BESPRECHUNGEN. Charles BERNET/Pierre RÉZEAU, C est comme les cheveux d Éléonore. Expressions du français quotidien, Paris: Balland, 2010, 946 S.

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Transkript:

Besprechungen Bernet, C./Rézeau, P., C est comme les cheveux d Éléonore. Expressions du français quotidien (P. Stein) 171 Berthier, P., Stendhal. Littérature, politique et religion mêlées (C. Weiand) 172 Ducos, J. (Hg.), Sciences et langues au Moyen Âge/Wissenschaften und Sprachen im Mittelalter. Actes de l atelier franco-allemand, Paris, 27 30 janvier 2009 (C. Schmitt) 174 Elm, V. (Hg.), Wissenschaftliches Erzählen im 18. Jahrhundert. Geschichte, Enzyklopädik, Literatur (R. Behrens) 178 Herman, J./Peeters, K./Pelckmans, P. (Hgg.), Les Philosophes et leurs papes (V. André) 183 Hertrampf, M. O. M., Photographie und Roman. Analyse, Form, Funktion. Intermedialität im Spannungsfeld von nouveau roman und postmoderner Ästhetik im Werk von Patrick Deville (C. von Tschilschke) 185 Klinkert, T., Epistemologische Fiktionen. Zur Interferenz von Literatur und Wissenschaft seit der Aufklärung (B. Huss) 189 Leopold, S./Scholler, D. (Hgg.), Von der Dekadenz zu den neuen Lebensdiskursen. Französische Literatur und Kultur zwischen Sedan und Vichy (H. Hufnagel) 193 McLaughlin, M., Syntactic Borrowing in Contemporary French. A Linguistic Analysis of News Translation (J. Albrecht) 200 Müller, N./Kupisch, T./Schmitz, K./Cantone, K., Einführung in die Mehrsprachigkeitsforschung. 3., überarbeitete Auflage (A. Gerstenberg) 205 Pint, K., The Perverse Art of Reading. On the phantasmatic semiology in Roland Barthes Cours au Collège de France (B. Lindorfer) 208 Roloff, V./Winter, S./Von Tschilschke, C. (Hgg.), Alain Robbe-Grillet Szenarien der Schaulust (C. Schaefer) 211 Westerwelle, K. (Hg.), Marcel Proust und die Korrespondenz. Beiträge des Symposions der Marcel Proust Gesellschaft in Münster im Juni 2007 (A. M. Elsner) 216

BESPRECHUNGEN Charles BERNET/Pierre RÉZEAU, C est comme les cheveux d Éléonore. Expressions du français quotidien, Paris: Balland, 2010, 946 S. Das vorliegende Dictionnaire phraséologique gilt einem chantier ouvert, 1 den Redewendungen und Phraseologismen des aktuellen Französisch, beginnend mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Noch mehr als bei einem Dictionnaire de langue und hier speziell einem Dictionnaire de néologismes stellt sich dabei das Problem der Aufnahmekriterien in das Wörterbuch. Einerseits gilt es zu bestimmen, wann ein Ausdruck so weit etabliert ist, dass er als wörterbuchwürdig gelten kann, andererseits gilt es überhaupt zu definieren, wann es sich um einen Phraseologismus handelt. Und schließlich geht es für die Aufnahme ins Wörterbuch auch um die Nachwe isbarkeit, die überprüfbare Quelle und damit um zeitliche wie räumliche Ein- bzw. Ausgrenzung, mit dem Bewusstsein, dass Vollständigkeit auf diesem Feld sowieso nicht zu erreichen, ja nicht einmal zu definieren ist. Es handelt sich beim vorliegenden Werk also um eine Momentaufnahme, die über 800 Seiten umfasst, zu denen die Einleitung und umfangreiche Indices hinzukommen. Diese unvermeidliche Problematik vernachlässigend ergibt sich ein verdienstvolles, ja vergnüglich zu lesendes Panorama über die aktuelle französische Sprache und die Kreativität ihrer Sprecher, bzw. Schreiber, denn belegbare Quellen bedürfen nun einmal der Schriftform: Bücher, Journaux, périodiques et agences de presse und Bases de données, cédéroms. Die Suche erfolgte zu einem nicht unwesentlichen Teil mit den Möglichkeiten des Internets. Aufgenommen wurden nur solche Einträge, die sich durch Zitate belegen lassen und die andererseits noch nicht fest in die gängigen einsprachigen (Standard-)Wörterbücher aufgenommen sind. Wie schwierig, ja unvermeidlicherweise willkürlich die Einordnung der Belege ist, zeigt der im Titel des Buches genannte Phraseologismus, denn er ist weder unter cheveux noch unter Éléonore zu finden, sondern unter encore, da es sich um eine Variante zu quand (il n )y en a plus, (il) y en a encore (S. 283 f.) handelt. Hier hilft der ausführliche Index am Ende des Bandes weiter. Ein anderer (zufällig gefundener) Fall zeigt das Problem der Abgrenzung zu den Komposita: cône de Lubeck (S. 195), denn nach meiner Interpretation handelt es sich hier um eine Wortneubildung, ein Kompositum, nicht um einen Phraseologismus; andere vergleichbare Fälle sind mir nicht aufgefallen. Über ein weiteres Aufnahmekriterium wäre zu diskutieren: Der Eintrag musste für Frankreich selbst belegt sein, die Verwendung in der Frankophonie außerhalb Frankreichs reichte alleine nicht aus. Der Band wurde mit großer Akribie zusammengestellt, wie die lange Liste der Ouvrages cités (S. 853 879) ebenso wie die umfangreiche Bibliografie der Ouvrages de référence (S. 849 853) zeigt. Ein Kriterium für die Auswahl der Ouvrages cités wird jedoch nicht gegeben, in der Présentation heißt es nur: Les exemples. Les citations retenues couvrent la période allant de la Seconde Guerre mondiale à nos jours. Notre collecte s appuie principalement sur des fonds documentaires écrits: de nombreux exemples sont tirés d œuvres littéraires et, plus rarement, d études ou 1 Die beiden Autoren haben zwei Jahre vorher (2008) beim gleichen Verlag und in der gleichen Reihe bereits ein Werk mit ähnlichem Titel veröffentlicht: On va le dire comme ça. Dictionnaire des expressions quotidiennes.

172 Besprechungen essais; une bonne place est accordée à la presse, ainsi qu à toutes les données textuelles disponibles sur la Toile; un apport moindre provient de dialogues de films, de sketches et de chansons. (S. 8 f.) Die Quelle für die Belege wird jeweils angegeben, Varianten mit gleichem Inhalt werden unter dem Schlüsselterminus zusammengestellt, ohne dass die Entscheidungen und Zuordnungen immer objektiv nachvollziehbar sind. Aber, siehe oben, das ist bei einem Werk wie dem vorliegenden wohl nicht zu umgehen. Damit genug der kritischen Anmerkungen. Das Werk erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, es möchte einen Einblick geben in die phraseologische Kreativität des Französischen und seiner Sprecher, und es möchte zu einer vergnüglichen Lektüre einladen. Beides ist ihm gelungen, und es kann durchaus auch als Referenzwerk gelten, das neben den Quellenangaben auch Informationen zur Etymologie und Geschichte der Phraseologismen enthält sowie, wenn angebracht, auch zu ihrer Verwendung. Bleibt die Frage, ob und wann die Autoren ihren nächsten Band erscheinen lassen werden. Kiel/Göttingen/Salzburg Peter STEIN Philippe BERTHIER, Stendhal. Littérature, politique et religion mêlées (Études romantiques et dix-neuviémistes, 16), Paris: Classiques Garnier, 2011, 240 S. Philippe Berthier hat sich seit einem halben Jahrhundert der Stendhal-Kritik verschrieben und ist durch seine Publikationen zu einer hermeneutischen Instanz geworden. Da ihm jeder Personenkult fremd ist und er in eigener Sache allen Anfängen wehrt, würde wahrscheinlich schon nach diesem ersten Satz ein Fragezeichen auf seiner Stirn erscheinen. Tatsache aber ist, dass die Stendhal-Forschung ohne seine Hingabe an die Sache und an die Persönlichkeit des großen Stendhal kaum denkbar ist. Philippe Berthiers Name steht inzwischen (mit) für die neue Werkausgabe der Romane in der Bibliothèque de la Pléiade (Paris 2005 ff.). Er publiziert in den letzten Jahren in zunehmend dichter Folge zu seinem Meisterdenker eine Monographie nach der anderen. Er war und ist rund um den Globus persönlich präsent, wenn es in Kongressen, Kolloquien oder internationalen Fachtagungen um H. B. oder Stendhal geht, er gibt die Zeitschrift L Année stendhalienne heraus, und er ist der Stoff, aus dem auch die wahren Träume der Association des amis de Stendhal gemacht sind. Innerhalb der quicklebendigen Stendhal-Forschung gibt es ein Markenzeichen, das abgekürzt Ph. B. heißt und das naturgemäß einen eigenen Stil pflegt. Die Texte Berthiers, ob kurz oder lang, sind rhetorische Meisterwerke das hat die einschlägige Kritik schon lange erkannt, sie sind das Amalgam verschiedener Diskurstypen aus Wissenschaft, Literatur, Feuilleton, faits divers und ohne Zweifel selbst Literatur. Als solche haben sie einen eigenen Sound oder, um es ein wenig französischer zu sagen, hier gilt: Le style, c est l homme. Wer sich von diesen Zusammenhängen auf einen Blick überzeugen möchte, lese den zweiten Satz auf Seite 54 des hier besprochenen Buchs, der von Corneille handelt. Berthiers Lexik ist atemberaubend expressiv und in feinsten Nuancen gestuft. Sie stellt überraschende Analogien her zwischen den Welten Stendhals und denen des modernen Lesers. So entdeckt Berthier mit Stendhal in Priesterseminaren der Provinz mollahs ou talibans catholiques (S. 170). Die Sätze und die Syntax scheinen zu bersten vor élan vital: Il a fallu l électro-choc révolutionnaire, suivi de la cure d oxygène impériale, pour redonner à un Corneille

Besprechungen 173 qu on croyait éventé tout son âpre parfum (S. 52). Die Argumente sind lupenrein entfaltet, und sie verfolgen ein großes Ziel: Stendhal und dessen Ideal der Freiheit, seine Vision von der Chance zur ungehinderten Entfaltung des eigenen Denkens als Grundlage für authentisches Handeln, seine Beharrlichkeit bei der Suche nach dem Glück. Das und vieles mehr zeichnet Stendhals Modernität aus. Und dieser Modernität ist Berthier in seiner Sammlung von fünfzehn Beiträgen aus drei Jahrzehnten auf der Spur. Er hat sie zwischen 1984 und 2008 zu verschiedenen Anlässen geschrieben, sie wurden überarbeitet und, ergänzt um einen Originalbeitrag, zu einem Triptychon der Ideologie- und Kulturkritik im Prisma Stendhals um drei Leitbegriffe gruppiert: Literatur, Politik, Religion. Jeweils fünf Beiträge bilden einen dieser Abschnitte. Unter dem Stichwort der Literatur geht es um Stendhal und die mythisch-literarische Welt der Griechen und der Römer, um seine in der Erinnerung tief verwurzelte Bibliothek der lateinischen Klassiker, um Corneille, der vor Racine rangiert, um Ludwig XIV., der kraft seiner totalisierenden Semiotik, die den Hof dominiert, als ein linguicide (S. 69) ins Bild gesetzt wird, um Walter Scott, von dessen Einflusssphäre Stendhal sich emanzipieren wird ( Stendhal, ou le fils émancipé ). In großen Schritten, die dennoch die sprechenden Details faits divers révélateurs (S. 175) suchen und finden, durchquert der Kritiker die Epochen und Zeitalter auch der Literarhistorie und bringt eine Genealogie des Literarischen zur Anschauung, die für Stendhal von grundlegender, humanistischer Bedeutung ist. Die Politik ist bei Stendhal zentriert auf die große Revolution in jesuitischer Camouflage: la grande épreuve (S. 169), ihre Folgen, ihre Chancen, ihr zukunftsweisendes Potential. Stendhals Schriften, ob genuin literarisch, kunstkritisch oder als Beiträge für die englische Presse, le lectorat d Albion (S. 174), z. B. die Edinburgh Review, konzipiert, machen sich für genderspezifische Visionen der Moderne stark. Danton und Julien Sorel, Madame Roland als Stendhals altera ego (S. 115) werden zu Chiffren der neuen (literarischen) Anthropologie. Ob der Civilisation Amerikas diese Zukunft gehört? Nach erstem Enthusiasmus obsiegt bei Stendhal die Skepsis. Und dennoch gibt es im Zusammenspiel von Histoire et Roman eine utopische Dimension. Stendhals denkstarke Utopie spricht sich auch aus in seiner Kritik an Kirche, Klerus und Papsttum dafür steht der Begriff der Religion im Titel der Sammlung. Das Jesuitische als durchtriebene Form des Restaurativen, Intrigen und Machtkämpfe im Conclave le fastueux opéra vaticanesque (S. 191), Pascal oder Fénelon als theologale Ideengeber des Romanciers Stendhal, die Glaubwürdigkeit der Theologie im semiotischen Raum von Dieu, la femme, le roman, von Mystique, érotique et politique, das sind die großen Themen dieser wunderbar eloquenten Aufsätze, die aufmerksam bei Tageslicht studiert sein wollen. Für den versonnenen Leser, der es mag, abgeklärte und doch spannende Nachtgedanken im Herzen zu bewegen, empfiehlt sich ein weiteres Buch aus dem Atelier Berthier: Petit Catéchisme Stendhalien lautet der Titel (Paris: Éditions de Fallois, 2012). In siebenundvierzig Abschnitte gegliedert, die Stichwörtern folgen von Anges oder Athés bis hin zu Vœu oder Voltaire und die auch Madone und Mahomet nicht auslassen, werden Fragen gestellt beispielsweise: À quoi pensent les Madones de Raphaël, ou plutôt à qui? (S. 103) und Fakten konstatiert: Stendhal croit aux anges, il a des antennes pour les détecter, perdus dans la foule, comme Wim Wenders dans Les Ailes du désir (S. 12). Für die Leser Philippe Berthiers, die durch Querlesen beide Bücher streiflichtartig miteinander vergleichen möchten, sei für die brodelnde Semantik des désir die Seite 209 der Aufsatzsammlung zu Stendhal empfohlen. Dort finden sich unverzichtbare Hinweise zur épiphanie du désir. Heidelberg Christof WEIAND

174 Besprechungen Joëlle DUCOS (Hg.), Sciences et langues au Moyen Âge/Wissenschaften und Sprachen im Mittelalter. Actes de l Atelier franco-allemand, Paris, 27 30 janvier 2009 (Studia Romanica, 168), Heidelberg: Winter, 2012, VIII + 437 S. Die Fachsprachenforschung der romanischen Sprachen wie des Deutschen kennt immer noch beträchtliche Defizite bei der Ermittlung mittelalterlicher Terminologien und Textkriterien. Dies mag, wie z. B. im Spanischen, an der dafür erforderlichen Sprachkenntnis liegen, die oft auch eine gewisse Vertrautheit mit nicht-indoeuropäischen Traditionen voraussetzt, dürfte aber beim Sprachenpaar Französisch/Deutsch in erster Linie dem Umstand geschuldet sein, dass Sprachwissenschaftler oft geringe Kenntnisse von der Sachkultur und Fachwissenschaftler oft nur geringe Vertrautheit mit den linguistischen Voraussetzungen besitzen, 2 nachdem die von Schuchardt und Meringer begründete Methode Wörter-und-Sachen ihre ursprüngliche Attraktivität für den akademischen Nachwuchs eingebüßt hat. Die Brücke zur Antike schlägt im vorliegenden Kongressband die Studie von Loïc Depecker ( Quelques éléments d introduction à la terminologie, 1 9), der den Einfluss von Platons Kratylos und Aristoteles Schriften auf das mittelalterliche Sprachdenken (speziell eines Wilhelm von Ockham, aber auch zu neueren Interpreten) nachzeichnet, während Joëlle Ducos ( Introduction, 11 16) überzeugende Argumente für die Aufarbeitung der Terminologien präsentiert, die im 12./13. Jahrhundert durch Übersetzungen und den Ausbau neuer Wissenschaften entstanden sind, da solche Studien zeigen, que la langue médiévale dépasse les frontières linguistiques et les oppositions entre aires linguistiques, pratiques savantes et discours vernaculaires: la circulation des textes et des savoirs amène en effet l existence d une koiné, à la frontière des langues, qui est le support de la terminologie qui se crée (15). Denn in der Tat gibt es zwischen den Terminologien des Trivium und Quadrivium in allen westeuropäischen Sprachen so viele Gemeinsamkeiten, dass aus der Terminologiegeschichte leicht auch die Geschichte des Wissens- und Kulturtransfers geschrieben werden kann. Dass diese im Rahmen des Kolloquiums nur teilweise geleistet werden konnte, hat die Herausgeberin leider nicht erkannt, sonst hätte sie sicher auch die Partizipation der Fächer Mittel- und Neulatein eingeklagt, die zwar in der Diskussion marginal auftreten, aber als institutionalisierte Fächer trotz ihrer hohen Bedeutung 3 fehlen. Der Band wird in zwei Teile mit recht groben Umrissen unterteilt und umfasst die Bereiche Sciences, concepts et terminologie dans les langues médiévales (19 293; mit zwölf Beiträgen) und Textes de savoir: de l écriture à la mise en fiction (297 432; mit neun Beiträgen); den Abschluss bildet ein sorgfältig erstellter Autoren- und Stellenindex (433 437). Eröffnet wird der erste Abschnitt von einem Beitrag aus dem DEAF-Atelier, in dem Stephen Dörr ( Autors Werk und Übersetzers Beitrag Formale, statische und dynamische Äquivalenz im mittelalterlichen Fachtext, 19 32) ausgehend von Nidas Übersetzungstheorien mehrere Astronomietraktate des 13./14. Jahrhunderts und die darin enthaltenen Terme untersucht und das Entstehen und die Ausbildung einer Nomenklatur zu begründen versucht. Der Mathematik gilt das Interesse von Sabine Rommevaux ( La constitution d un vocabulaire mathématique dans les traductions des Éléments d Euclide du XII e siècle, 33 43), die durch Textvergleich 1 Vgl. z. B. Bertha Gutiérrez Rodilla, La esforzada reelaboración del saber. Repertorios médicos de interés lexicográfi co anteriores a la imprenta, San Millán de la Cogolla, 2007, 79 ff. 2 Ein instruktives Beispiel für diese Annahme liefert die Militärhistorikerin Marie-Anne Michaux (Glossaire des termes militaires du seizième siècle. Complément du Dictionnaire de la langue française du XVI e siècle d Edmond Huguet, Paris, 2008), wo treffliche Sacherklärungen von teilweise völlig unhaltbaren sprachlichen Erklärungen begleitet werden (cf. ZRPh 128 (2012), 381b 383). 3 Vgl. Peter Stotz, Handbuch zur lateinischen Sprache des Mittelalters, 5 Bde., München, 1996 2004.

Besprechungen 175 die langsame Herausbildung des im 12. Jh. noch nicht fixierten, ja nicht einmal entwickelten Fachwortschatzes dokumentiert, der ebenso Paraphrasen wie Arabismen und Gräzismen umfasst und noch weit von der volkssprachlich bestimmten Terminologie der Renaissance 4 entfernt ist. Durchaus vergleichbar bleibt die Situation in der Arithmetik, wo, wie Mathieu Husson ( Le lexique arithmétique élémentaire dans Pratike de géométrie (XIII e siècle), 45 64) in seiner gut dokumentierten Ausführung darstellt, insbesondere die Umterminologisierung trotz der damit verbundenen Polysemie ein wichtiges Prinzip bildet und ansonsten die üblichen Entlehnungsund Bildungsmechanismen auftreten. Stéphane Lamassé ( Les traités d arithmétique médiévale et la constitution d une langue de spécialité, 65 104) bietet eine historiographische Darstellung von Anleitungen und Abhandlungen zum kaufmännischen Rechnen bis etwa 1500 und erarbeitet von einem langatmigen Kommentar begleitete Listen des mathematischen Wortschatzes von 13 Werken, geordnet nach Einträgen und Frequenz des Gebrauchs, wobei bei der Ermittlung der Formen graphische Divergenzen uniformiert werden, sodass mit dieser Studie cum grano salis der Grundwortschatz eines Wissensbereiches geliefert wird. Neben der Mathematik hat auch die Medizin früh volkssprachliche Texte geliefert. Maria Sofia Corradini ( Nouvelles acquisitions et connaissances pour l étude de variation (diachronique, diatopique et diaphasique) du lexique médical occitan du Moyen Âge, 105 118) analysiert Texte aus der gesamten Occitania mit medizinisch-pharmazeutischer Ausrichtung und identifiziert dabei verschiedene Texttypen und die Universität Montpellier als Mekka für Studierende aus ganz Europa und sprachlich-normatives Irradiationszentrum, vor allem nach der Dekadenz der Schule von Salerno. Dabei wird überzeugend die sprachliche Variation als Resultat der Einwirkung verschiedener kultureller Traditionen gedeutet. Mit den Fachtexten des Weissagens beschäftigt sich Katy Bernard ( La question de l exigence terminologique dans les témoins occitans de l art géomantique (BnF., lat. 7349 et 7420A), 119 136), die an instruktiven Beispielen die Schwierigkeiten dokumentiert, die bei der Verwendung der Volkssprache entstehen, da die manteia der irdischen Prozesse ( arab. raml Auslegung des Streusandes ) kaum adaptierbare Latinismen in den entsprechenden gräko-lateinischen Fachvokabularien kennt, wo äquivalente Metaphern und Metonymien im usus nicht vorzuliegen scheinen (vgl. z. B. okz. geomancia und okz. sort) und es wohl auch keine Namen für die Figuren gab. Ein Blick ins FEW hätte für die Einsicht genügt, dass große Teile des Fachvokabulars Nachprägungen arabischer, griechischer oder (selten auch) lateinischer Terme sind, was Fragen über das Verstehen und den Gebrauch aufwirft. Der erste Traktat zur richtigen Ernährung (vor 1257) hat die Aufmerksamkeit von Michele Bellotti ( Un traité de diététique écrit dans la langue des nourrices. Sur l insertion du langage des enfants dans le Régime du corps d Aldebrandin de Sienne, 137 156) gefunden, der einen im 13. Jh. weit verbreiteten Text in Bezug auf die lateinischen Vorlagen analysiert. Dabei zeigt er, dass z. B. papa nicht nur Vater, sondern auch Brei für Kinder bedeuten kann (< lt. pappare mampfen ) und dass einige lexikographische Einträge in historischen Wörterbüchern zu korrigieren sind. Marc Kiwitt ( Éléments hébreux et éléments arabes dans le Commencement de Sapience, 157 171) befasst sich mit translatorischen Fragestellungen, die mit der Translitterierung hebr ä - ischer Lexeme (ohne Glossen) ins Französische einsetzen und Ibn Ezras um eine hebräische Neuerung der Terminologie bemühten Text in der Version von Hagin näher analysieren. Dabei durfte erwartet werden, dass die weitgehend unveränderte Übernahme hebräischer Fachterme, 4 Vgl. Rez., Bovelles traducteur de Bovillus, in: Actes du XXV e Congrès international de linguistique et de philologie romanes: 3 8 septembre 2007, Innsbruck, Bd. I, Berlin/New York, 2010, 643 653.

176 Besprechungen die vielfach auf Äquivalenzen aus dem Religionsunterricht rekurrierte, zu schwer verständlichen altfranzösischen Texten führen musste. 5 Einen Einblick in die Praxis vermittelt auch Isabelle Vedrenne-Fajolles ( Les Pratiques linguistiques des médecins, auteurs, traducteurs ou copistes de traités médicaux. L exemple des maladies de peau (XIII e XV e siècles), 173 244), die auf der Grundlage eines reichen, einschlägigen Textkorpus zwei Stränge und Traditionen eines Wissensbereiches, den gelehrt-lateinisch/ griechischen und den volkssprachlichen, untersucht und dabei auch erhebliche lexikographische Lücken füllt. Ihre semantischen Ausführungen überzeugen, während die etymologischen Erklärungen zu einseitig von der TLF-Tradition bestimmt bleiben; 6 der Rest des Annexe kann (abgesehen von der Etymologie) als Bereicherung in eine medizinische Enzyklopädie übernommen werden. Demselben Fachbereich gehört die Studie von David Trotter ( La operacio am ma, so es cyrurgia: Prolégomènes à un glossaire au premier livre de l Albucasis en occitan, 245 268) an, der zu Recht die Vernachlässigung der okzitanischen Wissenschaftssprachen beklagt und dabei ausgehend vom medizinischen Handbuch des Albucasis, das wohl in der Lehre an der Universität eingesetzt wurde ein Glossar des Textes erstellt und dabei nicht nur Modifikationen am edierten Text vornimmt, sondern auch auf Lücken im FEW (in erster Linie Arabismen, aber auch Romanismen) hinweist. Seiner Folgerung, dass der Albucasis occitan montre que la langue d oc savait traduire un texte hautement scientifique et transmettre son savoir apparemment au pople, en occitan (262), ist uneingeschränkt zuzustimmen. Die langue d oc steht dem Französischen im Mittelalter kaum nach, wie dies auch aus dem Werkstattbericht zum mittelfranzösischen Wörterbuch (DFM) von Sylvie Bazin-Tacchella ( Le Réceptuaire attribué à Jean Pitard (XIV e siècle): projet d une édition et d un glossaire électroniques, 269 286) erhellt, die eine (wegen der unterschiedlichen Graphien sicher nicht einfache) Lemmatisierung eines der berühmtesten Bücher für Behandlungsvorschriften in der Planung hat. Françoise Fery-Hue ( Les traductions latines d œuvres vernaculaires au Moyen Âge et à la Renaissance: pourquoi un inventaire?, 287 293) bleibt es als Vertreterin von TradLat vorbehalten zu begründen, warum auch lateinische Übersetzungen volkssprachlicher Texte im gesamteuropäischen Rahmen eine sprachwissenschaftliche Beachtung verdienen: Latein war die Wissenschaftssprache schlechthin und wurde transnational rezipiert. Der zweite Teil beginnt mit Ausführungen zur Ausbildung diskursiver Normen und rhetorischer Traditionen im Mittelalter. Dabei widmet Raymund Wilhelm ( Rhétorique et discours scientifique. Les traductions du De inventione de Cicéron par Brunet Latin et Jean d Antioche, 297 314) seine Aufmerksamkeit den recht unterschiedlichen Vermittlungsformen von Ciceros Rhetorik durch Brunetto Latini und Jean d Antioche, von denen Ersterer für den mode plus proprement de vulgarisation (298) und Letzterer (nach Ausweis der zahlreichen Latinismen und der Präsentation von Definitionen, sowie zahlreicher rhetorischer Figuren) für den mode plus académique (ebd.) steht. Die überzeugende Abhandlung liefert einschlägiges Material (z. B. narratio: fait bei Brunetto, narracion bei Jean, etc.) und auch eine Erklärung für die 5 Vgl. auch Alexandra B. Edzard, Varietätenlinguistische Untersuchungen zum Judenfranzösischen, Frankfurt am Main, 2011, 161 ff. 6 Vgl. z. B. couperose und goutte rose, zwei Hautkrankheitsnamen ( issu de l humeur sanguine corrompue, 193), wo (mit Stephen Üllman; lies: Ullman, 180) die Autorin an Wortkontamination (180 f.) denkt, obwohl frz. couperose Rotlauf, Kupferausschlag ganz offensichtlich zu mlt. cuprirosa (< cuprum + rosa Hautkrankheit, vgl. auch dt. Gürtelrose ) gehört; goutte rose würde dann eine volksetymologische Verbrämung bilden, die mit (a)fr. goutte Gicht, Gelenkentzündung, rote Knoten in der Haut begründet werden kann. Problematisch ist auch rogne (196; sicher aus aranea eingewurzelte Krätze, schon Cassius Felix); zu dertre/dartre (196) siehe REW, 2580.

Besprechungen 177 unterschiedlichen Darstellungsweisen: Brunetto schreibt für den (italienischen) Politiker, der Leser von Jean d Antioche ist wohl eher in den gebildeteren Kreisen zu suchen. Wie Yela Schauwecker ( Die Diätetik im Secré des segrez von Jofroi de Waterford im Spiegel der Wissenschaftsgeschichte, 315 328) ausführt, ist die altfranzösische Version des pseudoaristotelischen Secretum secretorum (gestaltet als fiktiver Brief Aristoteles an Alexander den Großen), die sich durch zahlreiche Kompilationen vom lateinischen Text unterscheidet, durch Intertextualität markiert, die aus Fachtexten derselben Zeit stammt und wohl nach Salerno weist. Da in der vorliegenden Version die Übereinstimmungen mit mutmaßlichen Quellen nicht, wie explizit behauptet, grau unterlegt (323) sind, ist eine Überprüfung der Behauptung nicht einfach. Ein vertrauteres Thema behandelt Silvia Albesano ( Dicimus [ ] quod vulgarem locutionem appellamus : Überlegungen zur Metasprache in Dantes De vulgari eloquentia (Buch I), 329 340), die in ihrem Beitrag die sprachtheoretischen Kapitel von DVE kommentiert, in denen die Ausarbeitung des volgare illustre begründet wird. Dabei wird die Verwendung von locutio, ydioma, vulgare, loquela und lingua (allein oder mit Determinanten) untersucht und gezeigt, dass keine Synonyme oder stilistischen Varianten vorliegen, wie bereits Tavoni angenommen hat. Elisa De Roberto ( Discours scientifique et traduction au Moyen Âge: à propos des outils d articulation textuelle, 341 358) behandelt eine noch weiterführende Fragestellung, indem sie eine kontrastive Analyse vorlegt, in der für das Sprachenpaar Italienisch/Französisch Kriterien der Definition und orientierende textuelle Hinweise oder Verstehens- und Auslegungsanweisungen in drei Übersetzungen kohärent interpretiert werden, wobei für die Kapiteleinleitungen in erster Linie Topic-Techniken präsentiert werden. Zwei Beiträge sind spezifischen Problemen der Rechtssprache gewidmet: Dabei arbeitet Stéphane Marcotte ( Science du droit, science d écriture: observations sur la construction syntaxique du discours juridique, 359 375), der von der nicht haltbaren Annahme der formation d un vocabulaire spécial (360) im juristischen Bereich ausgeht, 7 typische Eigenheiten der Notariatspraxis heraus, in der Verweistechniken eine entscheidende Rolle zufällt; Hélène Biu ( Dire le droit en français: la traduction française de la Summa Azonis, 377 390), die eine altfranzösische Übersetzung des juristischen Basiswerks von Azon kommentiert, die wohl in Orléans zu einer Zeit entstanden ist, da das Corpus iuris civilis durch germanisches Recht (vgl. den Ersatz von fi dejussor durch plege, tutela durch garde, etc.) ersetzt ist. Der Übersetzer ist ein kompetenter Zivilrechtler, der das Französische beherrscht und nur selten zu Latinismen und Lehnprägungen greift. Anhand von zwei Papstbriefen zeigt Mika Job ( Sprache als Mittel der Politik, 391 402), wie Metaphorik, der Gebrauch von Fahnenwörtern und der Einsatz rhetorischer Mittel die Sprache der Politik hier zweier Briefe von Gregor IX. an Kaiser Friedrich II. zusammen mit der latenten Drohung der Exkommunikation im politischen Diskurs gebraucht wurden, während Amandine Mussou ( Le miroir concave des Echés amoureux et du Livre des echez amoureux moralisés d Évrart de Conty: de l objet poétique à l exposé scientifique, 403 417) in ihrem aparten Beitrag zeigt, wie in literarischen Texten von einem gebildeten Arzt gelehrte Glossen zur physikalischen Optik in eine völlig andere Textsorte eingebaut werden konnten, was umso mehr überrascht, als man gewohnt ist, diese Werke der moralisierenden und allegorischen Tradition zuzuschlagen. 7 In Wirklichkeit geht es um die Verwendung sprachlicher Zeichen in Texten mit spezieller Funktion, vgl. Rez., Entstehung und Entwicklung der juristischen Begriffsbildung: Französisches Recht, in: Roswitha Fischer (Hg.), Sprache und Recht in großen europäischen Sprachen. Juristische Begriffsbildung im Spannungsfeld zwischen Fachlichkeit und allgemeiner Verständlichkeit, Regensburg, 2010, 91 115.

178 Besprechungen Den Abschluss bildet die Studie von Cécile Le Cornec ( La dénomination des poissons merveilleux en français, 419 431), deren problematischer Beitrag beginnt mit Les textes français paraissent bien pauvres en poissons en comparaison de la riche tradition ichtyologique transmise en latin (419), was sicher ein Irrtum ist, 8 da die Kommentare zum antikisierenden Roman immer wieder Identifikationsvorschläge liefern. Die Verf.in stellt drei verschiedene Techniken der Einführung von Fischnamen fest: Entweder wird nur das Hyperonym gebraucht oder die Poeten benutzen tatsächlich das Hyponym bzw. Namenkataloge, deren Bestimmung oft schwierig ist. Die dritte Technik bestehe in der poetischen Erfindung von Fischnamen, worunter pantine, ançoine barbée und orten(i)aus fallen sollen. Während die lexikographische Erfassung von ortenaus bisher nicht erfolgt ist, werden pantine animal marin fabuleux, phoque (?) (FEW 21, 247 a) und ançoine barbée sorte de poisson (MortAym) (FEW 21, 257 b) unter den Materialien unbekannter Herkunft aufgelistet, doch ist von einer poetischen Kreation nicht die Rede; auch die Argumentation der Autorin vermag in dieser Hinsicht nicht zu überzeugen, denn pantine (< panthera) kann sich kognitiv wie dt. Seelöwe und Seeleopard erklären, ohne dichterische Imagination. Der sorgfältig redigierte Kongressband ist nicht nur geeignet, auf immer noch bestehende Defizite bei der lexikalischen und semantischen Erfassung des mittelalterlichen Wortschatzes primär im Französischen und Deutschen hinzuweisen, sondern dürfte auch manchem Leser vor Augen führen, wie vielschichtig die mittelalterlichen Texte sind und welche generellen Fragestellungen sich mit dem Ausbau der Nationalsprachen und der Normierung der wissenschaftlichen Fachsprachen verbinden, deren Beschreibung lange vernachlässigt wurde, weil sich die Romanistik in der Nachfolge der primär die volkssprachliche Lexik bearbeitenden romantischen Philologie wenig um mots savants oder Buchwörter gekümmert hat, da in diesem Bereich kaum etymologische Meriten zu erwarten sind. Bonn Christian SCHMITT 8 Es gibt sogar einen altfranzösischen Fischekatalog, der dem Katalog der Mosella (4. Jh.; Ausonius) in nichts nachsteht; vgl. Rez., Isti pisces inveniuntur in Mosa. Ein Beitrag zur französischen Ichthyonymie, in: Studien zur romanischen Wortgeschichte. Festschrift für Heinrich Kuen, Wiesbaden, 1989, 161 173. Veit ELM (Hg.), Wissenschaftliches Erzählen im 18. Jahrhundert. Geschichte, Enzyklopädik, Literatur, Berlin: Akademie Verlag, 2010, 226 S. Der Band geht, obwohl er dies nicht anzeigt, auf eine Ringvorlesung an der Universität Potsdam zurück. Damit mag zusammenhängen, dass die Beiträge, wie es in solchen Veranstaltungen unumgänglich ist, das Bekannte mit dem Interessanten, das Innovative mit dem lokal sich Anbietenden verbinden. Die auffällige Herkunft der BeiträgerInnen aus dem Berliner Raum erklärt sich so ebenso wie eine, gemessen an der tatsächlichen Problematik der narrativen Wissensdarstellung für das 18. Jahrhundert, stark paradigmatische thematische Ausrichtung. Mit den drei Lemmata, die der Untertitel aufzählt, sind ja sehr unterschiedliche Objektbereiche benannt: mit Geschichte (historia) eine Wissensgestaltung, die sich aus den sprachlich-logischen artes des Triviums herleitet und erst im 19. Jahrhundert den Rang einer Wissenschaft bekleiden wird; mit Enzyklopädik die artifizielle und okkasionell handhabbare sprachliche Organisa-