschaft. Offizielle Zahlen gibt es nicht. Bekannt ist aber, was ein solches Verhalten bei den Minderjährigen auslösen kann. O-Ton Stefan Wittrahm, Leiter Heilpädagogisches Kinderheim Grünau-Heidequell: An erster Stelle würde ich sagen, selbst erlebter sexueller Missbrauch, insgesamt eine schwierige Sozialisation, also Vernachlässigung, Misshandlung psychisch und auch körperlich und erstmal eine Situation, in der Kindern wenig Stärke und Ressource zur Verfügung steht. Kirsten Becker betreut die Intensivgruppe der Jungen im heilpädagogischen Kinderheim. Der Jüngste ist elf und erst seit ein paar Wochen hier. Wir nennen ihn Mirko. Intelligent, höflich - aus bürgerlichen Familienverhältnissen. Die Intensivgruppe ist nun sein neues Zuhause. Von verbalen sexuellen Attacken bis zum Anfassen anderer Kinder reichte Mirkos Verhalten. Noch kennt niemand die Gründe. Hast Du da mit jemandem Sprechen können? Ja. Mit wem denn? Ja, mit meinen Eltern. Habe ich aber oft nicht gemacht, weil

ich mich zu geschämt hab. Und deine Eltern? Die waren enttäuscht. Haben sie das so gesagt? Ja. Was haben sie denn zu dir gesagt? Also, warum ich das mache. Warum ich das nicht sein lasse und dass sie enttäuscht darüber sind. Und wenn du nicht hier wärst, Mirko, und das wäre nicht aufgeflogen, denkst du dann, das hättest du so weitergemacht? Wahrscheinlich. Die Eltern und Mirko willigten in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt ein, dass ihm hier geholfen werden soll. Im Tagesablauf sind mehrere einzel- und gruppentherapeutische Sitzungen eingeplant. O-Ton Kirsten Becker, Therapeutin: Das Wichtigste meines Erachtens ist, mit denen zu erarbeiten, wie ist es dazu gekommen. Was für Motive gab es? War es Eifersucht, war es Rache? Hab ich Personen gehabt, die zu mir gestanden haben? Gab es Personen, die mich selber missbraucht haben? Und daraus entwickeln wir ja letztendlich andere Lösungsmöglichkeiten. In Einrichtungen wie Bad Salzuflen gibt es Wartelisten. Therapeutische Angebote in ganz Deutschland fehlen. Das Thema - oft ein Tabu. Es mangelt an Kompetenz im Umgang mit Kindern, die anderen Kindern sexuelle Gewalt antun. O-Ton Stefan Wittrahm, Leiter Heilpädagogisches Kinderheim Grünau-Heidequell: Aus meiner Einschätzung fehlt einmal natürlich Fachwissen darüber, wie entwickeln sich Kinder, wie ist die sexuelle Entwicklung von Kindern. Es fehlt auch Reflexion darüber,

was ist eigentlich normal, was ist nicht normal. Und es fehlt Fachkräften auch häufig die Sicherheit, sich ihren Vorgesetzen gegenüber und auch dem Träger, bei dem sie angestellt sind, vielleicht da auch wirklich öffnen zu können, wenn sie bestimmte Dinge beobachtet haben. Nach dem Abendessen hat Mirko Zeit für sich. Es gab Kinder, die mussten die Einrichtung wieder verlassen, weil die Therapeuten nicht weiterkamen. Doch von Rückfällen der Kinder, die Jahre hier waren, ist in Bad Salzuflen nichts bekannt. Mirko wird frühestens in zwei Jahren wieder nach Hause können. Ein mühseliger Weg, aber einer, der sich lohnt - für ihn und die Gesellschaft. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. Insbesondere darf er weder vervielfältigt, verarbeitet oder zu öffentlichen Wiedergaben benutzt werden. Die in den Beiträgen dargestellten Sachverhalte entsprechen dem Stand des jeweiligen Sendetermins.