Sprachen Sabine Neureiter Schamanismus im Alten Ägypten Wissenschaftlicher Aufsatz
1 Schamanismus im Alten Ägypten von Sabine Neureiter, M.A. Erstmals publiziert in: Hartwig Altenmüller; Nicole Kloth (Hgg.), Studien zur altägyptischen Kultur (SAK), Hamburg 2005, Bd. 33, 281-330 1
2 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung...3 1.1 Argumente gegen einen altägyptischen Schamanismus...4 1.2 Argumente für einen altägyptischen Schamanismus...6 2. Hinweise auf einen altägyptischen Schamanismus...8 2.1 Jenseitsbeschreibungen... 10 2.2 Weltenebenen... 14 2.3 Hilfsgeister... 17 2.4 Seelenaspekte... 21 2.5 Initiation: Zerstückelung und Wiedergeburt... 24 2.6 Erleuchtung... 30 2.7 Räumlichkeiten, Kleidung und Hilfsmittel... 31 3. Schamanische Elemente im Totenkult und in der Medizin...37 3.1 Das Statuenherstellungsritual I: Kunst und Meditation... 38 3.2 Das Statuenherstellungsritual II: Schamanismus und Wiedergeburt... 43 3.3 Das Rezept Nr. 216 des Medizinischen Papyrus Hearst... 47 4. Versuch einer Rekonstruktion der historischen Entwicklung des Schamanismus...49 5. Résumée...55 Hinweis: Leider gibt es aus technischen Gründen kleinere Ungenauigkeiten bei der Umschrift der altägyptischen Begriffe. Ich bitte dringend dies zu berücksichtigen. 2
3 Schamanismus im Alten Ägypten 1 1. Einleitung Sich mit dem Thema Schamanismus im Alten Ägypten zu beschäftigen, ist eine heikle Angelegenheit. Ich erinnere noch den Alttestamentler Klaus Koch, der bezüglich meiner Vermutung, die Existenz eines altägyptischen Schamanismus wäre anhand der Mundöffnungszeremonie belegbar, einmal meinte, dann könne man ebenso behaupten, im Alten Ägypten hätte es Weihnachtsbäume gegeben. Im November 1996 hörte ich in Hamburg einen Vortrag von Hans-W. Fischer-Elfert mit dem Titel "Die Vision von der Statue im Stein. Der Anfang des altägyptischen Mundöffnungsrituals". Die Zusammenfassung des Vortrags auf der Einladung lautete wie folgt: Zur Herstellung der Statue eines Verstorbenen bedurfte es der meditativen Versenkung in den noch unbehauenen Steinblock durch den Sem/Setem-Priester. Durch diesen Akt wird der Tote zuallererst "geschaut". Der Sem erzählt seine Schau in einem dramatischen Dialog. Sog. "dramatische Vermerke" nehmen auf diese Rede Bezug. Sie zu entschlüsseln und damit dem tatsächlichen Geschehen dieses Szenarios auf die Spur zu kommen, ist das Ziel des Vortrags. Dabei kommt dem Ritualbeginn weniger eine religionsgeschichtliche als vielmehr eine kunstgeschichtliche Bedeutung zu. Mit "Schamanismus" (Wolfgang Helck) haben das Ritual und der Sem nichts zu tun. Mir kam es seltsam vor, den Schamanismus aus dem Ritual - und damit im Prinzip auch aus der altägyptischen Geschichte - zu verdammen, um ihn dann aber mit Meditation zu ersetzen, eben weil bestimmte rituelle Szenen nicht in das übliche ägyptologische Erklärungsmuster passen. Spätestens an diesem Abend nahm ich mir vor, dieses Thema einmal genauer zu betrachten. Zunächst einige Worte der Erklärung zu dieser Arbeit: In erster Linie möchte ich aufzeigen, dass es durchaus aufschlussreich sein kann, scheinbar längst erklärte kulturelle Phänomene unter einem anderen Aspekt zu betrachten, zum Beispiel unter dem Aspekt des Schamanismus. Für einige Ägyptologen werden meine Ausführungen nicht akzeptabel sein, zumal es sich dabei nur um die Ergebnisse einer quellenkritischen Arbeit handelt. Betrachtet werden lediglich Sekundärquellen. 1 Ich danke Prof. Dr. Hartwig Altenmüller für die Durchsicht des Manuskripts und für sehr hilfreiche Hinweise. 3
4 Im ersten Teil des Aufsatzes werden Argumente dargestellt, die gegen und solche, die für einen altägyptischen Schamanismus sprechen. Im mittleren Teil wird Hinweisen nachgegangen, die den Schluss zulassen, dass ein frühzeitlicher Schamanismus existiert haben muss, der weit in die spätere Geschichte ausstrahlte. Daran anschließend werde ich das Statuenherstellungsritual, den ältesten Teil der Mundöffnungszeremonie, unter dem Aspekt des Schamanismus neu interpretieren. Im letzten Teil wird das Verdrängen des frühzeitlichen Schamanismus durch den offiziellen Kult rekonstruiert. Schon im frühen Alten Reich wurde der Schamane, so meine Vermutung, durch den Sem- Priester ersetzt und die schamanischen Praktiken als solche aus dem institutionalisierten Kultgeschehen verdrängt. Erinnerungen daran finden sich aber im Totenkult, im Königskult, im Tempelkult, in der Medizin, in der Magie und in den Mythen. Der Schamanismus als kulturelles Phänomen wurde Teil des kollektiven Gedächtnisses. 1.1 Argumente gegen einen altägyptischen Schamanismus Die wenigen schriftlichen und ikonographischen Quellen reichen zwar in ihrer Aussagekraft nicht im Entferntesten an die einer ethnographischen Datenerhebung heran. Sie sind aber aussagekräftig genug, um feststellen zu können, dass der Begriff Schamanismus Phänomene umschreibt, die wir zum Teil auch im Alten Ägypten antreffen. Sowohl Schamanismus als auch Meditation umfassen komplexe Praktiken der Wahrnehmung von Wirklichkeitsebenen, die außerhalb unserer normalen erfahrbaren Realität liegen, und insofern von uns kaum nachvollziehbar sind. 2 Da diese anderen Wirklichkeitsebenen aber existieren, kommen wir nicht umhin, sie und ihre Wahrnehmungsmethoden zu benennen. Es ist vor allem die Ethnologie, die die Terminologie zur Beschreibung kultureller Phänomene erarbeitet. Das Problem der Verwendung dieser Begriffe liegt in deren kulturspezifischer Praxisbezogenheit. Sie kommen aus der Ethnographie, bezeichnen Phänomen, die bei verschiedenen Ethnien beobachtet und diesen konkret zugeordnet werden. Dabei entwickelt jede ethnologische Schule ihre eigene Terminologie, die es auf den ersten Blick oft schwierig erscheinen lässt, ähnliche, aber unterschiedlich bezeichnete Phänomene, Zeit und Raum übergreifend miteinander zu vergleichen. 3 2 S. a. Roger Uchtmann, Schamanisches Sein als dialektischer Modus, in: Michael Kuper (Hg.), Hungrige Geister und rastlose Seelen. Texte zur Schamanismusforschung, 1991, 156f 3 Die Begriffe Schamane und Schamanismus werden in der britischen Ethnographie, deren traditionelles Forschungsgebiet Afrika ist, nicht verwendet. Daraus könnte der Schluss gezogen werden, es gäbe in Afrika keinen Schamanismus. S. Ioan M. Lewis, Schamanen, Hexer, Kannibalen. Die Realität des Religiösen, 1989, 105ff 4