2003). 1 in einer der 80 existierenden außerklinischen Geburtsorte (Geburtshäuser o.ä.) oder als Hausgeburt (Loytved

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Transkript:

Adieu, normale Geburt? Ergebnisse eines Forschungsprojekts Clarissa M. Schwarz, Beate A. Schücking Dr. med. Mabuse Nr. 148, März/April 2004, S. 22-25 Langversion Wie viele Frauen in Deutschland bringen ihre Kinder ohne medizinische Eingriffe zu Welt? Nur eine kleine Minderheit von 6,7% waren es 1999, mittlerweile werden es noch weniger sein. Von den über 700 000 Frauen im Jahr, die hier Kinder zur Welt bringen, entscheiden sich nur 1,3% für einen außerklinischen Geburtsort 1, die anderen 98,7% werden in einer Klinik zumeist unter hohem Technikeinsatz entbunden. Die heutige Geburtshilfe wendet medizinische Eingriffe, die ursprünglich für Notfälle und pathologische Zustände entwickelt wurden, mittlerweile auch bei normalen Verläufen an. Ist die Technisierung der Geburtshilfe also zu weit gegangen? Wir haben in unserem Forschungsprojekt Technisierung der normalen Geburt Interventionen im Kreißsaal 2 Daten von mehr als einer Million Geburten 3 analysiert. Dazu haben wir den gesamten Datensatz in zwei Untergruppen geteilt - eine Normal-Gruppe und eine Risiko-Gruppe 4 - und die Ergebnisse beider Gruppen miteinander verglichen. Auch wenn durch Eingriffe während der Geburt ohne Frage unzählige Leben gerettet wurden Leben von Müttern und Leben von Kindern so ist mittlerweile aus dem sozialen und familiären Ereignis der Geburt ein hochtechnisierter Prozess geworden. Die Schwangerenvorsorge wird in der Regel von Fachärzten durchgeführt und Geburten finden in hightech ausgestatteten Kreißsälen statt, wo eine vorwiegend technologisch orientierte Geburtsmedizin praktiziert und von den Beteiligten als normal erlebt wird. Eine Risikoschwangerschaft ist heute normal Eine Risikoschwangerschaft ist zur Regel geworden und eine normale Schwangerschaft zur Ausnahme. Unsere Studie bestätigt, dass drei von vier Schwangeren als risikoschwanger definiert werden 5 und in unserem Gesundheitssystem nach wie vor die Tendenz besteht, die überzuversorgen, die es am wenigsten brauchen. 1 in einer der 80 existierenden außerklinischen Geburtsorte (Geburtshäuser o.ä.) oder als Hausgeburt (Loytved 2003). 2 durchgeführt an der Universität Osnabrück, gefördert durch den Niedersächsischen Forschungsverbund für Frauen- und Geschlechterforschung in Naturwissenschaft, Technik und Medizin (NFFG). Projektleitung: Prof. Dr. med. Beate Schücking, wissenschaftliche Mitarbeiterin: Clarissa Schwarz, MPH. Eine Kurzfassung der Projektergebnisse wird veröffentlicht in: Paravicini U, Zempel-Gino M, (Hg.): Wissenschaftliche Reihe NFFG, Bd. 4: Innovative Projekte, Hannover 3 Daten von Geburten, die in den Jahren 1984 bis 1999 in niedersächsischen Kliniken stattgefunden haben (N=1 066 802). Der Datensatz wurde durch die niedersächsische Perinatalerhebung erfasst und vom Zentrum für Qualitätsmanagement (ZQ) der Ärztekammer Niedersachsen in Hannover gesammelt und zur Verfügung gestellt. 4 Kriterien für die Zugehörigkeit zur fokussierten Gruppe Physiologische Schwangerschaft und normale Geburt : Geburt nach 37-42 vollendeten Schwangerschaftswochen, Mutter 18-39 Jahre alt, Einling in regelrechte Schädellage, Geburtsgewicht 2500g - 3999g, Plazentasitz normal, kein vorangegangener Kaiserschnitt oder andere Uterus-Operation, keine Gestose. Kriterien für die Zugehörigkeit zur Restgruppe Risikoschwangerschaft, pathologische Geburt : Frühgeburt oder Übertragung, Mutter unter 18 oder über 39 Jahre alt, Mehrlinge, regelwidrige Kindslage, Geburtsgewicht <2500g oder 4000g, Plazenta praevia, vorangegangener Kaiserschnitt oder andere Uterus-Operation, Gestose. 5 Im Jahr 1999 wurden in Niedersachsen bei 74% aller schwangeren Frauen Schwangerschaftsrisiken im Mutterpass angegeben (der Risikokatalog besteht aus 52 möglichen Schwangerschaftsrisiken, davon beziehen sich 26 auf die Vorgeschichte der Frau und 26 auf die bestehende Schwangerschaft). 1

Immer mehr Schwangere gehen immer häufiger zu Vorsorge-Untersuchungen. Obwohl in einer normalen Schwangerschaft maximal 10 Untersuchungen vorgesehen sind, gehen die meisten Schwangeren häufiger zum Arzt. Erstaunlicherweise waren 1999 in der Normal-Gruppe mehr Schwangere (82%), die 10 oder mehr Vorsorge-Untersuchungen wahrnahmen,. als in der Risiko- Gruppe (73%). Dieses Phänomen ist schon seit vielen Jahren bekannt. Pro Schwangerschaft sind drei Ultraschall-Untersuchungen vorgesehen und weitere nur angezeigt, wenn sie bei vorliegenden Indikationen zur Überwachung von pathologischen Befunden dienen. Bei zwei Drittel der Schwangeren wurden 1999 mehr als drei US-Untersuchungen dokumentiert. Obwohl Kardiotokographische Untersuchungen (Herzton-Wehen-Aufzeichnung mit einem CTG- Gerät) nur nach entsprechender Indikation vorgesehen sind, fand dies 1999 bei nahezu allen Schwangeren routinemäßig im Rahmen der Schwangeren-Vorsorge statt (95,8%). Auch hier besteht seit 1994 das Phänomen, dass häufiger bei Schwangeren der Normal-Gruppe CTG-Kontrollen durchgeführt wurden als bei Schwangeren der Risiko-Gruppe. Mit diesen Ergebnissen bestätigt sich erneut (s.jahn 2000 und Urbschat 1999), dass insbesondere bei risikofreien Schwangeren eine beträchtliche Über-Standard-Versorgung stattfindet, während eine angemessen intensive Betreuung von Risikoschwangeren nicht sichergestellt ist. Die High-Tech-Geburt ist zur Normalität geworden Eine Geburt ist routinemäßig mit viel Einsatz von Technik und Medikamenten verbunden, auch wenn die Geburt normal verläuft, das bestätigt unsere Studie ebenfalls. CTG, geburtseinleitende Maßnahmen, Wehenmittel, Periduralanästhesie, Dammschnitt und Kaiserschnitt werden zunehmend häufiger eingesetzt; dies zeigen die folgenden Raten des Jahrgangs 1999: Ein CTG ist die absolute Normalität (98,8%) zumeist als Dauer-CTG -, obwohl der Vorteil seines routinemäßigen Gebrauchs wissenschaftlich nicht erwiesen ist. Der spontane Wehenbeginn wird immer seltener abgewartet: bei 23,4% wurde der Geburtsbeginn mit einer geburtseinleitenden Maßnahme beschleunigt, durch ein Priming mit Hilfe von Prostaglandinen (den Schwangeren als Weichmacher erklärt) oder durch eine Einleitung der Geburt. Die Geburt wird immer häufiger medikamentös beschleunigt: ca. 40% all der Frauen, die keinen geplanten Kaiserschnitt hatten, erhielten einen Wehentropf. Immer mehr Frauen gebären unter Periduralanästhesie (PDA): 19,2% bekamen eine Rückenspritze. Auch Dammschnitte werden häufiger gemacht: bei 52,1% aller vaginalen Geburten wurde eine Episiotomie durchgeführt. Jede 5. Schwangere bekam ihr Kind per Kaiserschnitt, davon 10,4% mit einem primären, d.h. geplanten Kaiserschnitt, für 10,2% der Schwangeren endete die bereits begonnene Geburt in einem (sekundären) Kaiserschnitt. Der Anstieg über die Jahre ist bei all diesen Interventionsraten in beiden Gruppen deutlich, wobei die Interventionsraten in der Normal-Gruppe erwartungsgemäß geringer ausfallen als in der Risikogruppe (mit Ausnahme der Wehenmittel, die in der Normal-Gruppe sogar häufiger verabreicht wurden als in der Risiko-Gruppe). Allerdings nimmt der Unterschied zwischen den beiden Gruppen zumeist ab, da die Steigerung der Normal-Gruppe die der Risikogruppe übertrifft. Und was haben die Neugeborenen davon? Nach den Ergebnissen unserer Studie hat sich der Zustand der Neugeborenen nicht weiter verbessert. In der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich die perinatale Sterblichkeit in Deutschland von knapp 5% im Jahr 1950 innerhalb von 30 Jahren auf 5-6, also auf nahezu ein Zehntel verringert. In Niedersachsen ist seit 1988 (5,8 ) allerdings keine weitere Verbesserung mehr zu verzeichnen, sondern ein minimaler Anstieg auf 5,9 im Jahr 1998 und 6,1 im Jahr 1999. 2

Unsere Studie analysiert zwei wesentlichen Angaben, die das Wohlbefinden des Neugeborenen beschreiben: 1. die Apgar-Werte 6 sowie 2. den Nabelarterien-pH-Wert. Weder die 5- und 10-Minuten- Apgar-Werte noch die Nabel-Arterien-pH-Werte lassen auf eine Verbesserung des kindlichen Befindens schließen. Dies passt zu den Ergebnissen der WHO, die aufgrund internationaler Literatur davon ausgeht, dass durch eine Kaiserschnitt-Rate über zehn Prozent keine weiteren Verbesserungen zu erwarten sind (nach Wagner 1994). Außerdem werden durch weichere Indikationen und dadurch steigende Kaiserschnittraten in einem immer geringer werdenden Anteil aller Kaiserschnitte Leben und Gesundheit von Kindern gerettet. Da die Operations-Risiken durch steigende Raten nicht abnehmen, ist es nur logisch, dass schließlich eine Rate erreicht wird, bei der die Operationsrisiken überwiegen (Wagner 2001). Warum steigen die Interventionsraten? Dass bei Geburten immer häufiger eingegriffen wird, hängt mit unterschiedlichen Faktoren zusammen. 1. erhöhen bereits stattgefundene Interventionen die Chance für künftige Interventionen (so genannte Interventionskaskade): vor allem Einleitungen und Kaiserschnitte spielen eine wesentliche Rolle. Wird der natürliche Geburtsbeginn nicht abgewartet, führt dies vermehrt zu weiteren Eingriffen. Nach unserer Studie hatten Frauen, deren Geburtsbeginn beschleunigt wurde, im Vergleich zu Frauen mit spontanem Wehenbeginn häufiger weitere Interventionen: fast doppelt so häufig eine PDA, fast doppelt so häufig einen sekundären Kaiserschnitt und um 60% häufiger Wehenmittel, und außerdem mehr Komplikationen: fast doppelt so häufig einen verzögerten Geburtsverlauf bzw. einen Geburtsstillstand in der Eröffnungsperiode und ebenfalls fast doppelt so häufig eine verstärkte Nachblutung (mehr als 1000ml), die wiederum zu weiteren Interventionen führen. Diese Ergebnisse sind bereits durch andere Untersuchungen bekannt. Beispielsweise bestätigt eine ganze Reihe von Untersuchungen, dass nach Einleitung doppelt so viele Geburten in einer sekundären Sectio enden (Yeast et al 1999, Dublin et al 2000, Coonrod 2000, Maslow 2000, Menticoglou/Hall 2002). Dies gilt nicht nur für Einleitungen aufgrund medizinischer Indikation, sondern auch für Einleitungen auf Wunsch der Frau (Seyb et al 1999). Durch einen Kaiserschnitt wird jede weitere Schwangerschaft zu einer Risikoschwangerschaft mit folgender Risikogeburt. Dies zeigt sich auch in der Zusammensetzung der Risikogruppe unserer Studie, die zu einem Viertel aus Frauen mit einem vorangegangenen Kaiserschnitt besteht. 2. Auch nicht-medizinische Gründe spielen eine wesentliche Rolle, nach einer britischen Untersuchung(Savage 1997) vor allem diese Faktoren: Ärzte haben Angst vor juristischen Konsequenzen (und sind in Anbetracht der gängigen Rechtsprechung durch Ausschöpfung der maximalen medizinischen Möglichkeiten auf der sicheren Seite). Mangelnde Erfahrung des bei Geburten anwesenden Personals (aufgrund der herrschenden Arbeitsund Ausbildungssituation sind im Kreißsaal zumeist Ärzte, die sich in der Facharztausbildung befinden. Hinzu kommt häufig eine diensthabende Hebamme mit wenig Berufserfahrung, aufgrund hoher Fluktuation, insbesondere in großen Kliniken.) Der Konflikt zwischen Anbietern und Finanzierern (durch das geltende Abrechnungssystem werden Interventionen gefördert: Kaiserschnitte werden finanziell belohnt, während invasionsarme ebenso wie ambulante Geburten ökonomisch völlig unattraktiv sind.) 6 Der von der Ärztin Virginia Apgar 1950er Jahren entwickelte und nach ihr benannte Apgar-Score erfasst und dokumentiert fünf Vitalparameter: Herzfrequenz, Atmung, Hautfarbe, Reflexverhalten und Muskeltonus des Neugeborenen. Für jeden Teilbefund werden nach 1, 5 und 10 Minuten jeweils 0, 1 oder 2 Punkte vergeben. Ein lebensfrisches reifes Neugeborenes weist Apgar-Werte von 9-10 auf, Werte von 7-8 sind noch als normal zu werten, Werte von 4-6 zeigen eine mäßige und Werte von 0-3 eine schwere Depression des Neugeborenen an. 3

Wissenschaftliche Ergebnisse haben zu wenig Einfluss auf die klinische Praxis (weil die Kliniker den Daten nicht glauben bzw. nicht bereit sind, ihre gewohnte Praxis zu ändern). 3. Strukturelle Faktoren des Gesundheitssystems wirken sich aus, nach Wagner (2001) insbesondere die Zuständigkeit von ÄrztInnen und Hebammen: In Gesundheitssystemen, in denen die Schwangerenbetreuung unter dem entscheidenden Einfluss von Ärzten steht und Hebammen eine marginale Position einnehmen oder ganz fehlen (wie z.b. in den USA und den Großstädten Brasiliens) sind insgesamt hohe Interventionsraten und besonders hohe Kaiserschnittraten zu finden. In Gesundheitssystemen, in denen die Grundversorgung normaler, gesunder Frauen während der Schwangerschaft und Geburt in den Händen von Hebammen liegt (wie die Niederlande, Neuseeland und Skandinavien) gibt es weit weniger Risiko-Schwangerschaften und -Geburten, und die Interventionsraten sind niedrig bei gleichzeitig guter Gesundheit des Kindes. Medikalisierung und Technisierung Das Wissen um unbeeinflusste Geburtsverläufe incl. der Möglichkeiten ihrer Förderung und der Prävention gehen zunehmend verloren (z.b. beruht die gesamte moderne geburtshilfliche Literatur auf Beobachtungen der durch Medikalisierung und Technisierung beeinflussten Geburt). Die Selbstbestimmung der Frau und die Illusion absoluter Sicherheit für das Kind werden als (Schein-) Argument für die Durchführung von Eingriffen bis hin zum Wunschkaiserschnitt benützt. Gleichzeitig werden in Deutschland anders als bspw. in England immer noch geplante außerklinische Geburten verteufelt. Ergebnisse, die die geplante außerklinische Geburt als durchaus sichere Alternative für Frauen mit niedrigem Risiko zeigen, werden nicht zur Kenntnis genommen. Wir erinnern uns heute sehr nachdenklich an den renommierten niederländischen Geburtshilfe- Professor, der keine Möglichkeit sah, eine normale Schwangerschaft und Geburt bei einer gesunden Frau zu verbessern: we can only change it, but not for better (G.J. Kloostermann 1984, zu Beginn des Zeitraums unserer Studie). Literatur Coonrod,DV, R C Bay, G Y Kishi, 2000: The epidemiology of labor induction: Arizona, 1997: Am.J.Obstet.Gynecol., 182, S. 1355-1362. Dublin,S, M Lydon-Rochelle, R C Kaplan, D H Watts, C W Critchlow, 2000: Maternal and neonatal outcomes after induction of labor without an identified indication, Am J Obstet Gynecol, 183, S. 986-994.Jahn A (2000): Gesundheitssysteme im internationalen Vergleich: die Betreuung bei Schwangerschaft und Geburt unter besonderer Berücksichtigung des Risikokonzepts. Medizinische Fakultät, Heidelberg. (Habilitationsschrift). Loytved C (2003): Qualitätsbericht 2002. Außerklinische Geburtshilfe in Deutschland. Hg.: QUAG, Gesellschaft für Qualität in der außerklinischen Geburtshilfe e.v., Verlag Wissenschaftliche Scripten, Zwickau Maslow,AS, A L Sweeny, 2000: Elective induction of labor as a risk factor for cesarean delivery among low-risk women at term: Obstetrics and gynecology, 95, S. 917-922. Menticoglou,SM, P F Hall, 2002: Routine induction of labour at 41 weeks gestation: nonsensus consensus: BJOG., 109, S. 485-491. Savage W (1997): Is it so difficult to define an optimal caesarean section rate for a population? Health policy report, London School of Hygiene and Medicine Seyb,ST, R J Berka, M L Socol, S L Dooley, 1999: Risk of cesarean delivery with elective induction of labor at term in nulliparous women: Obstet.Gynecol., 94, S. 600-607. 4

Urbschat I (1999): Schwangerenvorsorge in Niedersachsen in den Jahren 1992-1996. Ergänzungsstudiengang Bevölkerungsmedizin und Gesundheitswesen, MHH Hannover. (Diplomarbeit) Wagner M (2001): Fish can't see water: the need to humanize birth. Int.J.Gynaecol.Obstet. 75 Suppl 1, S25-S37. Deutsche Übersetzung: Fische können das Wasser nicht sehen Die Notwendigkeit einer Humanisierung der Geburt. In: Schücking BA (Hg.) (2003): Selbstbestimmung der Frau in Gynäkologie und Geburtshilfe. Frauengesundheit Band 3, V&R unipress, Osnabrück: 47-67 Wagner,M (1994): Pursuing the Birth Machine. The search for appropriate birth technology, Camperdown, Australien, ACE Graphics. Yeast,JD, A Jones, M Poskin, 1999, Induction of labor and the relationship to cesarean delivery: A review of 7001 consecutive inductions: Am.J.Obstet.Gynecol., 180, p. 628-633. 5