Lorenz Peiffer / Henry Wahlig

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79 Aspekte einer Geschichte des jüdischen Sports im Gebiet des heutigen Niedersachsen/Bremen bis zum Jahre 1938. Erste Ergebnisse eines Forschungsprojektes 1. Vorbemerkung Seit April 2008 fördert der Minister für Wissenschaft und Kultur des Landes Niedersachsen an der Leibniz Universität Hannover ein Forschungsprojekt zur Geschichte des jüdischen Sportlebens im heutigen Niedersachsen in der Zeit vor 1938. Kooperationspartner des in Hannover von Prof. Lorenz Peiffer verantworteten Projektes ist das Koebner Center for German History an der Hebrew University Jerusalem (Prof. Moshe Zimmermann). 1 Grundsätzlich bildet das vorliegende Projekt die erste methodisch-systematische und projektbasierte Auseinandersetzung mit dem sportlichen Wirken jüdischer Sportlerinnen und Sportler im nationalsozialistischen Deutschland. Dabei fokussiert sich die Studie mit dem heutigen Niedersachsen auf einen vergleichsweise kleinen regionalen Rahmen, dem jedoch hinsichtlich seines sozialen und demographischen Zuschnitts Beispielcharakter für größere Räume bzw. für ganz Deutschland beigemessen werden kann. So verfügt Niedersachsen (im vorliegenden Rahmen immer inklusive der Freien Hansestadt Bremen) einerseits über die großen Metropolregionen Hannover und Bremen mit einer vergleichsweise großen jüdischen Bevölkerung. Andererseits ist das Bundesland durch große ländliche Räume geprägt, in denen bis 1938 lediglich eine sehr kleine und zersiedelte jüdische Bevölkerung lebte. Einen Sonderfall bietet schließlich Ostfriesland, wo mit Emden und Leer zwei Kleinstädte einen proportional sehr hohen jüdischen Bevölkerungsanteilen hatten. 2 Grundsätzlich bildet die Auseinandersetzung mit der Verbindung von Sport und Juden ein stark vernachlässigtes Thema sowohl der sporthistorischen wie der jüdischen Geschichtswissenschaft. Jüdische Athletinnen und Athleten sowie die Rolle des Sports im jüdischen Alltagsleben bildeten für Sporthistoriker lange Zeit ein (vermeintlich) zu vernachlässigendes Randphänomen, 1 Das Projekt ist unter der Zuweisungsnummer VWZN2325 beim Land Niedersachsen registriert. 2 In Emden gehörten der Volkszählung von 1925 zufolge 2,5% der Bevölkerung zur jüdischen Minderheit, in Leer waren es 2,4%. Im gesamten Deutschen Reich lag dieser Anteil dagegen durchschnittlich bei nur 0,6% Juden.

80 während sich Fachhistoriker zur jüdischen Geschichte allzu einseitig auf die geistesgeschichtlichen Errungenschaften des Judentums konzentrierten. Vor diesem Hintergrund verzichten bis heute nahezu alle Standardwerke, die sich mit der Geschichte der Juden im nationalsozialistischen Deutschland auseinandersetzen, entweder völlig auf das Thema (vgl. u.a. ADAM 1972, FRIED- LÄNDER 1998, HILBERG 1990) oder erwähnen es lediglich peripher (BENZ 1988, 48f.; PAUCKER 1986, 223 ff.; ZIMMERMANN 1997, 45 f.). So gilt diese Feststellung insbesondere für die Entwicklung und Bedeutung der selbstorganisierten jüdischen Sportbewegung, die sich nach dem Ausschluss jüdischer Sportler aus den bürgerlichen Turn- und Sportvereinen entwickelte. In den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft erreichten die beiden jüdischen Sportverbände Makkabi und Schild bisherigen Schätzungen zufolge bis zu 45.000 Athleten, die in über 300 Vereinen organisiert waren. Erst steigende Auswanderungszahlen und schließlich die Pogrome des 9. November 1938 besiegelten das Ende dieser jüdischen Sportbewegung auf deutschem Boden. Die wenigen vorliegenden wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dieser Thematik sind zumeist älteren Datums und zeugen sowohl in ihrer organisationsgeschichtlichen wie in ihrer sozialhistorischen Aufarbeitung von Defiziten. 3 So ist bereits das genaue Ausmaß, das die jüdische Sportbewegung zwischen 1933 und 1938 in Deutschland erreichte, lediglich in groben Zügen erforscht: Zu wichtigen Zentren des jüdischen Sportlebens liegen wenige oder gar keine Untersuchungen vor. 4 Neben den organisationsgeschichtlichen Defiziten ist vor allem der soziale Stellenwert, den Sport einerseits innerhalb der jüdischen Gemeinden, aber auch im Zusammenleben zwischen Juden und Christen einnehmen konnte, von der Forschung bislang noch nicht ausreichend verortet und entsprechend bearbeitet worden. So kann eine genauere Analyse der Partizipation jüdischer Sportler in bürgerlichen Turn- und Sportvereinen vor 1933 neue Perspektiven über den jeweiligen Vergemeinschaftungs- und Assimilationsprozess der Juden vor Ort aussagen. Sport könnte in diesem Zusammenhang als Gradmesser der jeweiligen Assimilation vor Ort verstanden werden: Je mehr Juden sich in führenden Stellungen im bürgerlichen Sport engagierten, desto besser schien die Assimilation der jüdischen Bevölkerung in die lokale Gesellschaft zu gelingen. Vor diesen Hintergründen hat sich das Projekt zum Ziel gesetzt, das jüdische Sportleben im heutigen Niedersachsen beispielhaft für andere Regionen Deutschlands unter den folgenden Fragestellungen zu untersuchen: 3 Bis heute unerreichtes Standardwerk zur Thematik ist BERNETT 1978. 4 Als Beispiele können hier u.a. München oder Stuttgart genannt werden, über die noch keinerlei Untersuchungen vorliegen. Auch das besonders vielfältige jüdische Sportleben in Frankfurt ist bislang nur in Teilen aufgearbeitet. 80

Aspekte einer Geschichte des jüdischen Sports in Niedersachsen bis 1938 81 o o o o o Wie verlief das Mit- / Nebeneinander zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Sportlern vor 1933? Wo (und warum) existierten schon vor 1933 eigene jüdische Sportvereine? Wie verlief der Ausschluss jüdischer Sportler aus den bürgerlichen Sportvereinen? Gab es Unterschiede zwischen großen Stadtklubs und kleinen Vereinen auf dem Lande? Wo und wie konnten sich nach 1933 jüdische Sportklubs etablieren? Welche Rolle nahmen sie im Alltag der jüdischen Bevölkerung ein, welche Aufgaben hatte der Sport in Zeiten der Diskriminierung und Verfolgung zu erfüllen? Welches Schicksal ereilte die jüdischen Sportler nach dem 9. November 1938? Welche Rolle spielte der Sport bei der Emigration / der Neuansiedlung in anderen Ländern, z.b. Palästina? 2. Methodische Überlegungen Die genannten Fragestellungen werden derzeit jeweils unter den gleichen methodischen Voraussetzungen sukzessive für die verschiedenen Städte und Regionen des heutigen Niedersachsens überprüft. Ziel ist die Zusammenstellung eines Handbuches Jüdischer Sport in Niedersachsen, in welchem ein möglichst vielfältiges Abbild der verschiedenen Vereine und Athleten wiedergegeben werden soll. Den wichtigsten Ausgangspunkt der Forschungen bildete dabei zunächst die Auswertung der Sport-Berichterstattung zeitgenössischer jüdischer Zeitungen. Nach 1933 entwickelte sich der Sport zu einem der zentralen Themen der jüdischen Presse überhaupt, Berichte aus den einzelnen Sportgruppen nahmen regelmäßig 2-3 Seiten ein. Insgesamt wurden auf diese Weise 12 Periodika 5 mit insgesamt rund 4.000 DIN-A4 zusammengetragen. Die zunächst für Gesamtdeutschland vollständig kopierten Sportmeldungen wurden in einem zweiten Schritt nach Fundstellen aus dem Raum Niedersachsen abgesucht. Dies führte zu einer ersten Liste jüdischer Sportvereine und ihrer Aktivitäten in der Region. Neben den Zeitungsmeldungen bilden Archivquellen das zweite Standbein der Projektrecherchen. Die noch laufenden Arbeiten in den verschiedenen 5 Es handelt sich dabei um die folgenden Publikationen: CV-Zeitung (1924-1938); Israelitisches Familienblatt (1931-1938); Jüdische Rundschau (1923-1938); Der Makkabi (1928-1938); Der Schild (1925-1938); Jüdisch-liberale Zeitung (1933-1936); Der Morgen (Sonderausgabe Sport 1936); Dazu die lokalen Synagogenblätter aus Hannover (1928; 1933-1934; 1938), Bremen (1929-1936) und Hamburg (1933-1938) sowie die regionalen Blätter Jüdisches Gemeindeblatt Preußen (1932-1938) und Bayrisch-Israelitische Gemeindezeitung (1933-1937). 81

82 Staats- und Stadtarchiven des Landes haben bislang jedoch vergleichsweise wenig neue Informationen über das jüdische Sportleben der Region beisteuern können: So scheinen wichtige Akten infolge des Weltkriegs verloren gegangen zu sein, ferner schienen jüdische Sportvereine nicht in einem besonderen Fokus der Gestapo-Überwachung gestanden zu haben. Schließlich waren die neu gegründeten Klubs nicht mehr bei den zuständigen Amtsgerichten als eingetragene Vereine registriert worden, weshalb zusätzlich wichtige Unterlagen fehlen. Die dritte Grundlage des Projektes bildet der intensive Austausch von Informationen wie Quellen mit Lokalhistorikern vor Ort. Diese Zusammenarbeit hat sich in der Regel für beide Seiten als überaus fruchtbar erwiesen: So haben sich die Lokalhistoriker zumeist trotz intensiver Forschungen zur jüdischen Geschichte am Ort noch nicht mit dem spezifischen Thema Sport in ihrer Gemeinde auseinandergesetzt. Umgekehrt erhält das Projekt wichtige Hilfestellungen zur Aufarbeitung der jeweiligen lokalspezifischen Umstände und zur Aufdeckung einzelner Sportlerschicksale nach 1938. Hieran anknüpfend bilden schließlich Interviews mit Zeitzeugen den vierten und letzten Pfeiler der Projektarbeiten. Dank aufwändiger Recherchen konnten immerhin noch einige Sportlerinnen und Sportler lokalisiert und dann besucht werden, sich in der Zeit nach 1933 in einem jüdischen Sportverein engagierten. Diese heute in Israel, Schweden und den USA lebenden Persönlichkeiten konnten einerseits wichtige Informationen zum jüdischen Sportleben in ihrer damaligen Wohnregion beisteuern, vor allem jedoch plastisches Zeugnis davon geben, welche hohe Bedeutung sportliche Betätigung in der damaligen Verfolgungszeit für junge Juden generell besessen hat. Der aus der beschriebenen methodischen Konzeption resultierende kleinteilige lokale Zuschnitt ist eine wichtige Basis des Projektes. Sie ermöglicht einerseits zahlreiche neue Zugänge für die spätere lokal- oder regionalspezifische Forschung, bildet andererseits aber auch wichtige Unterschiede für eine spätere allgemeine Aufarbeitung ab. So zeugen bereits die ersten vorliegenden Ergebnisse deutlich davon, dass innerhalb der jüdischen Sportbewegung in Niedersachsen je nach Verein, Stadt und Jahr enorme Differenzierungen vorgenommen werden müssen. 3. Erste Ergebnisse Grundsätzlich befindet sich das bis zum Frühjahr 2011 finanzierte Projekt noch mitten in seiner Umsetzung. Die einzelnen Lokalstudien werden derzeit nach dem oben beschriebenen methodischen Muster sukzessive abgearbeitet und lassen damit noch keine endgültigen Schlussfolgerungen zu. Dennoch lassen sich auch aus den bisherigen Teilergebnissen klare Tendenzen aufzeigen, die im Folgenden thesenartig zusammengefasst werden sollen. 82

Aspekte einer Geschichte des jüdischen Sports in Niedersachsen bis 1938 83 3. 1. Allgemeine Bemerkungen Vor allen weiteren Beobachtungen muss zunächst das erstaunlich große Ausmaß des jüdischen Sportlebens im heutigen Niedersachsen hervorgehoben werden: Alleine für die Zeit zwischen 1933 und 1938 können nicht weniger als 27 verschiedene jüdische Sportvereine im Land nachgewiesen werden. Diese verteilten sich zu ungefähr gleichen Teilen auf das Landesgebiet, wobei hinsichtlich ihrer Größe und des Ausmaßes extreme Unterschiede bestanden. Übersicht aller jüdischen Sportvereine im heutigen Niedersachsen, 1933-38. Die größten Zentren des Sports bildeten erwartungsgemäß Hannover und Bremen, die jeweils über zwei größere Vereine verfügten einen mit zionistischer und einen mit assimilatorischer Ausrichtung. Zwei Klubs gab es auch in Braunschweig und Oldenburg, wobei die Ausmaße hier deutlich kleiner waren. Einen Sonderfall bildet Göttingen, wo die Quellen Auskunft über einen klassischen Sportverein sowie zwei separate jüdische Kegelvereine geben. 6 Überraschende Ergebnisse liefern vor allem die Untersuchungen zum Sportleben in ländlichen Regionen, das im Rahmen dieses Projektes erstmals gezielt in den Blick der Forschung rückte: So zeigen die Quellen, dass selbst 6 Die beiden Vereine wurden, da keine klassischen Sportvereine, nicht in der Übersicht der 27 jüdischen Klubs aufgeführt. Belege für andere jüdische Kegelvereine in Niedersachsen gibt es bislang nicht. 83

84 Kleingemeinden wie Bentheim, Fürstenau oder Twistringen eigene, sehr aktive Sportvereine aufbauten und ihre Mitglieder aus einem größeren Umkreis (bis zu 50km) rekrutierten. In Fürstenau trafen sich seit 1934 jeden Sonntag jüdische Jugendliche aus dem gesamten Osnabrücker Land / südlichen Emsland, um gemeinsam Fußball zu spielen. 3. 2. Zeitliche Differenzierungen Bereits in den Ursprüngen des Turn- und Sportwesens im heutigen Niedersachsen lassen sich starke jüdische Wurzeln ausmachen. So gehörte Samuel Mendelsohn Mitte des 19. Jahrhunderts zu den wichtigsten Exponenten, die für eine Verbreitung des Turnens im damaligen Herzogtum Oldenburg sorgten. 1852 und 1854 war Mendelsohn an der Gründung der beiden ersten Turnvereine Oldenburgs beteiligt und leitete ihre Turnabende. Auch die jüdischen Volksschulen der Region maßen dem Turnen besondere Bedeutung zu und nahmen es ungewöhnlich früh in ihren Fächerkanon auf. So berichtete die israelitische Gemeindeschule Emden schon 1868, dass der Turnunterricht bereits vor längerer Zeit in unserer Schule obligatorisch eingeführt ist. 7 Anfang des 20. Jahrhunderts engagierten sich dann sportbegeisterte Juden bei der Verbreitung des damals neuartigen Fußballspiels. Entsprechende Mitgliedschaften lassen sich für zahlreiche Gemeinden im Land nachweisen, besonders gut dokumentiert sind sie am Beispiel der Region Springe (vgl. ROHDE 1999, 56 ff.). Trotz oder gerade wegen ihres zahlreichen Engagements im bürgerlichen Sport existierten in der Weimarer Zeit nur wenige spezifisch jüdische Sportvereine im heutigen Niedersachsen. Abseits der jüdischen Zentren Hannover und Bremen, in denen sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg jüdische Sportvereine gegründet hatten, entwickelte sich jedoch ab Mitte der 20er Jahre auch in vergleichsweise kleinen Gemeinden wie Osnabrück, Hildesheim, Aurich oder Hameln eine jüdische Sport-Subkultur. Meist begannen dort jüdische Jugendbünde damit, Sportabteilungen einzurichten und jüdische Sportler vom Übertritt in ihren Verein zu überzeugen. Als entscheidendes Argument hierfür darf ansteigender Antisemitismus in den bürgerlichen Klubs vermutet werden; zumindest im Fall Osnabrücks kann er eindeutig nachgewiesen werden. 8 Nach einem vorübergehenden Rückgang jüdischer Sportaktivitäten zwischen 1930 und 1933 offensichtlich nicht zuletzt begründet durch finanzielle Schwierigkeiten infolge der Weltwirtschaftskrise (vgl. BORUT 2006, 88) 7 Stadtarchiv Emden. Organisation des Turnwesens in Emden 1868-72. IV Pa, Nr. 3. 8 Der Osnabrücker Turnverein (OTV), der damals nominell größte Sportverein der Stadt, trennte sich bereits 1924 von seinen jüdischen Mitgliedern. Darauf gründete sich in der Stadt ein eigener jüdischer Sportverein, der weite Kreise der jugendlichen Bevölkerung erreichte. 84

Aspekte einer Geschichte des jüdischen Sports in Niedersachsen bis 1938 85 folgte dem Ausschluss jüdischer Athleten aus den paritätischen Vereinen im Jahr 1933 ein massiver Ausbau der jüdischen Vereinslandschaft. Innerhalb von nur 1 ½ Jahren gründeten sich mindestens 13 jüdische Sportgruppen in Niedersachsen, davon besonders viele in ländlich geprägten Regionen. Sie schlossen sich analog zur eher assimilatorisch geprägten Einstellung der jüdischen Landbevölkerung in ihrer Mehrzahl dem Sportbund Schild des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten an, während sich größere Stadtvereine häufiger dem zionistischen Makkabi-Bund anschlossen. Seinen Höhepunkt erreichte das jüdische Sportleben Niedersachsens in den Jahren 1934 und 1935: Da jüdische Sportklubs vor den Olympischen Spielen in Berlin aus taktisch-diplomatischen Gründen vergleichsweise wenig reglementiert wurden, entfaltete sich in dieser Phase ein vielfältiges, erstaunlich breites Sportleben in zahlreichen Disziplinen. Nach dem Ende der Olympischen Spiele stellten schärfere behördliche Regulierungen und vor allem massiv steigende Emigrationszahlen die jüdischen Sportvereine vor unüberwindbare Schwierigkeiten: Die meisten, gerade kleineren Sportgruppen mussten sich bereits im Laufe der Jahre 1936 und 1937 wieder auflösen. Mitte 1938 waren in Niedersachsen nur noch sechs Vereine aktiv, davon zwei in Hannover. Die Pogrome des 9. November 1938 markieren schließlich die faktische Zerschlagung der noch bestehenden Gruppen und das Ende der organisierten jüdischen Sportbewegung in Deutschland überhaupt. Jüdische Sportvereine in Niedersachsen nach ihrer ersten und letzten Quellennennung, 1933-1938. 85

86 3. 3. Problemkreise Um in Zeiten akuter Not und Verfolgung einen vollständigen Sportbetrieb aufbauen und aufrechterhalten zu können, waren die jüdischen Sportvereine mit einem ganzen Bündel schwerwiegender Probleme konfrontiert. Als vordringlichste Fragen zeigten sich dabei die Platz- und die Gegnerfrage. 3. 3. 1 Fehlende Sportstätten In der Frage fehlender Sportstätten hatten fast alle Städten und Gemeinden 1933 jüdischen Klubs zunächst die weitere Nutzung ihrer städtischen Anlagen verwehrt. Für viele jüdische Sportvereine bedeutete dies ab dem Frühjahr 1933 zunächst die Einstellung aller sportlichen Aktivitäten. Infolge der Konsolidierung der nationalsozialistischen Herrschaft und mit Rücksicht auf mögliche außenpolitische Dissonanzen vor den Olympischen Spielen erließ der Reichssportführer Ende 1933 neue Direktiven, die jüdischen Sportvereinen wieder gewisse Rechte einräumten. Trotzdem gingen mehrere Städte und Gemeinden nur gegen hartnäckigen Widerstand auf diese Vorgaben ein und stellten jüdischen Vereinen letzten Endes abgelegene Sportplätze an der Peripherie der Stadt zur Verfügung. Zahlreiche jüdische Vereine waren jedoch zu diesem Zeitpunkt bereits selbst zur Eigeninitiative übergegangen und hatten sich eigene Sportstätten errichtet. Ein signifikantes Gegenbeispiel stellt in dieser Hinsicht Bremen dar, wo die Stadt noch im Juli 1934 das große städtische Weserstadion für ein MakkabiSportfest zur Verfügung stellte. Über 300 Teilnehmer aus ganz Norddeutschland maßen sich in verschiedenen leichtathletischen Disziplinen. Kurt Flatauer, damals Teilnehmer für Makkabi Osnabrück, verweist in einer schriftlichen Erinnerung auf die damals noch demokratische Atmosphäre in Bremen, die eine reibungslose Durchführung des Sportfestes erst möglich gemacht habe (Vgl. JUNK/SELLMEYER, 80). Makkabi-Sportfest im Weserstadion Bremen, Juli 1934. (Quelle: privat) 86

Aspekte einer Geschichte des jüdischen Sports in Niedersachsen bis 1938 87 3. 3. 2. Fehlende Gegner Die Problematik fehlender Gegner besaß für den großen, sehr ländlichen Raum Niedersachsens besonderes Gewicht: So wurden arische Mannschaften spätestens 1935 von ihren eigenen Verbänden dazu gezwungen, keinerlei sportlichen Verkehr mehr mit jüdischen Vereinen durchzuführen. 9 Fortan mussten sich damit alle Spiele der jüdischen Klubs ausschließlich auf Begegnungen mit anderen jüdischen Teams konzentrieren. Dies stellte insbesondere ländliche Vereine vor enorme organisatorische Herausforderungen: So waren für Schild Fürstenau bereits direkte Nachbarvereine wie Schild Twistringen fast 100km entfernt, für Auswärtsspiele in Hannover mussten gar 200km überwunden werden. In einer Zeit auch zunehmenden finanziellen Drucks auf die Juden waren solche Anstrengungen nur noch durch tatkräftige Zuwendungen einzelner jüdischer Mäzene aufrechtzuerhalten. 10 Vor diesem Hintergrund entwickelte sich in Niedersachsen im Vergleich zu anderen Regionen Deutschlands nur ein sehr geringer Rundenspielverkehr in den jüdischen Fußball-Ligen. Die Spieltage bestanden zumeist aus Freundschaftsspielen gegen direkte Nachbarn oder aus Duellen untereinander (bspw. 1. Mannschaft gegen 2. Mannschaft). Die Regionalmeister, die an den Endrunden um die Deutsche Meisterschaft teilnahmen, wurden für die gesamte Saison an einem Wochenende im Turniermodus ausgespielt. Grundsätzlich stellte der Fußball den Schwerpunkt des jüdischen Sportlebens in der Region dar. Da jedoch insbesondere ländliche Vereine bald Schwierigkeiten bekamen, ausreichende Sportplätze und genügend Spieler zu finden, verlagerten sich immer mehr Sportgruppen auf ressourcenschonendere Sportarten wie das Tischtennis. Diese Disziplin, die in einfachen Kellern ohne aufwändige Geräte gespielt werden konnte, war ein besonderes Steckenpferd der Sportgruppe Schild Bentheim, die sich gleich mehrfach den Meistertitel der Region Münsterland sicherte. Neben den beiden genannten Sportarten betätigten sich einzelne Sportgruppen im Turnen, Handball, Tennis, Boxen, Kegeln sowie in der Leichtathletik, wobei gerade die letzt genannte Disziplin fast ausschließlich in städtischen Vereinen ausgeübt werden konnte. 9 Bis Ende 1934 lassen sich in den Quellen noch Belege für - allerdings wenige - Aufeinandertreffen zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Mannschaften finden. 10 Vgl. WAHLIG 2008, dort mit dem Beispiel der jüdischen Sportgruppe Bochum und ihrem Förderer Julius Goldschmidt. 87

88 Schild Bentheim beim Tischtennistraining, ca. 1935. (Quelle: privat). 3. 4. Mitgliederzahlen und -struktur Insgesamt können nur wenige Angaben über die Mitgliederzahl und -entwicklung der jüdischen Sportvereine gemacht werden. Von keinem der untersuchten Vereine haben sich (bis dato) Listen mit einer Übersicht der Zuund Abgänge gefunden, die detaillierte Auswertungen ermöglichen würden. Nichtsdestotrotz können auch aus den zahlreichen Zeitungsfundstellen erhellende Rückschlüsse auf die Mitgliederbasis der Vereine gezogen werden. So listet eine im Rahmen des Projektes angelegte Datenbank Jüdischer Sportler in Niedersachsen mittlerweile 400 Namen von Athletinnen und Athleten auf, deren sportliche Leistung sich in mindestens einer der verfügbaren Quellen erhalten hat. Dieser zweifelsohne nicht unbedingten repräsentativen Zusammenstellung zufolge befanden sich die nominell größten Sportgruppen des Landes in Aurich, Oldenburg, Bremen sowie vor allem in Hannover. Die heutige Landeshauptstadt verfügte über die mit Abstand mitgliederstärksten Vereine der Region. Sowohl der zionistische Bar Kochba wie die assimilatorischen Vereinigten Turnerschaften bestanden bereits in der Weimarer Zeit. Während die Vereine jedoch vor 1933 nur eine Minderheit der sporttreibenden Juden erreichten, sprang ihre Mitgliederzahl nach dem Ausschluss jüdischer Athleten aus der bürgerlichen Sportbewegung rasant in die Höhe: 1935 listen zwei separate Quellen 591 Mitglieder für die VTH und 550 Mitglieder für den Bar Kochba auf zusammen betätigten sich also knapp 1.100 Hannoveraner Juden zu diesem Zeitpunkt in einem Sportverein. 88

Aspekte einer Geschichte des jüdischen Sports in Niedersachsen bis 1938 89 Bei einer Gesamtzahl von noch rund 4.000 verbliebenen Juden 11 in der Stadt ergibt dies eine erstaunliche Rekrutierungsquote von fast 30% sporttreibenden Juden, die umso höher steigt, wenn man statistische Ungenauigkeiten durch Säuglinge und Greise herausrechnet. Reguläre, bürgerliche Sportvereine kamen in Preußen Anfang der 30er Jahre lediglich auf eine Quote von knapp 10% der Bevölkerung (vgl. REICHSADRESSBUCH 1929). Das teilweise bis heute gängige Klischee des unsportlichen Juden kehrt sich vor dem Hintergrund dieser Zahlen in sein Gegenteil um. So schien der Sport gerade innerhalb der jungen jüdischen Bevölkerung immense Anziehungskraft ausgeübt zu haben. Bernard Süskind, das letzte noch lebende Vereinsmitglied von Schild Fürstenau, gibt in dieser Hinsicht an, dass sein Klub nach 1933 nahezu alle jüdischen Jugendlichen der Region umfasste. 12 Insgesamt untermauern diese ersten Funde deutlich die These, dass sich gerade der Sport nach 1933 eine herausragende Rolle im Leben der jüdischen Gemeinden erobern konnte. Weitere Untersuchungen werden nun zu zeigen haben, wie sich die Mitgliedschaft in Sportvereinen in Relation zu anderen jüdischen Organisationen am Ort, beispielsweise den Kulturbünden, verhielt. 3.5. Bedeutung des Sports im Alltags- und Sozialleben der jüdischen Bevölkerung Die Frage, welche Funktionen der Sport im Sozial- und Alltagsleben der jüdischen Gemeinden nach 1933 erfüllte, bzw. was den Sport in dieser Phase so attraktiv machte, ist noch wesentlich schwieriger zu beantworten, da sie nicht durch bloße Auswertung statistischen Materials erschließen lässt. So geben die verfügbaren Projektquellen, in der Regel meist kurze Spielberichte in den Sportteilen jüdischer Zeitungen, wenig bis keine Auskünfte über die eigentlichen Hintergründe des Lebens in den jüdischen Vereinen. Nichtsdestotrotz wird aus der Fülle der Meldungen vor allem das große Engagement deutlich, das die jüdischen Gemeinden nun dem Sporttreiben beimaßen: Waren jüdische Sportvereine vor 1933 noch selbst innerhalb der Gemeinden ein höchst umstrittenes Thema, wurde der Aufbau eigener jüdischer Sportplätze und -vereine nach 1933 als wichtige Gemeinschaftsaufgabe aller Juden angesehen. Am plastischsten zeigt sich diese Entwicklung am Beispiel Hannovers: Während die beiden jüdischen Sportvereine der Stadt in der Weimarer Zeit noch unter permanenten Rechtfertigungszwängen standen, beteiligte sich nach dem Verlust städtischer Übungsstätten 1933 die gesamte Gemeinde daran, den Vereinen eigene Sportanlagen zu bauen. So feierte die ganze Gemeinde im 11 Für 1935 selbst sind keine Zahlen verfügbar. Allerdings lebten bei der Volkszählung 1933 noch 4.839 Juden in der Stadt, 1939 waren nur noch 2.214 gemeldet. 12 Gespräch mit Bernard Süskind, 11. Oktober 2009. 89

90 September 1934 in einem großen Festakt die Neueröffnung der Alten Synagoge (!) der Stadt als umgebaute Turnhalle. Der Rabbiner persönlich weihte die Sportstätte und sprach von der großartigen Verbindung zwischen Körper und Geist, zwischen Synagoge und Turnhalle. Deutsche Geräteturnmeisterschaften des Sportbundes Schild in der Alten Synagoge Hannover, April 1938. Diese Worte zeugen bereits von der enormen Bedeutung, die Sport als physischer wie psychischer Ausgleich gerade in Zeiten äußerer Verfolgung gewinnen konnte. Ein solcher Eindruck wird auch durch die Erinnerungen noch lebender Zeitzeugen untermauert. So berichtet die frühere Hannoveranerin Henni Simon, die als Jugendliche regelmäßig in der Turnhalle turnte, von der großen Kraft, die ihr gerade der Sport in einer Phase permanenter Zurücksetzungen geben konnte: Auf meine Erfolge im Sport war ich als junges Mädchen besonders stolz. Einmal wurde ich von Hannover aus zu einem großen Schulsportfest nach Berlin geschickt, wo ich unter Hunderten von Turnerinnen eine Urkunde gewann. Das gab mir eine gewisse Selbstbestätigung, die ich ansonsten kaum noch finden konnte. 13 Auffällig ist bei den bisherigen Auswertungen der Interviews, dass nahezu alle Zeitzeugen den Sport ausschließlich positiv in Erinnerung haben, also keine direkte Linie zur Diskriminierung und Verfolgung der Zeit ziehen. So 13 Gespräch mit Henni Simon, 1. März 2009. 90

Aspekte einer Geschichte des jüdischen Sports in Niedersachsen bis 1938 91 bildet die Auffassung, dass der Sport für Juden eine Rückzugsinsel der Normalität und relativen Freiheit darstellte, ein wichtiges Kernmotiv mehrerer Interviews. Welchen Stellenwert der Sport selbst in Zeiten brutaler Verfolgung besitzen konnte, verdeutlicht noch einmal Henni Simon: Sie erzählte im Interview, dass junge Hannoveraner Juden selbst nach dem 9. November 1938, dem offiziellen Ende aller jüdischen Sportaktivitäten in Deutschland, heimlich in der Alten Synagoge weiter turnten, auch wenn diese nach der Zerstörung der Hauptsynagoge eigentlich wieder als Gotteshaus genutzt werden musste. Während der Trainingsstunden habe man dafür die rituellen Kultgegenstände einfach beiseite geschoben. 14 4. Einordnung und Ausblick Grundsätzlich zeugen bereits die vorliegenden Ergebnisse von der großen Bedeutung und vom Potenzial des Themas Sport und Juden im Dritten Reich sowohl für die Sportgeschichte wie auch für die jüdische Alltags- und Sozialgeschichte. So verdeutlichen zahlreiche Quellen und Interviews, welch hohen Stellenwert eine scheinbare Freizeitbeschäftigung wie der Sport in der NS-Zeit für Juden gewinnen konnte. Sie gab physische wie psychische Kraft, bot eine gewisse Ablenkung vom Alltag und steigerte das Selbstwertgefühl, das in diesen Zeiten sonst wenig Unterstützung fand. Trotz oder gerade wegen der bereits jetzt absehbaren Ergebnisse dieses Projektes können die laufenden Studien lediglich einen Anfangs- und keinen Endpunkt in der wissenschaftlichen Aufarbeitung des jüdischen Sports in der NS-Zeit darstellen. So zeigt bereits ein grober Blick in die jüdische Presse, dass die eigentlichen Zentren des jüdischen Sportlebens nicht in Niedersachsen, sondern in Südwestdeutschland, im Raum Berlin sowie im Ruhrgebiet lagen. In diesen Gebieten waren die Ausmaße der Vereine wesentlich größer und der Stellenwert des Sports folglich wohl noch umso höher zu veranschlagen. Für eine umfassende Auseinandersetzung mit diesem bislang noch weitgehend blinden Fleck der jüdischen Alltagsgeschichte erscheint es deshalb äußerst lohnenswert, über Niedersachsen hinaus weitere Städte und Regionen Deutschlands in den Blick zu nehmen. 14 Gespräch mit Henni Simon, 1. März 2009. 91

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