Weiterentwicklung des deutschen Gesundheitssystems



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Transkript:

Weiterentwicklung des deutschen Gesundheitssystems Gutachten im Auftrag des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller e.v. VFA Autoren: Prof. Dr. Peter Zweifel und Dr. Michael Breuer Sozialökonomisches Institut Universität Zürich Hottingerstr. 10 8032 Zürich Zürich, im März 2002

Inhalt: 1. Einleitung... 2 2. Grundlegende Steuerungsprobleme im Gesundheitswesen... 4 3. Die Stärken und Schwächen des deutschen Gesundheitswesens... 9 3.1. Die Spezifika des deutschen Gesundheitssystems... 9 3.2. Die Vergangenheit: Weitgehende und hochstehende Versorgung... 12 3.3. Die Schwächen des deutschen Gesundheitssystems... 12 3.3.1. Unzweckmässige Wahl einzelner Steuerungsmechanismen... 13 3.3.2. Gleichzeitigkeit rivalisierender Steuerungsmechanismen... 16 4. In der Diskussion befindliche Reformvorschläge... 17 4.1. Vorschläge zur Ausweitung der Finanzierungsgrundlage... 17 4.2. Ausweitung des Risikostrukturausgleichs... 20 4.3. Beschränkungen des Leistungskatalogs... 24 4.4. Erhöhung der Kostentransparenz... 25 4.5. Änderung des Finanzierungsverfahrens... 28 4.6. Ansätze zu Managed Care... 29 5. Grundelemente einer konsequenten Umgestaltung... 30 5.1. Risikogerechte Prämien und flankierende Prämienzuschüsse als Notwendigkeit... 33 5.2. Optimale Gestaltung der Verträge mit den Leistungsanbietern... 36 5.2.1. Vielfalt an Honorierungsformen für ambulante ärztliche Leistungen... 36 5.2.2. Vielfalt der Honorierungsformen stationärer Leistungen... 38 5.2.3. Honorierung der Arzneimittel... 40 5.3. Notwendige Rahmenbedingungen des Wettbewerbs und verbleibende Regulierungen... 42 6. Sozialpolitische Flankierung der Umgestaltung... 43 6.1. Beschränkung der Subjektförderung auf die Bedürftigen... 44 6.2. Versicherung gegen Verschlechterung des Erkrankungsrisikos durch den Steuer- Transfer-Mechanismus... 47 6.3. Garantie einer angemessenen Krankenversicherungsmöglichkeit... 50 7. Umsetzungsschritte... 52 7.1. Zur Sequenz der Reformschritte... 54 7.2. Vorbereitende Reform des Verhältnisses zwischen Krankenversicherern und Versicherten... 56 7.3. Intensivierung des Wettbewerbs unter den Krankenversicherern... 59 7.4. Die Einführung risikogerechter Prämien... 61 8. Belastungsverschiebungen zwischen den öffentlichen Haushalten und den Haushalten der Krankenversicherung... 63 8.1. Datengrundlage und methodisches Vorgehen... 64 8.2. Ergebnisse... 68 9. Schlussbemerkung... 71 10. Literatur... 74 1

1. Einleitung In allen westlichen Industrieländern ist das Gesundheitswesen stärker reguliert als die meisten anderen Märkte. Auf die unsichtbare Hand des Marktes allein verlässt man sich offensichtlich in keinem Land (Hurley 2000; Graf von der Schulenburg; Greiner 2000, Kap. 6). Zugleich können die Regulierungen selbst zu Strukturproblemen führen, die sich allerdings oft erst mit erheblicher Verzögerung bemerkbar machen. Die Strukturprobleme im deutschen Gesundheitswesen schlagen sich nicht zuletzt darin nieder, dass Deutschland unter den OECD-Ländern zwar hinter den USA einen Spitzenplatz bezüglich der Gesundheitsquote am Bruttoinlandsprodukt einnimmt, bei den objektiven und subjektiven Outcome-Indikatoren aber stets nur im Mittelfeld zu finden ist. So ist z.b. sowohl die Lebenserwartung bei Geburt wie auch die Restlebenserwartung für Männer und Frauen im Alter von 40, 65 und 80 Jahren in zahlreichen OECD-Ländern mit weniger Ressourcenverzehr im Gesundheitswesen höher als in Deutschland (OECD 1999a, Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen 2001). Bezeichnenderweise nimmt Deutschland auch bei dem subjektiven Indikator Zufriedenheit mit dem Gesundheitssystem nur einen mittleren Platz innerhalb der OECD ein. Dies spricht dafür, dass die Öffentlichkeit durchaus Defizite im deutschen Gesundheitssystem erkennt (Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen 2001, 70ff.). Im vorliegenden Gutachten wird die Auffassung vertreten, dass diese Defizite wesentlich darauf zurückzuführen sind, dass die Versicherten nicht die Möglichkeit haben, aus verschiedenen Versorgungsalternativen diejenige auszuwählen, welche das für sie günstigste Leistungs-Kosten-Verhältnis verspricht. Wahlfreiheit bedingt jedoch Wettbewerb, und deshalb soll das Konzept eines wettbewerblich orientierten Gesundheitssystems vorgestellt und begründet werden. Ausgehend von den grundlegenden ökonomischen Steuerungsproblemen des Gesundheitswesens (Kapitel 2) werden in Kapitel 3 die besonderen Schwächen des deutschen Gesundheitswesens genannt und analysiert. Auch wenn sich Ökonomen (um selbst einmal die medizinische Terminologie zu gebrauchen) in der Diagnose weitgehend einig sind, unterscheiden sich die vorgeschlagenen Therapieansätze doch 2

erheblich, wie in Kapitel 4 deutlich wird. Hier werden einige Reformoptionen herausgegriffen, die in der jüngsten Vergangenheit von verschiedenen Seiten und in unterschiedlichen Kombinationen in die politische Diskussion eingebracht wurden. Diese Vorschläge werden kritisch auf ihre Tragfähigkeit als Fundament für eine Verbesserung des Leistungs-Kosten-Verhältnisses im Gesundheitswesen hin hinterfragt. Hierbei stellt sich heraus, dass mit einigen der in der Diskussion befindlichen Massnahmen zwar kleinere Verbesserungen erzielt werden können, das gesamte Gesundheitssystem sich aber hierdurch nicht in eine zukunftweisende Richtung bewegt. Auf diesen Vorarbeiten aufbauend wird dann in Kapitel 5 das hier vertretene Konzept eines weitgehend deregulierten Wettbewerbs im Gesundheitswesen vorgestellt, der Versicherungsnehmer, Versicherer und Leistungsanbieter gleichermassen umfasst. Als unabdingbar für eine umfassende Wettbewerbsordnung im Gesundheitswesen stellen sich risikogerechte Versicherungsprämien heraus. Es wird umfassend begründet, warum bei allen Formen nicht risikogerechter Prämien innovative Ansätze seitens der Krankenkassen, die ihren Versicherten eine besser auf sie zugeschnittene Versorgung ermöglichen würden, immer wieder zu Risikoselektionen führen, die solche Ansätze wieder zunichte machen. Die Konsistenz des Konzepts verlangt, den Wettbewerb nicht nur auf die Möglichkeit der Versicherten zu beschränken, ihre Krankenkasse auswählen zu dürfen. Seine volle Wirkung zugunsten der Versicherten entfaltet diese Wahlfreiheit vielmehr erst dann, wenn auch die Leistungsanbieter viel stärker als bisher dem Wettbewerb ausgesetzt werden. Damit die Leistungsanbieter auch unter Wettbewerbsdruck im Interesse der Patienten handeln, müssen sie die jeweils adäquaten finanziellen Anreize erhalten. Deshalb ist eine Vielzahl von Honorierungsformen nötig, die zwischen den Leistungsanbietern und den Krankenkassen frei ausgehandelt werden können. Es ist offenkundig, dass risikogerechte Prämien für Bezieher kleiner Einkommen Beträge annehmen können, die sie im Extremfall von jeglicher Krankenversicherung ausschliessen würden. Wie in Kapitel 6 ausgeführt, sind daher risikogerechte Prämien in der Krankenversicherung durch ein System von Prämiensubventionen zu flankieren, die jedoch ausschliesslich denjenigen zukommen sollen, deren Prämienverpflichtung einen festzulegenden Anteil ihres Einkommens überschrei- 3

tet. Zum Abschluss dieses Kapitels werden weitere Massnahmen diskutiert, die sicherstellen sollen, dass jeder einen angemessenen Krankenversicherungsschutz geniesst. Insgesamt wird auf diese Weise dem Sozialstaatsprinzip Rechnung getragen und zugleich wegen der gezielteren Umverteilung zugunsten der Bedürftigen das Umverteilungsvolumen im Vergleich zu heute reduziert. Eine Abwägung der Vor- und Nachteile eines Gesamtpakets im Vergleich zu einem schrittweisen Vorgehen führt zum Schluss, dass eine derart weitreichende Reform des Gesundheitssystems nicht in einem einzigen Schritt erfolgen sollte. Andererseits können die notwendigen Reformschritte auch nicht in beliebiger Reihenfolge in Angriff genommen werden. In Kapitel 7 wird deshalb ein auf zwei Legislaturperioden ausgerichtetes Übergangsszenario formuliert. Die zu Beginn des Umgestaltungsprozesses durchzuführenden Reformschritte decken sich durchaus mit denjenigen, wie sie von anderer Seite vorgeschlagen werden. Dies könnte zumindest den Einstieg in das hier vertretene Reformmodell erleichtern. Zwangsläufig kommt es durch die Erhebung risikogerechter Prämien zu Belastungsverschiebungen zwischen den Krankenkassen einerseits und den staatlichen Haushalten andererseits, die neu für die gezielte Prämiensubventionierung aufzukommen haben. Deren Höhe kann aufgrund der uns verfügbaren Daten nur ungefähr ermittelt werden (Kapitel 8). Die Schätzung lässt jedoch erahnen, in welchem Umfang die Gesetzliche Krankenversicherung heute einer Umverteilung dient, die weitgehend ungezielt erfolgt. Trotz dieses Volumens ist es möglich, den Reformvorschlag für den Staat (einschliesslich der Parafisci) grundsätzlich belastungsneutral auszugestalten. 2. Grundlegende Steuerungsprobleme im Gesundheitswesen Das Gesundheitswesen stellt ein komplexes System dar, in dem nicht nur die Nachfrager (potenzielle sowie derzeitige Patienten) und die Anbieter von Gesundheitsleistungen miteinander interagieren. Weil die meisten Nachfrager nach Gesundheitsleistungen diese überwiegend nicht selbst bezahlen, treten auch die Krankenversicherer als eigenständiger dritter Pol im Gesundheitswesen in Erscheinung. Hinzu kommt, dass das Gesundheitswesen (nicht nur in Deutschland) 4

in starkem Masse von der Politik reguliert wird. Die Regulierungen im Gesundheitswesen betreffen praktisch alle Interaktionen der drei Pole, wie die Abbildung 1 veranschaulicht. So können die Versicherten in manchen Ländern ihre Krankenversicherer nicht frei wählen, sondern sind Zwangsmitglieder einer berufsständischen (Österreich) oder landesweiten (Kanada, Schweden) Organisation. (Die spezifisch deutschen Regulierungen werden in Kapitel 3 aufgegriffen.) Umgekehrt dürfen diese Träger der Gesetzlichen Krankenversicherung keine Auswahl der Risiken vornehmen. Die Beiträge an die Krankenversicherung müssen in Bezug auf ihre Höhe (Schweiz), den Beitragssatz und die Bezugsbasis ebenfalls politischen Vorgaben genügen. Die Krankenversicherer sind auch bei der Auswahl der Leistungsanbieter nicht frei, sondern müssen namentlich die Mitglieder von örtlichen Vereinigungen und Krankenhausgesellschaften berücksichtigen. Insofern unterliegen die Vertragsmodalitäten im Gesundheitswesen erheblichen politisch gesetzten Einschränkungen. Dies gilt auch für die Vergütungsmodalitäten, denn die Ärzte und Krankenhäuser müssen in der Regel nach Massgabe eines einheitlichen Vertragsabschlusses honoriert werden. Die Leistungsanbieter sind ihrerseits bei der Therapiewahl auf zugelassene Verfahren und Arzneimittel eingeschränkt, wobei die Zulassungsbedingungen politisch gesetzt werden. Schliesslich dürfen sich die Versicherten als Patienten in allen Industrieländern nicht von irgendwelchen Leistungsanbietern, sondern nur von durch politisches Dekret zugelassenen behandeln lassen. Insgesamt zeigt die Abbildung 1 ein ausserordentlich dichtes Geflecht von Regulierungen im Gesundheitswesen auf. Wirtschaftswissenschaftlich kann man dem Phänomen der Regulierung des Gesundheitswesens auf zwei Arten begegnen. Zum einen kann in einer positiven Analyse untersucht werden, wie die Regulierungen zustande kamen, d.h. welche Parteien, Verbände, Politiker usw. in welcher Art ihren Einfluss geltend machen konnten, um eine für sie attraktive Regulierung zu erreichen. Dieser Ansatz wird häufig gewählt und kann Einsichten in den politischen Prozess generieren, die auch bei der Frage nach der Umsetzbarkeit von Reformen wieder Bedeutung erlangen. Zum anderen können aber auch im Rahmen einer normativen Analyse Gründe gesucht werden, die dafür sprechen, dass auch ansonsten marktwirtschaftlich ausgerichtete Länder ihr Heil in einer mehr oder weniger starken Regulierung 5

des Gesundheitssektors suchen. Den natürlichen Ausgangspunkt der Überlegungen bilden deshalb letztlich Marktversagensgründe im Gesundheitswesen (siehe z.b. Breyer; Zweifel 1999, Kap. 5; Graf von der Schulenburg; Greiner 2000, Kap. 4; Getzen 1993, Ch. 16-17; Feldstein 1993, Ch. 18). Im vorliegenden Gutachten, das sich zum Ziel setzt, einen in sich geschlossenen Gestaltungsvorschlag für das Gesundheitswesen in Deutschland zu entwerfen, wird hauptsächlich der normative Ansatz verfolgt. Abbildung 1: Überblick über die Akteure und die staatlichen Eingriffsmöglichkeiten im Gesundheitswesen Politik Zulassungsbedingungen Versicherte, (potenzielle) Patienten Höhe, Bezugsbasis, Beitragssatz Auswahl Beiträge Auswahl Politik Leistungsanbieter Therapien Arzneimittel Leistungsvergütung Krankenversicherer Vertragsmodalitäten Politik Auswahl Vergütungsmodalitäten Vertragsmodalitäten Politik 6

Die Gründe für ein Marktversagen lassen sich in zwei Kategorien, allokative und distributive, unterscheiden. Allokatives Marktversagen liegt dann vor, wenn es über den Marktmechanismus nicht gelingt, eine pareto-optimale Allokation zu erreichen, d.h. eine Zuteilung der verfügbaren Ressourcen, bei der es nicht mehr möglich ist, eine Person besser zu stellen, ohne eine andere Person schlechter zu stellen. Dabei gilt, dass die Individuen nicht etwa immer die billigste Alternative wählen, sondern stets diejenige suchen, die das für sie günstigste Nutzen-Kosten- Verhältnis bietet. Die Individuen könnten folglich auch bereit sein, für Gesundheitsgüter einen hohen Preis zu zahlen, wenn dem ein entsprechend grosser Nutzen aufgrund einer verbesserter Gesundheit oder eines verlängerten Lebens gegenübersteht. Hohe Ausgaben für das Gesundheitswesen lassen deshalb für sich genommen noch nicht auf Marktversagen schliessen. Als potenzielle allokative Marktversagensgründe im Gesundheitswesen gelten dagegen insbesondere Externalitäten, Informationsasymmetrien und das Vorliegen von Unsicherheit. Diese Liste ist bei einzelnen Autoren auch länger (siehe z.b. Hurley 2000). Keinesfalls aber werden alle in der Literatur genannten Marktversagensgründe von allen Ökonomen anerkannt. Die Bandbreite möglicher Externalitäten im Gesundheitswesen ist gross. Das beginnt damit, dass eine Schutzimpfung, die ein Einzelner vornimmt, die Ausbreitung einer infektiösen Krankheit behindert, wovon auch die Personen profitieren, die sich nicht impfen lassen. Psychische Externalitäten liegen dann vor, wenn die Bürger ethische Vorstellungen haben, wie Gesundheitsgüter in einer Gesellschaft verteilt sein sollten. So kann der Konsum von Gesundheitsgütern oder auch der Gesundheitszustand eines Individuums die Wohlfahrt anderer Individuen steigern. Informationsasymmetrien sind im Gesundheitswesen allgegenwärtig. Sie charakterisieren zunächst das Verhältnis zwischen den Krankenversicherungen und ihren Versicherten, was zu den aus der Versicherungsökonomie bekannten Problemen der adversen Selektion und des moralischen Risikos führt. Im Falle der adversen Selektion läuft ein Versicherer Gefahr, nur ungünstige Risiken zu versichern, weil er mangels Information günstigen und ungünstigen Risiken dieselben Vertragsbedingungen anbieten muss. Mit dem moralischen Risiko ist die Tendenz der Versicherten gemeint, nach Vertragsabschluss ihre Anstrengungen zur Risiko- und 7

Schadeneindämmung zu reduzieren. Die Folgen von Informationsasymmetrien auf dem Versicherungsmarkt können weitreichend sein und sogar zu einem vollständigen Versagen von Versicherung(teil)märkten führen. Auch die Beziehung zwischen Krankenversicherern und Leistungsanbietern ist von Informationsasymmetrie, meist zu Ungunsten des Versicherers geprägt. Denn aus der Rechnungsstellung geht selten mit genügender Klarheit hervor, ob die Versicherten genau die Leistungen erhielten, die sie für ihre Gesundung benötigten. Eine Informationsasymmetrie existiert schliesslich auch im Verhältnis Arzt Patient. Der Arzt soll ja gerade die Diagnose liefern und (wenn nötig) Schritte zur Heilung der Gesundheitsstörung aufzeigen, wozu der Patient alleine nicht in der Lage ist. Die Gefahr besteht, dass hier (bei entsprechenden Vergütungsformen, namentlich bei der Einzelleistungsvergütung) ein Einfalltor für angebotsinduzierte Nachfrage liegt. Fraglich ist, ob das blosse Vorliegen von Unsicherheit einen Marktversagensgrund darstellt. Weil die Nachfrage des Einzelnen nach Gesundheitsgütern im allgemeinen starken Unsicherheiten unterliegt, sind Versicherungen im Gesundheitsbereich zwar praktisch unentbehrlich, und grössere medizinische Eingriffe wären von den Einzelnen ohne sie gar nicht mehr finanzierbar, doch begründet dies kein Marktversagen, sondern lediglich die wohlfahrtssteigernde Wirkung einer Versicherung. Die Versicherung trägt gegen die Zahlung einer Versicherungsprämie oder eines Versicherungsbeitrags dazu bei, den Vermögensverlust des Betroffenen im Fall einer Krankheit zu verringern, was bei risikoaversen Personen zu einem Wohlfahrtsgewinn führt. Durch eine Versicherung kann schliesslich auch das Problem gelöst werden, dass manche Gesundheitsgüter, die man selbst in absehbarer Zeit nicht in Anspruch nimmt, zunächst nur einen Optionswert haben. Durch die Zahlung einer Versicherungsprämie lässt sich leicht sicherstellen, dass die Leistungen dann zur Verfügung stehen, wenn sie doch einmal gebraucht werden sollten. Von distributivem Marktversagen kann dann gesprochen werden, wenn gezielt einzelne Personen oder Personengruppen im Vergleich zu den Verteilungsergebnissen, wie sie der Markt hervorbringt, bessergestellt werden sollen, auch wenn dies nur auf Kosten anderer Personen oder Personengruppen zu erreichen ist. Zu- 8

meist wird hierbei irgendeine Form von Gleichheitsvorstellungen zum normativen Ausgangspunkt genommen. Für das Gesundheitswesen sind insbesondere die Forderung nach gleichem Zugang zu den Gesundheitsgütern, die Zuteilung der Gesundheitsgüter nach den Bedürfnissen der Einzelnen und das Gebot, allen Bürgern nach Möglichkeit den gleichen Gesundheitszustand zu ermöglichen, relevant. Zum Prinzip erhoben sind die genannten Gleichheitsvorstellungen jedoch miteinander nicht kompatibel, und jede Gleichheitsvorstellung würde zu einer anderen Verteilung von Gesundheitsgütern führen (Hurley 2000). Z.B. kann man nicht allen Bürgern den gleichen Zugang zu den Gesundheitsgütern garantieren und gleichzeitig die Gesundheitsgüter nach dem Grad der Bedürftigkeit des einzelnen vergeben. Es verwundert daher nicht, dass sich keine der für das Gesundheitswesen diskutieren Gerechtigkeitsvorstellungen als allgemein anerkannt durchsetzen konnte. Die Frage nach der Relevanz der allokativen und distributiven Marktversagensgründe wird je nach Land unterschiedlich beantwortet. Das gilt insbesondere für die Gewichtung der distributiven Vorstellungen. Diese Unterschiede erklären zusammen mit den Unterschieden im politischen Prozess - die regulatorischen Eingriffe in den Ländern. Da jede Form der Regulierung aber nicht nur die gewollten Haupteffekte hervorruft, sondern auch unerwünschte Nebenwirkungen mit sich bringt, führt jede konkrete Ausgestaltung des Gesundheitssystems neben möglichen Stärken auch zu spezifischen Schwächen und Problemen. 3. Die Stärken und Schwächen des deutschen Gesundheitswesens Im Folgenden soll gezielt auf das deutsche Gesundheitssystem eingegangen werden. Hierzu werden zunächst die Spezifika dieses Gesundheitssystems herausgestellt und einer kritischen Wertung unterzogen. 3.1. Die Spezifika des deutschen Gesundheitssystems Im deutschen Gesundheitssystem unterliegen alle Vertragsbeziehungen zwischen den Versicherten, den Versicherern und den Leitungsanbietern regulatorischen 9

Vorschriften. Diese prägen das Gesundheitswesen weitgehend, wie anhand der Abbildung 1 nachgezeichnet werden kann. Das Verhältnis der Versicherten zu den Versicherern: Solange das Einkommen aus unselbständiger Tätigkeit die Versicherungspflichtgrenze nicht überschreitet, sind alle Arbeitnehmer in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) pflichtversichert. Die Beiträge der Versicherten zur GKV haben keinerlei Bezug zum individuellen Risiko des Versicherten und seiner mitversicherten Angehörigen. Die GKV-Versicherten können zwar ihre Krankenkasse wählen, doch sind die Leistungen der einzelnen Kassen weitestgehend identisch. Da alle GKV-Versicherten somit den gleichen Versicherungsschutz geniessen, stellen die Beiträge zur GKV bis zum Erreichen der Versicherungspflichtgrenze, die zugleich die Beitragsbemessungsgrenze markiert, eine lineare, wenn auch zweckgebundene Steuer auf Lohneinkommen dar (Breuer 1999b). Die GKV weist zwei institutionelle Vorkehrungen auf, die dafür sorgen könnten, dass sich die Präferenzen der Mitglieder durchsetzen. Einerseits ist die Selbstverwaltung zu nennen, deren Gestaltungsspielraum jedoch vom Gesetzgeber von vornherein stark eingeschränkt ist. Zudem wird sie infolge der paritätischen Finanzierung auch von den Arbeitgebern gesteuert. Damit sind die Versicherten auch im Kollektiv niemals in der Lage, die Gesamtheit der Delegierten abzuwählen, was ihren Einfluss von vorneherein schwächt. Die zweite Vorkehrung ist die Möglichkeit der Abwanderung in die Private Krankenversicherung (PKV); damit könnten die GKV-Versicherten ihrer Unzufriedenheit Ausdruck verleihen. Doch diese Option steht nur den Beziehern von Einkommen jenseits der Versicherungspflichtgrenze ( Friedensgrenze ) offen und hat deshalb ebenfalls beschränkte Bedeutung. Das Verhältnis der Versicherer zu den Leistungsanbietern: Im Gegensatz z.b. zum britischen National Health Service (NHS) sind die Leistungsanbieter in Deutschland nicht zentral organisiert. Dennoch sind die Krankenkassen bei der Auswahl der Leistungsanbieter nicht frei. Vielmehr unterliegen sie einem Kontrahierungszwang, d.h. sie müssen jeden Leis- 10

tungsanbieter, der die Voraussetzung zur Zulassung erfüllt, nach den geltenden Sätzen vergüten. Diese Sätze sind wiederum einheitlich, denn die Vertragspartner auf dem Markt für Gesundheitsleistungen sind jeweils nicht die einzelne Krankenkasse und der einzelne Leistungsanbieter, sondern die Krankenkassenverbände und (mit Ausnahmen) die Verbände der Leistungsanbieter. Auch die Vergütungsformen sind sektorspezifisch einheitlich: im ambulanten Bereich dominiert die Einzelleistungsvergütung, während im stationären Bereich die Basispflegesätze und die Abteilungspflegesätze weiterhin eine grosse Rolle spielen. Durch das Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG, 17 und 17b) sind zwar Einzelfallpauschalen möglich und kommen auch vermehrt zur Anwendung. Doch ihre Einheitlichkeit verhindert, dass sie zu einem Instrument des Wettbewerbs werden. Das Verhältnis der Versicherten zu den Leistungsanbietern: Die Versicherten haben in Deutschland sehr weitgehende Auswahlmöglichkeiten unter den Leistungsanbietern (freie Arztwahl). Doch die Zahl der Ärzte unterliegt durch den Numerus Clausus bereits einer politisch gesetzten Regulierung. Zudem müssen sämtliche Leistungsanbieter (Arzneimittel im Falle der Pharmaindustrie) Zulassungsbedingungen genügen, die vom Staat und gegebenenfalls von den Krankenversicherungsverbänden (nicht aber von den einzelnen Krankenversicherern als Vertragspartner) durchgesetzt werden. Zugleich schützt der von der GKV gebotene weitgehende Versicherungsschutz den einzelnen Versicherten (mit Ausnahmen beim Zahnersatz) fast vollständig vor den Folgen seiner Wahlentscheidung. Damit werden zu bezahlende und zu deckende Kosten für den Versicherten irrelevant. Diese Irrelevanz gilt unabhängig davon, ob das in Deutschland gültige Sachleistungs- oder das Kostenerstattungsprinzip angewendet wird. Im Falle der Kostenerstattung erhalten die Versicherten die Information über die erfolgten Aufwendungen, doch finanzielle Konsequenzen haben sie auch hier nicht zu tragen. Von dieser Information allein ist daher kaum eine verhaltenssteuernde Wirkung zu erwarten. 11

3.2. Die Vergangenheit: Weitgehende und hochstehende Versorgung In der Ausgestaltung des deutschen Gesundheitssystems spiegeln sich natürlich auch politische Wertvorstellungen (insbesondere Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen) wider. In der Tat ist es in Deutschland in der Vergangenheit gelungen, für alle gesetzlich Versicherten eine medizinisch recht hochstehende Versorgung sicherzustellen, die weitgehend unabhängig von den finanziellen Möglichkeiten des einzelnen Versicherten war. Letztlich wurde das Gesundheitssystem trotz der im Sozialgesetzbuch V (SGB V) verankerten Beitragssatzstabilität stets so umfassend finanziell alimentiert, dass Engpässe bei der Versorgung in der öffentlichen Diskussion allenfalls ein temporäres Phänomen blieben. 3.3. Die Schwächen des deutschen Gesundheitssystems Durch die grosszügige finanzielle Ausstattung des Gesundheitssystems konnten in der Vergangenheit allerdings auch seine Steuerungsprobleme immer wieder zugedeckt werden, die sich durch die spezielle Ausgestaltung des Gesundheitssystems in Deutschland ergeben. Diese (zum Teil in der öffentlichen Diskussion benannten) Steuerungsprobleme führen dazu, dass die Versicherten zunehmend den Eindruck bekommen, nicht genug für ihr Geld zu erhalten. Dieser Unzufriedenheit der Versicherten ist nicht dadurch zu begegnen, dass man einfach weitere finanzielle Mittel in das bestehende System pumpt. Vielmehr ist sicher zu stellen, dass den Präferenzen der Versicherten mehr Raum gegeben wird. Als Norm wird deshalb im folgenden unterstellt, dass das Gesundheitssystem letztlich den Präferenzen der Versicherten gerecht werden soll. Wie Märkte für andere Güter auch, ist das Gesundheitssystem kein Selbstzweck und soll auch nicht in erster Linie den Interessen der Leistungsanbieter dienen. Vor diesem Hintergrund sind die Steuerungsprobleme des deutschen Gesundheitswesens im Folgenden zu diskutieren. 12

3.3.1. Unzweckmässige Wahl einzelner Steuerungsmechanismen Der Durchgriff der Konsumentenpräferenzen auf das Leistungsangebot ist durch die derzeitigen Steuerungsmechanismen nicht gewährleistet. Realität ist vielmehr, dass die Versicherten kaum Einfluss auf ihren Versicherungsschutz haben und die Krankenkassen nur wenig an der Ausgestaltung der angebotenen Leistungen mitwirken können. Keine Bindung an die Präferenzen der Nachfrager Die GKV ist für Personen, deren sozialversicherungspflichtiges Einkommen unterhalb der Versicherungspflichtgrenze liegt, eine Pflichtversicherung, die ihre Versicherten fast vollumfänglich auf einem hohen medizinischen Standard abgesichert hat. Dieser Standard ist einheitlich konzipiert, was der vorherrschenden Sozialphilosophie entspricht, die gleichen Zugang zu gleichen medizinischen Leistungen verlangt. Dabei wird oft übersehen, dass eine gegebene medizinische Leistung je nach Individuum zu einem unterschiedlichen Gesundheitszustand führen kann. Umgekehrt lässt der einheitliche Standard den unterschiedlichen Präferenzen der Nachfrager keinen Raum. Die Notwendigkeit, den Krankenversicherungsschutz nach Art und Umfang einheitlich festzugelegen, kann aus zwei Gründen bestehen: 1. Wegen der Existenz einer sozialen Grundsicherung in Form der Sozialhilfe könnten gerade Personen mit geringem Einkommen versucht sein, ihren Versicherungsschutz zu vernachlässigen und sich statt dessen im Schadensfall auf die Sozialhilfe zu verlassen (Buchholz; Wiegart 1992; Strassl 1988; Sinn 1980). Da diese steuerfinanziert und von allen Bürgern (auch denjenigen, die sich ihren Krankenversicherungsschutz kaufen) zu tragen ist, resultiert eine ineffiziente Allokation, welche durch die Einführung einer Pflichtversicherung in einem vorgeschriebenen Mindestumfang verbessert werden kann. Dieses Argument begründet die Einheitlichkeit, jedoch nicht den hohen Standard. 2. Die GKV wird dazu benutzt, ein hohes Mass an systematischer Umverteilung zu bewerkstelligen, während die Aufgabe einer Versiche- 13

rung lediglich die zufallsgesteuerte Umverteilung ist (von den Menschen, die keinen Schaden erleiden hin zu jenen, die zufällig von einem Schaden betroffen werden). Je höher der Versorgungsstandard in der GKV, desto grösser wird das Volumen auch der systematischen Umverteilung. Diese Zwangsumverteilung kann jedoch nur dann aufrecht erhalten werden, wenn die guten Risiken oder die Bezieher hoher Einkommen keine Möglichkeit haben, sich durch ein (teilweises) Opting-Out als Nettozahler dem System zu entziehen. Die derzeitigen Umverteilungselemente innerhalb der GKV bedingen deshalb nicht nur ein gleiches Absicherungsniveau aller GKV-Versicherten, sondern lassen auch nur wenig Spielraum für Variationen bei der inhaltlichen Ausgestaltung des Versicherungsschutzes zu, selbst wenn voneinander unabhängige Krankenkassen unterschiedliche Versicherungsverträge anbieten können. Programme einzelner Krankenkassen, die z.b. auf eine besonders gute Beratung und Versorgung chronisch Kranker abzielen, hätten vielmehr zur Konsequenz, dass sich die Risikostruktur der Versichertenpopulation dieser Krankenkasse verschlechtert, was sie (bei unvollkommenem Risikostrukturausgleich) durch höhere Beitragssätze kompensieren müsste. Umgekehrt würden Krankenkassen, bei denen die Versicherten z.b. gewissen Leistungsausschlüssen zustimmen könnten, vermehrt gute Risiken anziehen und niedrigere Beitragssätze verlangen können. Variationen im Versicherungsschutz zwischen verschiedenen Krankenkassen ziehen somit selbst dann Selektionsprozesse nach sich, wenn sie gar nicht als Selektionsmechanismen intendiert waren. Verhindert werden könnten solche Selektionsprozesse bei nicht risikogerechten Versicherungsprämien nur dann, wenn der Risikostrukturausgleich perfekt arbeiten würde. Die Einheitlichkeit der Versicherungsbedingungen innerhalb der GKV ist somit letztlich eine direkte Konsequenz ihrer internen systematischen Umverteilungselemente. Die Versicherten haben nicht die Möglichkeit, zur Durchsetzung ihrer Präferenzen bezüglich ihres Krankenversicherungsschutzes mit Exit zu drohen, sondern sind ausschliesslich auf den weniger effektiven politischen Voice - Mechanismus (Hirschman 1970) angewiesen. Eine Differenzierung des sozialen Krankenversicherungsschutzes nach der individuellen Lebenssituation der Versicherten erscheint im derzeitigen Umverteilungssystem unmöglich. 14

Abschliessend ist zu bemerken, dass systematische nicht notwendig gezielte Umverteilung bedeutet. Mit gezielt ist gemeint, dass in erster Linie Menschen in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen, die zudem ein ungünstiges Gesundheitsrisiko darstellen, Vorteile aus der GKV ziehen sollen. Demgegenüber ist unter den geltenden Bedingungen nicht ausgeschlossen, dass eine alleinstehende berufstätige Frau, die ein gutes Risiko darstellt, indirekt aber systematisch die Familie eines höheren Angestellten unterstützt, deren Mitglieder hohe Risiken darstellen und so eine grosse Menge medizinischer Leistungen in Anspruch nehmen. Falsche Anreize für die Leistungsanbieter Bei der Entlohnung der Leistungsanbieter dominieren die Einzelleistungsvergütung und (im Krankenhausbereich) die Basis- und Abteilungspflegesätze (Ulrich; Wille 1997). Alle diese Vergütungsformen setzen ineffiziente Leistungsanreize; dies gilt auch für die geplante DRG (Diagnosis Related Group)-basierte Honorierung der stationären Leistungen. Bei einer Einzelleistungsvergütung hat der Arzt zwar ein Interesse daran, seine Leistungen kostenminimierend zu produzieren, doch ist damit nicht sicher gestellt, dass er auch eine effiziente Kombination seiner einzelnen Leistungen anbietet. In den meisten Fällen hat der Arzt vielmehr einen Anreiz, Mengen und Kombinationen von Einzelleistungen zu erbringen, die in Bezug auf den zu erzielenden Behandlungserfolg nicht optimal sind (Breyer; Zweifel 1999, Kapitel 7.3). Analog hierzu führt eine Vergütung im Krankenhausbereich nach für alle Benutzer einheitlich zu berechnenden Pflegessätzen dazu, dass das Optimum der Pflegetage im Krankenhaus im Einzelfall verfehlt werden dürfte und leichtere Fälle zu lange im Krankenhaus verbleiben. Auch die durch das Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG, 17 und 17b) eingeführten Fallpauschalen (DRG- Honorierung) sind nicht in allen Fällen dazu geeignet, eine effiziente Behandlung im Sinne des Patienten sicher zu stellen. Es besteht dann ein Anreiz, zu wenig Einzelleistungen zu erbringen. Eine zu tiefe Behandlungsqualität kann im Prinzip dadurch verhindert werden, dass man entsprechende Standards festlegt, doch dürfte dies nicht in allen Fällen möglich sein. Kombiniert man bei der Regulierung eine niedrige Behandlungsqualität mit hohen Fallpauschalen, kann es auch zu ei- 15

ner nicht kostenminimierenden Produktion der Einzelleistungen im Krankenhaus kommen (Breyer; Zweifel, 1999, Kapitel 9.4). Das Problem der nicht optimalen Vergütungsformen wird derzeit noch dadurch verschärft, dass für die Krankenkassen der Kontrahierungszwang besteht. Sie haben damit kaum Möglichkeiten, neuartige Vergütungsmodelle oder Preissenkungen bei den Anbietern durchzusetzen. Die Regulierung wirkt sich für die Anbieter praktisch wie eine Einkommensgarantie aus. Marktwirtschaftliche Chancen zur Einkommenserzielung werden nicht mit den entsprechenden Risiken verknüpft. 3.3.2. Gleichzeitigkeit rivalisierender Steuerungsmechanismen Die Gleichzeitigkeit von preislichen und regulatorischen Steuerungsmechanismen im deutschen Gesundheitswesen hat zur Konsequenz, dass der Wettbewerb im Gesundheitswesen in starkem Masse eingeschränkt ist und Produktinnovationen als Ergebnis eines marktwirtschaftlichen Entdeckungsverfahrens nicht zu erwarten sind. Ein prominentes Beispiel für die Gleichzeitigkeit von preislichen und regulatorischen Steuerungsmechanismen stellt der Risikostrukturausgleich dar. Er ist als regulatives Zwangselement eingeführt worden, um einen fairen Wettbewerb zwischen den Krankenkassen zu ermöglichen, indem er Risikounterschiede in der Versichertenpopulation der einzelnen Kassen ausgleicht. Damit sollte gewährleistet werden, dass sich die Krankenkassen auf die effiziente Bereitstellung ihrer Dienstleistungen konzentrieren, statt zu viele Ressourcen in die Jagd nach guten Risiken zu investieren. Auf der anderen Seite hat der Risikostrukturausgleich aber auch Nachteile, die umso stärker werden, je besser er arbeitet und je vollständiger er zu jedem Zeitpunkt für einen umfassenden Ausgleich der Risikostruktur der einzelnen Krankenkassen sorgt. Diese Nachteile treten bei einer dynamischen Betrachtung zutage. Hier zeigt sich, dass die Krankenkassen jeden Anreiz zu Produktinnovationen verlieren. Ein Krankenversicherer, der mit solchen Innovationen aufwartet, zieht nämlich eher anpassungsbereite, d.h. tendenziell jüngere und gut ausgebildete Menschen an. Er kommt so in den Verdacht, gute Risiken zu selektionieren, ob- 16

schon an sich die Produktinnovation sämtlichen Versicherten zur Verfügung steht. Entsprechend wird er gerade in einem gut funktionierenden Risikostrukturausgleich in hohem Masse für die zusätzlichen guten Risiken im Bestand belastet. Damit geht aber das Interesse an der Produktinnovation verloren. In dynamischer Betrachtung läuft demnach der Risikostrukturausgleich Gefahr, die Effizienz des Gesundheitswesens zu vermindern, auch wenn er in einem Sozialversicherungssystem, das keine risikogerechten Prämien kennt, unverzichtbar ist. Die Situation ist paradox: Zum einen sind den Krankenkassen, wie oben geschildert, im Umgang mit den Leistungsanbietern ohnehin sehr stark die Hände gebunden. Zum anderen können alle Aktivitäten der Krankenkassen, die darauf abzielen, sich den Präferenzen einer bestimmten Zielgruppe unter den Versicherten anzupassen, unter einem unvollkommenen Risikostrukturausgleichsmechanismus als eine Massnahme der (politisch unerwünschten) Risikoselektion interpretiert werden. Je besser andererseits der Risikostrukturausgleich arbeitet, desto weniger Anreize für die Krankenkassen zur Produktinnovation verbleiben. 4. In der Diskussion befindliche Reformvorschläge 4.1. Vorschläge zur Ausweitung der Finanzierungsgrundlage Bereits seit einiger Zeit existieren zahlreiche Vorschläge, die Finanzierungsbasis der GKV auszuweiten. Vor kurzem wurde ein diesbezüglicher Vorschlag auch seitens der Leistungsanbieter, vom Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (Ärztezeitung vom 25.07.2001) propagiert. Zum einen wird hier gefordert, weitere Gruppen zu Zwangsmitgliedern der GKV zu machen, so z.b. auch die Selbständigen und die Beamten, die bislang keine Pflichtmitglieder der GKV sind und ihren gesamten Krankenversicherungsschutz in der privaten Krankenversicherung (PKV) suchen können. Da sich in diesen Gruppen auch Bezieher hoher Einkommen finden, fehlen natürlich deren potenziell hohen Beiträge in der GKV. 17

Eine weitere Gruppe von Vorschlägen zur Ausweitung der Finanzierungsgrundlage der GKV zielt darauf ab, die Beitragsbemessungsgrenze (und im gleichen Zug natürlich auch die Versicherungspflichtgrenze) abzuschaffen oder zumindest deutlich nach oben zu verschieben. Hierdurch würden die Bezieher hoher Einkommen zur einem höheren Solidaranteil in der GKV herangezogen. Schliesslich wird gefordert, auch andere Einkommensarten als Lohn- und Gehaltseinkommen als Bemessungsgrundlage für die Beiträge in der GKV zu erschliessen. Wenn z.b. auch auf die Einkommen aus Vermietung und Verpachtung Krankenkassenbeiträge zu entrichten sind, kann bei gleichen Beitragssätzen ein höheres Beitragsvolumen erzielt werden, oder die Beitragssätze können bei gleichem Finanzierungsvolumen für die GKV sinken. Auch wenn alle genannten Vorschläge zu einer gerechteren Verteilung der Finanzierungslasten in einer vom Solidargedanken getragenen sozialen Krankenversicherung beitragen können, vermögen sie aus folgenden Gründen letztlich nicht zu überzeugen: An den Allokationsproblemen im deutschen Gesundheitswesen ändert man nichts dadurch, dass man einfach mehr finanzielle Mittel in das System pumpt. Alle genannten Vorschläge zur Ausweitung der Finanzierungsbasis der GKV laufen aber exakt darauf hinaus. Die im Kapitel 3 herausgestellten allokativen Probleme im derzeitigen deutschen Gesundheitswesen werden nicht angegangen. Insbesondere erhalten die Versicherten trotz höherer Beiträge zur GKV keinen zusätzlichen Einfluss, um ihre Präferenzen besser durchzusetzen. Es besteht vielmehr die Gefahr, dass notwendige Reformschritte, die letztlich starke Eingriffe in die Struktur des Gesundheitswesens erfordern, durch den kurzeitig abgemilderten Problemdruck weiter hinausgezögert werden. Die Beiträge zur GKV verlieren für die Bezieher hoher Einkommen noch stärker als bisher den Charakter von Versicherungsbeiträgen und nehmen völlig den Charakter einer zusätzlichen Steuer auf Lohn- und Gehaltseinkommen an. Wenn man den Vorschlägen zur Einbeziehung weiterer Einkommensarten in die Bemessungsgrundlage der GKV-Beiträge folgt, wer- 18

den die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung endgültig zu einer zweiten (linearen) allgemeinen Einkommensteuer. Dies kann auch negative Konsequenzen für die Bereitschaft der Individuen haben, an der Finanzierung der GKV mitzuwirken, was in der Literatur als Argument für die deutliche Trennung von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen genannt wird (Mackscheidt 1985). Schliesslich kann die Lösung auch unter distributiven Gesichtspunkten nicht überzeugen. So lange Einkommens- und Berufsgruppen sich der GKV völlig entziehen können, können sie auch jeder Umverteilung in der GKV ausweichen, was von vornherein eine Einschränkung des Solidargedankens bedeutet. Werden andererseits im Extremfall alle Personen auf der Basis aller Einkommensarten zu Beiträgen in der GKV herangezogen, ist zu klären, welche Berechtigung ein linearer Beitragstarif noch hätte, wenn der Tarif der allgemeinen Einkommensteuer als Ausdruck des Leistungsfähigkeitsprinzips progressiv gestaltet ist ganz abgesehen davon, dass es auch erhebungstechnisch einfacher wäre, den GKV-Beitrag dann einfach als Prozentanteil der Steuerschuld in der allgemeinen Einkommensteuer zu erheben. Schliesslich weist auch der Versuch, die finanzielle Ausstattung der GKV durch die Steuerfinanzierung sogenannter versicherungsfremder Leistungen zu erhöhen (GKV-Bundeszuschuss), in eine falsche Richtung. Es besteht auch bei diesem Vorschlag die Gefahr, dass eine zusätzliche Finanzierungsquelle aufgetan wird, statt die strukturellen Mängel zu beseitigen. Wie die Erfahrungen in der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) zeigen, existiert zudem bei der Definition der versicherungsfremden Leistungen stets ein Ermessensspielraum, der politisch zu füllen ist. Dies hat zur Konsequenz, dass die durch versicherungsfremde Leistungen begründeten Ausgleichszahlungen einer gewissen Willkür unterliegen. In der Praxis wird das auf einen dauerhaften staatlichen Zuschuss zur Krankenversicherung hinauslaufen, dessen Höhe von der gerade aktuellen Haushaltssituation der Krankenkassen und der staatlichen Haushalte abhängt. 19