Zur räumlichen Einbettung sozialer Strukturen



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Transkript:

Zur räumlichen Einbettung sozialer Strukturen Einleitende Überlegungen zu einer Topologie sozialer Systeme Dissertation zur Erlangung eines Doktorgrades im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Justus-Liebuig-Universität Giessen Vorgelegt von Kay Junge September 1993 (Die Formatierung des pdf-files ist nicht identisch mit der Original-Formatierung. Die Seitenzahlen sind ebenfalls nicht mehr identisch) Die Arbeit ist Online unter www.sozialarbeit.ch/topologie_systeme.pdf erhältlich

Vorwort, Überblick und Danksagung... 4 I. Der planimetrische Irrtum... 9 1. Gesellschaft als Nation?... 9 2. Differenzierungstypen... 35 3. Lose und feste Kopplung... 59 4. Staaten ohne Nation?... 88 II. Auflösungs- und Unterscheidungsvermögen... 96 1. Die Unterscheidung von Auflösungs- und Unterscheidungsvermögen... 97 2. Unterschiedliche Auflösungsvermögen als constraint soziologischer Theorien... 105 3. Unterschiedliche Auflösungsvermögen als constraint gesellschaftlicher Selbstbeobachtungen... 120 III. Topik und Topologie... 149 1. Die Inventio... 150 2. Sinndimensionen der Inventio... 155 3. Kovariation der Sinndimensionen... 159 Anhang... 167 IV. Ordnung und Ortung... 175 1. Raum als Behälter... 175 1.1 Globalisierung und Beschleunigung... 186 1.2 Strukturalistische Handlungstheorien:... 195 Georg Simmel... 196 Anthony Giddens... 198 Talcott Parsons... 206 2. Raum als Medium... 214 2.1 Systemtheorien:... 224 Herbert Spencer... 224 Niklas Luhmann... 227 Harrison C. White... 240 V. Fiktive Körper... 252 1. Der Staat als fiktiver Körper... 252 2. Staat als Nationalstaat... 255 3. Staat als Rechtsstaat... 262 4. Staat als Lärmschutz... 272

VI. Raum und Logik... 279 1. Innen und Außen... 279 2. `Operation bootstrap'... 287 Schlußbemerkung... 294 Literaturliste:... 296

"Wir leben eigentlich nur davon, daß es Hindernisse gibt." 1 Vorwort, Überblick und Danksagung Die Klassiker der Soziologie identifizierten die sie umgebende Gesellschaft fast wie selbstverständlich mit einer Nation, also als einen Gegenstand mit relativ eindeutigen territorialen Grenzen. Aber auch heute noch - knapp hundert Jahre später - scheint sich an dieser Selbstverständlichkeit auf den ersten Blick wenig geändert zu haben. Die Soziologie hat der Frage nach der räumlichen Einbettung sozialer Strukturen bis in die jüngste Gegenwart hinein nur wenig Interesse geschenkt. Man überließ sie den Stadtsoziologen und Geographen, aber ein gesellschaftstheoretisch relevantes Thema konnte hier niemand erkennen. Den utopischen Gesellschaftsentwürfen der frühen Neuzeit nicht unähnlich, schien sich auch die Soziologie ihre Gesellschaft vorzugsweise wie auf eine Insel versetzt und vom Rest der Welt isoliert vorzustellen. Die soziologische Gesellschaftstheorie konzentrierte und beschränkte sich - ganz wie die utopischen Gesellschaftsentwürfe - auf in merkwürdiger Weise ortlose Territorien. Kulturen oder Nationen wurden als selbstgenügsame, quasi unnahbare und einer endogenen Entwicklungslogik folgende Einheiten begriffen. Diese Perspektive scheint zum Ende unseres Jahrhunderts die soziale Wirklichkeit jedoch kaum mehr angemessen erfassen zu können. Termini wie Weltliteratur und Giftmüllexport, Weltwirtschaft und Welthungerhilfe, Ozonloch und Aids zeigen seit langem an, daß sie das Produkt einer zu Ende gehenden Epoche sein muß. Es kann deshalb kaum überraschen, daß Fragen nach der räumlichen Einbettung sozialer Strukturen und den räumlichen Grenzen einer Gesellschaft gegenwärtig unter Titeln wie `time-space-distanciation', `globalization' oder `new geopolitics' eine Renaissance in der Soziologie erleben. Anthony Giddens, Randall Collins, Michael Mann, Allen Pred und Charles Tilly dürfen vermutlich als die wichtigsten zeitgenössischen Autoren gelten, die sich diesen Problemen angenommen haben. Die sich hier andeutende Verschiebung des Forschungsinteresses ist zuweilen, insbesondere von Geographen, als ein "bringing sociology down to earth" umschrieben worden. Eine solche Tendenz ist natürlich zu begrüßen, wenigstens solange man sich des Risikos einer Bruchlandung bewußt ist. Dieses Risiko zu 1 Andric, Ivo, Wesire und Konsuln, München 1993, S. 67.

mindern, ist eine Absicht der vorliegenden Arbeit. Vielleicht empfiehlt es sich sogar, noch eine Weile in den vermeintlichen Höhen der Abstraktion zu verbleiben. Die Beschäftigung mit räumlichen Beziehung verdankt sich nicht zuletzt einer starken Faszination durch Landkarten. Die an Landkarten orientierte Wahrnehmung führt jedoch schnell zu einer Fehleinschätzung der Lage. Emerich Francis' Formel vom "planimetrischen Irrtum" pointiert treffend, wo das Risiko der gegenwärtig wieder attraktiv erscheinenden räumlich-territorialen Analyse sozialer Strukturen liegen könnte. Wir möchten deshalb abstrakter ansetzen. Uns interessiert zunächst weniger die Einbettung einer Gesellschaft in eine Landschaft oder in ein bestimmtes Territorium. Bevor solche Fragen soziologisch sinnvoll angegangen werden können, muß zunächst nach dem, durch die jeweiligen sozialen Strukturen selbst aufgespannten, Raum gefragt werden. Eine Art Sozialtopologie schwebt uns hier als Ziel vor. Wir wollen Raum deshalb nicht als eine Eigenschaft der natürlichen Welt oder eine Struktur unseres Wahrnehmungsvermögens voraussetzen, sondern als ein Produkt der Kommunikation selbst zu begreifen versuchen. Eine zentrale Rolle spielt dabei ein sehr allgemein und abstrakt gehaltener Medienbegriff. Soziale Beziehungen sind immer auf bestimmte Medien angewiesen. Erst über solche Medien spannt sich der Raum des Sozialen auf. Der soziale Raum ist kein einfacher Behälter, sondern ein sich immer von neuem wandelndes, fragiles und vielfach fragmentiertes, inhomogenes Geflecht. Die Frage nach der räumlichen Einbettung sozialer Strukturen zielt deshalb auf einen Doppelaspekt: Zum einen geht es natürlich, soweit dies möglich ist, um die geographische Verortung dieser Strukturen, zum anderen geht es aber auch um die Einbettung jeweils bestimmter sozialer Strukturen in umfassendere Komplexe solcher Strukturen selbst und schließlich um deren Einbettung in die Gesellschaft als Ganze. Nur im zuletzt genannten Fall wollen wir von einem sozialen Raum sprechen. Geographische Verteilungen, so wird man als Soziologe annehmen wollen, sind vorrangig sozial determiniert und nicht umgekehrt. Um räumlich-geographische Muster soziologisch sinnvoll analysieren zu können, müssen deshalb zunächst einmal die topologischen Eigenschaften sozialer Räume besser verstanden werden. Diese Arbeit sammelt einige Vorüberlegungen zu einer zukünftigen Sozialtopologie. Von Niklas Luhmann stammt ein Verdikt, das als Provokation verstanden, den eigentlichen Anlaß unserer Arbeit hätte bilden können. Es lautet: "Soziale Systeme existieren nicht im Raum." Diese These läßt sich phänomenologisch relativ gut veranschaulichen. Sie scheint uns aber nur dann Sinn zu machen, wenn man unterstellt, der Raum sei ein Behälter. Angeregt durch die phänomenologische Kritik dieses vielleicht klassischen Raumbegriffs, haben wir uns auf die Suche nach einer soziologisch brauchbaren Alternative zum Behälterparadigma begeben. 5

Das erste Kapitel fragt nach den nur historisch zu erklärenden begrifflichtheoretischen Voraussetzungen, die es auch heute noch als fast selbstverständlich erscheinen lassen, wenn die Grenzen einer Gesellschaft mit territorialen Grenzen gleichgesetzt werden. Wir versuchen zu zeigen, daß dies zwar im Fall von vormodernen, segmentär oder hierarchisch differenzierten Gesellschaften noch relativ problemlos gelingen kann, aber im Fall der modernen Gesellschaft zu einer unzulässigen Identifikation von Nation und Gesellschaft führt. Spätestens mit dem Übergang zu funktionaler Differenzierung läuft der Versuch, die Grenzen und Strukturen der Gesellschaft territorial eindeutig zu fixieren, auf einen planimetrischen Irrtum hinaus. Auf die Frage, wie man aber statt dessen das unübersichtlich heterogene globale Beziehungsgeflecht von funktional, hierarchisch und segmentär differenzierten Systemeinheiten der modernen Gesellschaft begreifen soll, findet sich in der gegenwärtigen theoretischen Diskussion kaum eine überzeugende Antwort. Was sich mit relativ bescheidenen Theoriemitteln jedoch bereits zeigen läßt, stärkt die Vermutung, daß das Modell funktionaler Differenzierung kaum als evolutionär robust eingestuft werden kann. Im letzten Abschnitt des Kapitels wird gefragt, inwiefern die theoretisch problematische Identifikation von Gesellschaft und Nation eine historisch ungewöhnliche Publikumsbeteiligung am gesellschaftlichen Geschehen voraussetzt und was es damit auf sich hat. Das zweite Kapitel behandelt das Auflösungs- und Unterscheidungsvermögen von Beobachtern. Wenn soziale Systeme nur aufgrund eines bestimmten Selbstbildes, einer bestimmten Interpretation ihrer eigenen Geschichte, kurz: aufgrund von Selbstbeobachtung möglich sind, stellt sich die Frage nach dem Auflösungsvermögen solcher Beobachtung. Wir fragen zunächst nach dem Auflösungsvermögen der Soziologie selbst, um in Erfahrung zu bringen, warum deren Sensorium sich insbesondere für das Phänomen Kultur zu eignen scheint, während andere Bereiche des sozialen Geschehens vergleichsweise schlecht ausgeleuchtet und erfaßt werden. In einem zweiten Schritt konzentrieren wir uns dann auf die nicht auf Soziologie angewiesene Selbstbeobachtung unterschiedlicher Gesellschaften. Es soll dabei gezeigt werden, inwiefern sowohl die territoriale Ausdehnung als auch der jeweilige Zeithorizont oder das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft von den jeweils sozial verfügbaren Kommunikations-, Transport-, Speicher- und Wahrnehmungsmedien abhängt. Der Differenzierung von Kommunikation und Wahrnehmung kommt hier ein entscheidener Stellenwert zu. Die Gesellschaft als Ganze entzieht sich im Verlauf der Medienevolution zunehmend der individuellen Wahrnehmung und die über spezifische Medien laufende Kommunikation verhält sich tendenziell subversiv gegenüber einfachen territorialen Aus- und Eingrenzungsversuchen. 6

Im dritten Kapitel weichen wir ein wenig vom allgemeinen Kurs der Arbeit ab und widmen uns unter dem Titel `Topik und Topologie' einem weitverbreiteten Theoriebauverfahren der Soziologie. Hier geht es ausschließlich um abstrakte Räume ohne direkten geographischen Bezug. Es geht um zwei aufeinander aufbauende, aber in ihrer Struktur vom Fach kaum reflektierte Versuche, ein räumliches Modell des Sozialen zu konzipieren. Der erste Versuch einer solchen Konzeption entstammt der Rhetorik: es handelt sich um die Technik der Inventio. Der zweite Versuch ist in mehr oder weniger enger, zumeist aber wohl nur in metaphorischer Anlehnung an eine Darstellungstechnik der modernen Physik formuliert: Es handelt sich um das Konzept des Phasenraums. Dem Kapitel folgt eine Art dokumentarischer Anhang, der die starke Verbreitung des im Text diskutierten Theoriebauverfahrens belegen soll. Das vierte Kapitel bildet den theoretischen Kern der vorliegenden Arbeit. Hier geht es um das Verhältnis von Ordnung und Ortung und dessen Reflexion in verschiedenen soziologischen Theorien. Es werden zwei paradigmatische Raumbegriffe voneinander unterschieden. Der erste orientiert sich am Paradigma `Behälter', der zweite am Paradigma `Medium'. Der erste wird normalerweise als a priori gegeben behauptet. Er meint einen homogen, isotropen und metrischen Raum. Beim zweiten Paradigma ist der Raum immer nur der Raum eines bestimmten Systems. Er bildet dessen Medium und ist gewöhnlich inhomogen, anisotrop und diskontinuierlich. Das Behälterparadigma bildet einen Spezialfall des Medienparadigmas. Medien können einen Raum im Sinne des Behälterparadigmas Raum kompakt füllen, sie müssen dies aber nicht. Aus diesem Grunde erlauben Medien die Etablierung komplexer, nicht unmittelbar miteinander interferierender Kommunikationsbeziehungen, die den Grund für die modernitätstypische Unübersichtlichkeit bilden. In den letzten beiden Kapiteln widmen wir uns zwei Subsystemen der modernen Gesellschaft und den von ihnen jeweils strukturierten Räumen. Kapitel V handelt vom modernen Staat. Der moderne Territorialstaat wird mit gutem Grund häufig als ein "fiktiver Körper" thematisiert. Mit Hilfe des Mediums Macht läßt sich, wie diese Formel nahelegt, ein Raum auf vergleichsweise kompakte Weise füllen. Hier erfährt man warum. Das letzte Kapitel fragt nach der Lokalisierbarkeit von kontextsensitiven Gegenständen und einigen damit verbundenen logischen Problemen. Als Beispiel haben wir uns für das Medium Geld entschieden. Mit der Figur der "self-fullfilling prophecy" ist schon häufig auf einige Merkwürdigkeiten dieses Mediums hingewiesen worden. Diese Argumentation konzentriert sich aber gewöhnlich auf die Zeitdimension. Tragfähig wird sie aber erst, wenn die Akteure auch räumlich voneinander separiert sind und einander nicht kontrollieren können. Die vorliegende Arbeit summiert eine Reihe von Überlegungen, die im 7

Spannungsfeld einer längeren Beschäftigung mit dem Thema Nationalismus auf der einen Seite und den von George Spencer Brown aufgeschriebenen "Gesetzen der Form" auf der anderen Seite aufgetaucht sind, aber nicht so recht zusammenpassen wollten. Es soll nicht geleugnet werden, daß die Faszination, die diese Beschäftigung bis heute motiviert, sich einem wunderlichen Unverständnis verdankt. Wir liefern ein Zwischenergebnis. Eine vielversprechende Herausforderung für die weitere Arbeit scheinen uns Simulationsspiele in künstlichen und deshalb leicht zu manipulierenden Medien zu bilden. Zellulare Automaten - es handelt sich dabei gewissermaßen um computerisierte Brettspiele - können als solche Medien begriffen werden. Solche Automaten bieten ein ideales neues Experimentierfeld, um die Entstehung räumlicher Muster besser verstehen zu lernen, haben aber in der Soziologie bisher nur wenig Anklang gefunden. 2 Auf Fertigstellung dieser Arbeit drängten insbesondere, aber niemals wirklich unangenehm, Bernd Giesen und Jacob Heinemann. Regelmäßigen, über mehrere Jahre hinweg geführten Diskussionen mit meinem Doktorvater Bernd Giesen ist es zu danken, daß es sich bei diesem Text doch in weiten Zügen um eine soziologische Arbeit handelt und nicht nur um fixe Ideen oder kybernetisch inspirierte Esoterik. Für bis heute nicht beruhigte Irritationen sorgten vor allem einige frühe Literaturhinweise von Rolf Pixley. Lydia Karschies half mir bei der Korrektur. Auch ihnen beiden sei hier deshalb gedankt. Eine klarere Gliederung und weniger Arroganz bei den Formulierungen wünschte sich - vielleicht nach wie vor mit gutem Grund - Doris Heinemann. Zu stärkerer Linientreue und strengerer Theoriemonogamie mahnte mich Peter Fuchs. Größere Sorgfalt war, so schien es mir, das Anliegen von Wolfgang Schneider. Ich konnte nicht allen immer gerecht werden, trotzdem sei ihnen allen hier herzlich gedankt. 45ff. 2 Vgl. aber Casti, John L., Alternate Realities. Mathematical Models of Nature and Man, New York 1989, S. 8

I. Der planimetrische Irrtum "Where does a system stop?" 3 "Mit dem Ende des 18. Jahrhunderts nimmt die räumliche Integration eine verwirrende Gestalt an." 4 "Das Problem, die Grenzen des Systems der Gesellschaft anzugeben, seien es territoriale Grenzen, Grenzen personeller Zugehörigkeit, Grenzen der interagierenden Kultur oder was immer als Kriterium angeboten worden ist, ist bis heute nicht befriedigend gelöst worden." 5 "Bei alledem schwebt nun die `Gesellschaft' als vages Konstrukt über und zwischen den realen Erscheinungen." 6 "The prime example of obscurity is, of course, Talcott Parsons." 7 1. Gesellschaft als Nation? Die Alltagssprache stellt uns eine Vielzahl von Begriffen zur Bezeichnung sozialer Institutionen zur Verfügung, die in ganz typischer Weise immer einen doppelten Bezug haben. Begriffe wie Schule, Gericht, Büro, Arbeit, Zuhause, Vaterland usw. bezeichnen immer zugleich zweierlei. Sie stehen jeweils nicht nur für eine bestimmte soziale Institution, sondern bezeichnen gleichzeitig auch den Ort dieser Institution. Jemand ist zu Hause, in der 3 Burt, Ronald, "Applied Network Analysis: An Overview", Sociological Methods and Research, 7 (1978), S. 123-130, zit. nach Rogers, Everett M. / D. Lawrence Kincaid, Communication Networks, New York 1981, S. 104. 4 Leroi-Gourhan, Andre, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt/M. 1980, S. 422. 5 Luhmann, Niklas, Moderne Systemtheorie...; zustimmend zitiert bei Jürgen Habermas, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Eine Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann, in: Habermas, Jürgen / Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt/M. 1971, S. 150. 6 Tenbruck, Friedrich H., Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder die Abschaffung des Menschen, Graz 1984, S. 201. 7 Andreski, Stanislav, Social Sciences as Socery, London 1972, S. 60. 9

Kneipe, in der Schule, im Büro, auf dem Friedhof, im Freibad, auf der Arbeit, im Krankenhaus etc. Die in diesen Institutionen verkörperte soziale Ordnung meint immer zugleich auch eine bestimmte räumliche Ortung. 8 Versucht man sich eine der genannten Einrichtungen zu veranschaulichen, so drängt sich unserem Vorstellungsvermögen fast unweigerlich ein bestimmtes Gebäude (z. B. ein Gerichtsportal) oder ein spezifischer räumlicher Komplex (z. B. ein Wohnzimmer) auf. Die räumliche Verortung gibt dem Geschehen einen Rahmen, erlaubt es, einen Kontext zu identifizieren, ermöglicht Orientierung, erleichtert die Definition der Situation und stiftet dadurch Sinn. 9 Zweifellos aber gehen soziale Systeme nicht in ihrer räumlichen Verortung auf. Wenigstens hat es fatale Folgen, wenn man die räumliche Verortung sozialer Systeme im Sinne einer logischen Ausschließlichkeit zu verstehen sucht, als handele es sich um Dinge wie Bauklötze, die einen bestimmten Platz okkupieren und es dadurch unmöglich machen, daß etwas anderes an der selben Stelle stehen kann. Soziale Systeme scheinen sich teilweise in einer merkwürdigen Weise durchdringen zu können. Natürlich kann in einem Supermarkt eine Liebesaffäre beginnen, findet auch in der Industrie wissenschaftliche Forschung statt, kann man auch an der Theke ein religiöses Gespräch führen oder in einem Museum Geschäfte machen. Andererseits kann man aber auch mit ziemlicher Sicherheit unterstellen, daß in vielen sozialen Institutionen ein bestimmtes Verhalten "fehl am Platz" ist, denn sie sind "nicht der Ort dafür". 10 Die Korrelation von räumlichen und sozialen Strukturen ist zwar kaum zu 8 Michel Foucault spricht in diesem Zusammenhang von "Heterotopien". Vgl. ders., Andere Räume, in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, hrsg. von Karlheinz Barck et al., Leipzig 1990, S. 34-46, S. 39ff. Foucault führt den Begriff der Heterotopie in Unterscheidung zu dem der Utopie ein. Dieses Problem interessiert uns hier jedoch nicht weiter und wir werden dieser Wortwahl deshalb nicht folgen, kommen aber auf die Frage nach dem Verhältnis von Ordnung und Ortung im Kapitel IV ausführlich zurück. 9 Zu Rahmen und Situation vgl. Goffman, Erving, Frame Analysis. An Essay on the Organization of Experience, New York 1974; McHugh, Peter, Defining the Situation. The Organization of Meaning in Social Interaction, Indianapolis 1968. 10 Selbst bestimmte Versuche aus dem Rahmen zu fallen müssen sich deshalb wiederum rahmen und verorten lassen wollen, wenn sie auf Anschluß Wert legen. Dazu gibt es bekanntlich bestimmte soziale Sonderveranstaltungen, die wie der Karneval primär zeitlich, oder wie die Kunst primär räumlich begrenzt sind. Ein bestimmtes Verhalten wird als Theater identifizierbar, weil es auf einer Bühne stattfindet, ein Bild hebt sich von der Wand durch einen Rahmen ab, ein Gedicht braucht das ansonsten leere Blatt usw. "Es ist der leere Rahmen, der uns zum Sehen zwingt." Frisch, Max, Tagebuch 1946-1949, Frankfurt/M. 1985, S. 65. Aber der Gedanke läßt sich auch abstrakter plausibilisieren: George Spencer Brown abstrahiert sogar bis ins Ununterscheidbare und postuliert einen empty space als Grund aller Markierungen. Ders., Laws of Form, New York 1979. Ein Rahmen oder space muß implizit immer vorausgesetzt werden, ohne selbst je greifbar zu sein, denn er verwandelt sich, sobald man dies versucht. Die Welt schließlich, als der Horizont aller Horizonte, aber entzieht sich in der Welt eo ipso schon der Unterscheidbarkeit und der Mystiker ist deshalb zum Schweigen verurteilt. Aber auch dies hat natürlich seinen sozialen, sogar die Klosterarchitektur formenden Rahmen. Die Kunst beginnt mit dieser alltagsnotwendigen, Ordnung und Ortung verknüpfenden Unterscheidungstechnik zu spielen, wenn sie sich darauf kapriziert, aus dem Rahmen zu fallen. Das ist zuweilen 10

bestreiten, aber sie ist nur punktuell gegeben und scheint dabei einer eigenen Logik zu gehorchen. 11 Auch das Wort Gesellschaft wird gewöhnlich immer im Sinne eines bestimmten geographisch umgrenzten Machtbereichs gebraucht, deckt darüber hinaus aber noch eine Reihe weiterer Bedeutungsgehalte ab. Das Wort meint gewöhnlich z. B. immer auch eine bestimmte Kultur. Das führt insbesondere in Zeiten politischer Umwälzung zu einer typischen Vagheit bei der Bestimmung dessen, was dieser Begriff denn meint. Macht es z. B. heute (1992) noch Sinn, von Jugoslawien als einer Gesellschaft zu sprechen? Oder: wann genau hörte die Sowjetunion auf, eine Gesellschaft zu sein? Gibt es eine ost- und eine westdeutsche Gesellschaft? Selbst innerhalb der Soziologie hat der Terminus kaum den Status eines genau definierten theoretischen Begriffs, obwohl sich das Fach doch nach außen als Wissenschaft von der Gesellschaft darstellt. Wir möchten im folgenden kurz, anhand einiger Belege und knapper Verweise Revue passieren lassen, warum und in welcher Weise sich dieser Begriff einer scharf gefaßten Definition immer wieder entzog und entzieht, um zum Ende dieses Abschnitts zwei deutlicher theoretisch akzentuierte, alternative und unter modernen Lebensverhältnissen einander zunehmend ausschließende Begriffsdefinitionen vorzustellen. Im zweiten Abschnitt möchten wir das Problem einer kartographischen Projektion unterschiedlicher Differenzierungsformen behandeln, um sichtbar zu machen, inwiefern sich die Identifikation von moderner Gesellschaft und Nationalstaat einem planimetrischen Irrtum verdankt. Der dritte Abschnitt über lose und feste Kopplung fragt nach den verschiedenen Möglichkeiten, die Interdependenzen zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Subsystemen begreifbar zu machen, um darüber zu definieren, was eine Gesellschaft zusammen - oder ein riskantes, aber gerade deshalb ja schließlich auch reizvolles, also modernes Unternehmen. Der Gewinn der Überraschung ist aber immer nur kurz. Das Publikum lernt mit. Mit Verweis auf den Traditionalismus des Publikums kann Arnold Gehlen deshalb schreiben: "Die Übergänge vom Bild zum Nichtbild hielten sich letzten Endes doch innerhalb des Rahmens." Aber schon in der nächsten Zeile meldet er den Verfall: "Das hat sich nunmehr geändert." Ders., Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei, Frankfurt/M. 1986, S. 219. Auch Max Frisch zeigt sich diesbezüglich besorgt: "der Dichter, der die Rampe niederreißt, gibt sich selbst auf." Ders., a.a.o., S. 69. Von Spencer Brown inspiriert, könnte man aber sagen: solange noch so beobachtet werden kann, wird sich die Kunst nicht in Nichts auflösen, nicht spurlos im empty space verschwinden; solange noch so beobachtet werden kann, bleibt sie verortbar. 11 Darüber hinaus wandelt sich das Verhältnis von Ordnung und Ortung natürlich auch noch in Abhängigkeit von der Zeit. Bestimmte offizielle oder informelle Öffnungszeiten regeln beispielweise, was als akzeptables Verhalten gilt. Nachts treibt man sich nicht auf dem Friedhof herum, während der Öffnungszeiten darf auch das Bibliothekspersonal nicht laut lachen etc. Eine ähnliche, vielleicht sogar schärfere Verhaltenskontrolle fordert das direkte Beobachtetwerden durch andere, in der konkreten Situation jeweils anwesende Personen. Während einer Rede darf man nur mit einer von Peinlichkeit gezeichneten Miene den Saal verlassen, einem small talk mit zufällig getroffenen alten Bekannten kann man nur unter Vorspielung größter Eiligkeit aus dem Weg gehen etc. Wir werden die zeitliche Variabilität von Orts- bzw. Situationsdefinitionen im Folgenden jedoch weitestgehend außer Acht lassen. 11

besser: in Bewegung hält. Der vierte und letzte Abschnitt dieses Kapitels fragt, wie aus der Bevölkerung einer bestimmten, staatlich mehr oder weniger umfriedeten Region so etwas wie eine Nation oder ein Volk werden kann; es soll gezeigt werden, was es heißt, wenn dies gelingt, um auf die Schwierigkeit einer globalen Generalisierung dieser Art von nationbuilding aufmerksam zu machen. Die Soziologie folgt dem öffentlichen Wortgebrauch und setzt, wenn auch zumeist nur implizit, die Termini Gesellschaft und Nation oder Nationalstaat gleich. Der Soziologie gilt ein bestimmter Typ sozialer Systeme als Gesellschaft, nämlich segmentär von anderen ähnlichen Systemen differenzierte und kulturell legitimierte politische Systeme, kurz: Nationen. Auch empirisch wird Gesellschaft vorrangig in Form einer nationalen Besonderung Gegenstand der Forschung, ohne daß diese Option immer sichtbar gemacht wird. Nation und Gesellschaft scheinen auch für die Soziologie zumeist als Synonyme verwendbar. Soziologen verstehen oder gebärden sich zuweilen - soweit sie sich einem emphatischen Aufklärungsideal verpflichtet fühlen - als "Nationaltherapeuten", oder müssen sich dies wenigstens zuweilen vorhalten lassen. 12 Aber auch wenn sie sich nicht von oben herab ihrem Gegenstand nähern, sondern pragmatisch und allgemeinverständlich Gesellschaft zunächst einmal als "eine ärgerliche Tatsache" zu definieren suchen, so gewinnt auch hier dieses Ärgernis doch immer erst Kontur, wo es um ein bestimmtes Land geht. 13 Als Kollektiv- Singular bezieht sich der Begriff auf eine Vielzahl von räumlich spezifizierbaren einzelnen Gesellschaften: die amerikanische Gesellschaft, die indische Gesellschaft, die deutsche etc. Einher damit werden aber auch ganz unterschiedliche Gesellschaftstypen, wie Horden, Stämme, Reiche, Kastensysteme, Adelsgesellschaften, Klassengesellschaften etc. unter dem Begriff subsumiert. 14 Soweit aber heute von einer bestimmten Gesellschaft die Rede ist, ist üblicherweise ein moderner Nationalstaat gemeint, ein genau umrissener Ausschnitt auf der Landkarte. Die Soziologie gibt dem Terminus Gesellschaft gegenüber dem der Nation, des Staates oder des Nationalstaates den eindeutigen Vorzug. Er ist abstrakter oder doch zumindest unverdächtig und erlaubt es, die Ideenwelt der politischen Philosophie zwischen Hobbes und Rousseau, die sich in der Hauptsache auf Politik konzentrierte, durch eine stärker 12 Lübbe, Hermann, "Verdrängung - oder die Heilmethoden kritischer Nationaltherapeuten", in: ders., Zwischen Trend und Tradition. Überfordert uns die Gegenwart?, Zürich 1981, S. 22-37. 13 Insbesondere die Arbeiten von Ralf Dahrendorf dürfen hier als beispielhaft gelten: Ders., Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965; ders., On Britain, London 1982. 14 Vgl. z. B. Aberle, D. F. / A. K. Cohen / A. K. Davis / M. J. Levy / F. X. Sutton, "The Functional Prerequisites of Society", in: N. J. Demerath III und Richard A. Peterson (Hrsg.), System, Change, and Conflict, New York 1967, S. 317-331, S. 318: "...a society, such as a nation, tribe, or band...". 12

auf den Bereich der Wirtschaft ausgerichtete Kapitalismus-Analyse und -Kritik, wie sie zwischen Smith und Marx ausformuliert wurde, zu ergänzen. Erst während des 19. Jahrhunderts gewinnt eine Begrifflichkeit mit globaler Referenz langsam an Attraktivität: für Marx ist es der Weltmarkt, für Comte die Menschheit. Solche Konzeptionen konnten den Gesellschaftsbegriff jedoch nicht ersetzen, sondern führten allenfalls zu Irritationen. Die erst in den letzten Jahrzehnten entwickelte Theorie einer modernen, funktional differenzierten Weltgesellschaft akzentuiert diesen schon im 19. Jahrhundert virulent gewordenen Traditionsbruch und versucht gleichzeitig das Erbe der klassischen Gesellschaftheorien anzutreten. Für sie ist die moderne Gesellschaft Weltgesellschaft und das heißt: es gibt sie nur einmal. Diese Fassung des Gesellschaftsbegriffs scheint aber dem Fach gegenwärtig noch als zu abstrakt und farblos; sie ist nur im Hinblick auf einige Sonderprobleme attraktiv. Ohne selbst für den Begriff der Weltgesellschaft zu optieren, kann Friedrich Tenbruck deshalb mit gutem Recht - und leicht erzürnt - schreiben: "Praktisch jedoch wird fast immer die Bevölkerung eines Staates besinnungslos als eine Gesellschaft angesprochen". 15 Die Gleichsetzung von Gesellschaft und Nationalstaat fungiert zumeist nur implizit, d.h. ohne daß sich das Fach genau Rechenschaft darüber gibt. Das hat historische Gründe: Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wurde Gesellschaft immer als ein politisch verfaßter Herrschaftsverband im Sinne der Aristotelischen polis begriffen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wird der Gesellschaftsbegriff dann von Hegel im Anschluß an die schottischen Moralphilosophen und Ökonomen als Gegenbegriff zu dem des Staates entwickelt. Für den Liberalismus und den Sozialismus, den beiden großen Ideologien des 19. Jahrhunderts, wird dieser auf das wirtschaftliche Leben ausgerichtete Gesellschaftsbegriff vorherrschend. Gesellschaft wird jetzt nicht mehr als polis oder Leviathan begriffen, sondern erscheint als das "System der Bedürfnisse" - sei es als Kapitalismus oder als arbeitsteilige Industriegesellschaft. Mit dieser Verschiebung des Focus wird aber schließlich die Ausrichtung des Gesellschaftsbegriffs am Gegenbegriff des Staates konturlos und der Gesellschaftbegriff nur mehr rein utilitaristisch gefaßt. Die erst zum Ende des 19. Jahrhunderts entstehende Soziologie ist dann bestrebt, sich dem ideologisch festgefahrenen Streit zwischen den beiden Fortschrittsphilosophien Liberalismus und Sozialismus zu entziehen, indem sie den Bezugsrahmen des Utilitarismus verläßt. Als Antwort auf die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit sozialer Ordnung kann weder das Konzept des Leviathan noch das der invisible hand mehr überzeugen. Die Soziologie stellt deshalb auf Kultur um. Diese erneute Umstellung erlaubt es, auch die Negativseite der zuvor als 15 Tenbruck, Friederich H., Die Unbewältigten Sozialwissenschaften oder Die Abschaffung des Menschen, Graz 1984, S. 202. 13

Fortschritt gefeierten wachsenden Differenzierung zu thematisieren. Eine gemeinsame Kultur ist das, was eine Gesellschaft ausmacht. Sie perpetuiert sich über Sozialisation und Institutionalisierung und folgt einem eigenen Trägheitsprinzip. Mit diesen Konzepten war es der Soziologie möglich, sich dem utilitaristischen Dilemma zu entwinden, nun konnte Gesellschaft als eine Realität sui generis begriffen werden, eine Realität jenseits individueller Zugriffsmöglichkeiten, als überindividueller Zwang, als nicht-vertragliche Grundlage individueller Nutzenkalküle. `Gesellschaft' wird zur Kompaktformel für das, was psychologisch oder ökonomisch nicht mehr plausibel erklärt werden konnte. Der Gesellschaftsbegriff konvergiert um die Jahrhundertwende tendenziell mit dem Begriff der Kultur. 16 Die Soziologie wird Kulturwissenschaft, behält aber gleichzeitig den sozialstrukturellen Unterbau im Blick. Der Eindruck einer Verschiebung des Bedeutungsgehalts von Gesellschaft in den Bereich der Kultur - im Sinne eines gemeinsamen, symbolisch vermittelten Verständnishorizontes - wird schließlich bestätigt, wenn man sich vergegenwärtigt, daß es in den 20er und 30er Jahren nicht die geringste Schwierigkeit macht, im Kulturbegriff der britischen Sozialanthropologie wieder `die Gesellschaft' zu erkennen. Dieser über gemeinsame kulturelle Sinngehalte und Wertvorstellungen definierte Gesellschaftsbegriff gelangt schließlich in der amerikanischen Soziologie zur Vorherrschaft und bestimmt seitdem das Begriffsprofil des Fachs weltweit. Im Konzept der Nation werden soziale Differenzierung und kulturelle Integration der modernen Gesellschaft zusammengedacht. 17 16 Dies scheint auch dort der Fall zu sein, wo Gesellschaft primär als politischer Herrschaftsverband begriffen wird, also insbesondere bei Max Weber. Die Konvergenz der herrschaftssoziologischen und der normativkulturellen Begriffsbestimmung von Gesellschaft ist kein Zufall, sondern verdankt sich der Annahme, daß Herrschaft immer auf Legitimation angewiesen sei und Herrschaft und Kultur deshalb räumlich korrelieren müßten. Die Geltungsgründe sozial akzeptabler Gewaltsamkeit, wie sie insbesondere Max Weber untersucht und typisiert hat, bilden in dieser Sichtweise das kulturelle Fundament jeder Herrschaftsordnung. Gerade der Terminus Nation steht hier für die erstrebte oder schon realisierte, alle Klassen und Schichten übergreifende Koinzidenz von Herrschafts- und Kulturgebiet. Es darf aber bezweifelt werden, ob die von nationalen Bewegungen geforderte Deckungsgleichheit von Herrschaftsbereich und Kulturgebiet ein historisch universelles Motiv ist, mit dem Herrschaft unter Legitimationsdruck gesetzt werden kann. Insbesondere Hochkulturen waren bekanntlich nicht auf eine einheitliche Kultur angewiesen. Vgl. dazu Friedrich H. Tenbruck, Geschichte und Gesellschaft, Berlin 1986, S. 297ff. Auch die moderne Weltgesellschaft scheint mit einer Vielzahl heterogener und territorial segmentierter Kulturmuster kompatibel, obwohl darin unter bestimmten Umständen auch ein großes Konfliktpotential gesehen werden kann. 17 Aus dieser Perspektive scheint es zweckmäßig - so Bernhard Peters - "das `social system' mit der klassischen Vorstellung der modernen `Gesellschaft' als einer nationalstaatlich organisierten sozialen Entität zu identifizieren." Ders., Die Integration moderner Gesellschaften, Frankfurt/M. 1993, S. 162. (Die Anführungszeichen im Zitat machen vielleicht schon die Verunsicherung des Fachs gegenüber der eigenen Begrifflichkeit sichtbar; es ist nicht mehr ganz deutlich, ob Begriffe wie Gesellschaft, Volk, Kultur oder Nation die soziale Wirklichkeit begreifen helfen oder ihr selber nur entnommen sind. Aber diese Alternative ist irreführend und vermutlich geht beides. Die eigenen Begriffe tauchen als Zitate im Gegenstandsbereich wieder auf und die Arbeit am Begriff wird tendenziell reduziert auf eine Kombinatorik der Zitate.) 14

Die Soziologie folgt mit dieser Option zur Umgrenzung des für sie interessanten Gegenstandsbereich eng dem Selbstverständnis der jeweils betroffenen Individuen. Gesellschaft, Kultur, Volk und Nation können fast synomym verwendet werden. 18 Die Soziologie sitzt tendenziell - so könnte man überspitzt formulieren - dem Wir-Gefühl ihres Objektbereichs auf. Insbesondere die sozialanthropologisch inspirierte Forschung über Nationalcharaktere, die mit dem Zweiten Weltkrieg einsetzte und bis in die 60er Jahre hinein florierte, 19 macht deutlich, daß es dem Fach kaum gelang, auf Distanz zur Selbstinterpretation seines Gegenstandes zu gehen. Heute wirken diese Forschungen anachronistisch, das Thema Nationalcharakter ist passé. 20 Lediglich die populäre Japanologie scheint nach wie vor en vogue. Der Kultur im Sinne von Nationalkultur gilt zwar nach wie vor das Hauptinteresse der geisteswissenschaftlich ausgerichteten Soziologie, parallel dazu hat aber auch das Interesse an einer - häufig quantitativ und modelltheoretisch ausgerichteten - Analyse von Sozialstruktur und Institutionenbildung zugenommen. Globale Interdependenzen und Gemeinsamkeiten quer zu allen zumeist relativ kleinräumig organisierten Wir-Gruppen gelangen so zwangsläufig in den Blick. Gesellschaft und Kultur sind nicht notwendig deckungsgleich. Radcliff-Brown hat deshalb schon für die Sozialanthropologie betont, daß sich Gesellschaft nicht auf Kultur reduzieren läßt, sondern primär als Sozialstruktur, als "a complex network of social relations" begriffen werden müsse. 21 In bezug auf den räumlichen Aspekt sozialer Strukturen merkt Radcliffe-Brown an: "It is rarely that we find a community that is absolutely isolated, having no outside contact. At the present moment of history, the network of social relations spreads over the whole world, without any absolute solution of continuity anywhere. This gives rise to a difficulty which I do not think that sociologists have really faced, the difficulty of defining what is meant by the term `society'." 22 Schon die 18 Zu `Volk' vgl. z. B. Karl W. Deutsch: "Ein Volk ist demnach eine Gemeinschaft miteinander geteilter Meinungen, oder noch allgemeiner, eine Gruppe von Menschen, die ineinander verkettete Kommunikationsmethoden besitzen." Ders., Der Nationalismus und seine Alternativen, München 1972, S. 19 oder Edward E. Evans-Pritchard: "By `people' we mean all persons who speak the same language and have, in other respects, the same culture, and consider themselves to be distinct from like aggregates. (...) When a people is... politically centralized, we may speak of a `nation'." Ders., The Nuer, New York 1969, S.5. 19 Vgl. z. B. Mead, Margaret, National Character and the Science of Anthropology, in: Seymour Martin Lipset et al. (Hrsg.), Culture and Social Character, New York 1961, S. 15-26. 20 Vgl. aber als eine vorsichtige Gegenstimme: Dahrendorf, Ralf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965, (23. Abschnitt). 21 Radcliffe-Brown, A. R., On Social Structure, in: ders., Structure and Function in Primitive Society, London 1952, S. 188-204, S. 190. 22 a.a.o., S. 193. Das Argument trifft natürlich auch die Anthropologie selber, wenn sie kulturelle Einheiten über räumliche Nähe einzugrenzen sucht. "What anthropologists call a culture area is often nothing more than the spatial adjacency of the traits and complexes of the area in question", schreibt Pitrim Sorokin und vergleicht die Logik dieser Vorgehensweise mit dem Versuch, einen inneren Zusammenhang zwischen den zufällig auf 15

räumlich eingrenzende Identifikation primitiver Gesellschaften war problematisch, da Außenkontakte - und sei es die Ankunft des Anthropologen - zwangsläufig das soziale Netzwerk weiterknüpfen und dadurch auch das jeweilige kulturelle Selbstverständnis, wenn auch vielleicht nur marginal, modifizieren. 23 Ohne Zweifel ist das Unterscheidungsvermögen des Terminus Kultur nicht sehr scharf, er umfaßt alle symbolisch konstituierten Sinnbestände, von der Sprache über Rituale zu religiösen Deutungssystemen oder auch anders ausgerichteten Weltbildern; ebenso unbefriedigend aber scheint auch der Versuch, eine Gesellschaft durch ein oder mehrere soziale Netzwerke zu bestimmen, denn je nachdem, welche Arten von Beziehungen man dabei mit in Rechnung stellt, gelangt man zu beliebig großen oder kleinen Einheiten. 24 Postuliert man jedoch bestimmte Schwellenwerte - sei es im Sinne übergreifender kultureller Gemeinsamkeiten oder im Hinblick auf kommunikative Verdichtungen bestimmter Art, dann lassen sich beide Kriterien erfolgreich nutzen und können einander ergänzen. Erst bei einem bestimmten Grad großräumiger kommunikativer Verdichtung scheint kulturelle Homogenität unabdingbar und umgekehrt. Intensität der Kommunikation und Homogenität kultureller Symbolsysteme korrelieren positiv. 25 Ernest Gellner hat in diesem Zusammenhang auf einen entscheidenden Unterschied zwischen modernen und vormodernen Gesellschaften im Hinblick auf die Beziehung von Sozialstruktur und Kultur hingewiesen. "There is a kind of inverse relationship between the importance of structure and culture. In a highly structured society, culture is not indispensible. Where relationships are fairly well-known (because the community is small, and because the types of relationships are small in number), shared culture is not a precondition of effective communication." 26 Die sich durch ständige einem Müllplatz hinterlassenen Dingen feststellen zu wollen, nur weil sie nahe beieinander liegen. Ders., Causal-Functional and Logico-Meaningful Integration, in: Demerath III, N. J. und Richard A. Peterson (Hrsg.), System, Change, and Conflict, New York 1967, S. 99-113, S. 100. 23 Vgl. Moerman, Michael, Accomplishing Ethnicity, in: Turner, R. (Hrsg.), Ethnomethodology, Harmondsworth 1974, S. 54-68. Sharrock, Wes, On Owning Knowledge. In: Turner, Roy, a.a.o. 1974, S. 45-53. 24 Vgl. dazu: Knoke, David / James H. Kuklinski, Network Analysis, Beverly Hills 1982, S. 22ff. (Boundary Specification). 25 Wir schließen hier der Tendenz nach an Emile Durkheims These eines Zusammenhangs zwischen einem hohen Grad der Arbeitsteilung und organischer Solidarität an. Die von Durkheim selbst gelieferte Version dieser These läßt sich bekanntlich nicht ohne weiteres halten. Eine in unserem Zusammenhang aufschlußreiche und anschlußfähige Reformulierung und Spezifizierung der Durkheimschen Perspektive hat Peter M. Blau unternommen. Vgl. ders., Inequality and Heterogenity - A Primitive Theory of Social Structure, New York 1977, S. 160ff. 26 Gellner, Ernest, Nationalism, in: ders., Thought and Change, London 1964, S. 147-178, S. 154. 16

Wiederholung stabilisierenden sozialen Beziehungen orientieren sich an situativen Vorgaben und sind nicht auf explizite kulturelle Gemeinsamkeiten angewiesen. 27 Eine gemeinsame, homogene und standardisierte Kultur wird erst in der modernen Gesellschaft zwingend. "A very large proportion of one's relationships and encounters - in fact, they are more frequently encounters rather than relationships - are ephemeral, non-repetive, and optional. This has an important consequence: communication, the symbols, language (in the literal or in the extended sense) that is employed, become crucial. The burden of comprehension is shifted from the context, to the communication itself: when interlocutors and contexts are all unfamiliar, the message itself must become intelligible - it is no longer understood, as was the case in traditional societies, before it was even articulated - and those who communicate must speak the same language, in some sense or other." Kultur verkörpert sich in der Art und Weise, in der man kommuniziert, und kann in der modernen Gesellschaft einen ganz anderen Stellenwert für sich reklamieren. Soziale Inklusion hängt heute in entscheidender Weise von kultureller Kompetenz ab, und deren Standards sind auf nationalstaatlicher Ebene mehr oder weniger homogen. Der Einzelne ist gewissermaßen direkt Mitglied einer politischenkulturellen Gemeinschaft, ohne in andere Systeme, sei es eine Familie, ein Dorf, einen Stamm etc. eingebunden sein zu müssen. Eine feste sozialstrukturelle Einbindung ist nicht Voraussetzung für nationale Staatsbürgerschaft. Aber auch eher lose kommunikative Beziehungen brechen nicht an der Staatsgrenze ab, obwohl die Inklusionsvoraussetzungen zumeist in einem nationalstaatlich verfaßten Erziehungssystem erworben werden. Die moderne Gesellschaft wird nicht mehr primär durch "strong ties", sondern durch "weak ties", durch jene sozialen Beziehungen, die über den engen Kreis der Freunde, Verwandten und direkten Arbeitskollegen hinausgehen, integriert. 28 Die mit Notwendigkeit in Abhängigkeit von der Bevölkerungszahl wachsende Relevanz von weak ties läßt sich auch rein analytisch begründen, wenn man davon ausgeht, daß die Zahl der strong ties jeder einzelnen Person eine bestimmte Mindestgröße hat, aber aus Gründen der Zeit und der Aufmerksamkeit auch eine bestimmte maximale Größe nicht überschreiten kann, und die Zahl der Gesellschaftsmitglieder im Ganzen weit über dieser Zahl liegt. In einer solchen Gesellschaft können nicht mehr alle mit allen in gleicher Weise bekannt sein, da die Anzahl 27 Levi-Strauss berichtet sogar von einem brasilianischen Indianerstamm, der aus der Fusion zweier kleinerer Stämme entstanden war, ohne daß für deren wechselseitige Kooperation eine gemeinsame Sprache nötig schien. Vgl. Gellner, Ernest, a.a.o., 1964, S. 154. 28 So im Anschluß an die mittlerweile klassische Arbeit von Mark Granovetter, "The strength of weak ties", American Journal of Sociology 78 (1973), S. 1360-1380: Peter M. Blau, Inequality and Heterogenity - A Primitive Theory of Social Structure, New York 1977, S. 85. 17

der möglichen Beziehungen exponentiell mit der Bevölkerung wächst. 29 Clusterbildung ist eine mögliche Folge und diese Cluster oder Segmente sind dann nur noch locker miteinander verknüpft. Diese Cluster können dann für unterschiedliche Wir-Gruppen, unterschiedliche Kulturmuster oder unterschiedliche Habitusformen stehen. Eine hierarchische Verknüpfung wäre eine andere mögliche Beziehungsstruktur. Im Extremfall einer strikt hierarchischen Struktur (ein Baum im graphentheoretischen Sinn) ließen sich die einzelnen Positionen dieser Struktur nur noch mit Hilfe der Unterscheidung von Oben und Unten angeben, ohne jede Art von Verdichtungen als Voraussetzung für die Bildung von Wir-Gruppen. In beiden Fällen aber sind weak ties das einheitsstiftende Band, aber diese weak ties müssen nicht mehr unbedingt eine gemeinsame Wir-Gruppe oder Kultur definieren. Auch anhand von Bronislaw Malinowskis Arbeit über den Kula-Ring läßt sich zeigen, daß ein über das Selbstverständnis einer bestimmten Bevölkerung definierter Begriff von Gesellschaft nicht zur Deckung zu bringen ist mit all dem, was den Anthropologen, Ethnographen oder Soziologen interessiert. "The Kula is a form of exchange, of extensive, inter-tribal character". 30 Aber dieses komplizierte, periodische Geschenke-Tauschsystem, über das elf, auf unterschiedliche Inseln südlich von Papua Neu-Guinea verteilte Stammesgesellschaften miteinander verbunden sind, ist, wie Malinowski betont, den Betroffenen selbst in seiner globalen Funktionsweise gar nicht gegenwärtig. "They have no knowledge of the total outline of any of their social structure. They know their own motives, know the purpose of individual actions and the rules which apply to them, but how, out of these, the whole collective institution shapes, this is beyond their mental range. Not even the most intelligent native has any clear idea of the Kula as a big, organised social construction (...). Not even a partial coherent account could be obtained. For the integral picture does not exist in his mind; he is in it; and cannot see the whole from the outside." 31 Das Selbstverständnis der einzelnen im Kula-Ring miteinander verbundenen Gemeinschaften, die Malinowski als "slightly but definitely differing in culture" 32 charakterisiert, deckt sich, trotz des großen Interesses der Eingeborenen für die einzelnen mit diesem Ring institutionalisierten Sitten, nicht mit der durch den Ring etablierten Sozialstruktur. 33 Für 29 Vgl. Hallpike, Christopher Robert, The Principles of Social Evolution, Oxford: Clarendon Press 1986, S. 237-252 (social size). 30 Malinowski, Bronislaw, Argonauts of the Western Pacific, Illinois 1984, S. 81. 31 Malinowski, Bronislaw, a.a.o., S. 83. 32 Ders., a.a.o., S. 515. 33 Aus diesem Grund läßt sich der Kula-Ring auch hervorragend als ein Beispiel für eine spieltheoretische Erklärung der Evolution von Kooperation nutzen. Vgl. dazu: Ziegler, Rolf, The Kula: Social Order, Barter, and 18

Malinowski ist der Kula-Ring als eine primitive Form des "culture contact" und er nennt ihn eine "international affair". 34 Aufgrund einer ganzen Reihe ähnlich strukturierter Fälle hat insbesondere Robert Redfield den, mindestens während der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts dominanten Gesellschaftsbegriff der (britischen) Sozialanthropologie kritisiert und die Notwendigkeit betont, den "ways in which societies and cultures are not isolated and are not autonomous" stärkeres Interesse zu schenken. 35 Frederik Barth plädiert mit Verweis auf Strukturen wie den Kula-Ring dafür, den Gesellschaftsbegriff nicht zu einem "keystone of our conceptualization of all things social" zu machen. "Society is not the largest-scale system." 36 Die Frage ist nur, wie nennt man das largest-scale system dann? Die Frage ist für die Soziologie um so drängender, als sie sich in ihrer Gegenwartsanalyse ja nicht auf relativ isolierte Stammesgesellschaften bezieht, sondern zunehmend mit einer globalen sozialen Dynamik konfrontiert sieht, durch die der klassische Forschungsgegenstand der Anthropologie zum Untergang verurteilt scheint. Aber so wie Malinowski es vorzog, die Trobriander als Gesellschaft zu behandeln, zieht es die Soziologie heute noch vor, die Engländer, Franzosen, Brasilianer als Gesellschaften zu behandeln. Was über diese Größenordnung hinausgeht oder deren relative kulturelle Homogenität unterbietet, entzieht sich diesem Gesellschaftsbegriff. 37 Beide Termini - Gesellschaft und Nation - zielen in gewisser Weise auf das Substrat des Sozialen und scheinen sich gerade in ihrer Funktion als Grundbegriff einer klaren Cere monial Exchange, in: Michael Hechter et al. (Hrsg.), Social Institutions: their emergence, maintenance and effects, New York 1990, S. 141-168. Inwiefern der Faktor Kultur dabei ausgeschaltet werden kann, hängt aber wohl nicht zuletzt von der eigentlich nur konzeptionell und dann auch empirisch zu beantwortenden Frage ab, was Kultur ist und wieviel kulturelle Gemeinsamkeiten die einzelnen, im Kula -Ring verbundenen Gemeinschaften verbinden. Ziegler betont, diese Stämme seien "culturally, and especially linguistically heterogenous" (S. 142), während Malinowski das Gebiet, in dem der Kula-Tausch stattfindet, als kulturell "fairly homogeneous" (S.29) beschreibt. 34 Malinowski, Bronislaw, a.a.o., S. 515, S. 33. 35 Redfield, Robert, Societies and Cultures as Natural Systems, in: ders., Human Nature and the Study of Society, (hrsg. von Margaret Park Redfield), Chicago 1962, S. 121-141, S.131. 257f. 36 Barth, Frederik, Conclusions, in: ders., (Hrsg.), Scale and Social Organization, Oslo 1978, S. 253-273, S. 37 Auch der Begriff `Zivilisation' verspricht hier keine Abhilfe. Die primär über Städtebau und Schriftkultur definierten Zivilisationen umfassen zwar üblicherweise mehrere Gesellschaften, aber der Begriff der Zivilisation kann selber nicht den der Gesellschaft ersetzen und empfiehlt sich nicht um das `largest-scale system', nach dem Frederik Barth fragt, zu bezeichnen. Er empfiehlt sich insbesondere deshalb nicht, weil der Gegenbegriff zu `Zivilisation' `Barbarei' ist. Aber auch die Barbaren leben - an der Peripherie der Zivilisation - natürlich in Gesellschaft. Um die Unterscheidung von Zivilisation und Barbarei machen zu können, muß der Kontakt bereits hergestellt sein und das `largest-scale system' ist damit automatisch schon wieder größer als das mit dem label `Zivilisation' markierte Gebiet. 19

theoretischen Bestimmung zu entziehen. Komparativ - im historischen und geographischen Vergleich - gewinnen die Begriffe Kontur, ohne daß das tertium comparationis dabei genau angegeben werden kann. Eine Gesellschaft wird primär durch das charakterisiert, was sie von anderen Gesellschaften unterscheidet. Jenseits dieser räumlich und zeitlich lokalisierten Unterschiede - als Individuum oder abstraktes Substrat - ist eine Gesellschaft konturlos. 38 In Adam Fergusons einflußreichem "Essay on the History of Civil Society" von 1767 wird dies z.b. ganz deutlich: Nationen sind das Substrat der Geschichte, die als Progreß von rude zu polished nations präsentiert wird. Auch Adam Smith begreift seine Untersuchungseinheiten als Nationen, was schon im Titel seines Hauptwerkes sichtbar ist: "An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations". Daß sich Nationen nicht nur aufgrund von naturalen Gegebenheiten klimatischer, geographischer und - modern gesprochen - biologischgenetischer Art herausbilden, sondern sich in weit größerem Maße einer durch Religion und Recht bestimmten Vergangenheit und einem durch Krieg und Handel bestimmten Umfeld verdanken, ist dem 18. Jahrhundert, also z. B. Autoren wie Ferguson oder Montesquieu, selbstverständlich. Die Nation ist in diesem Sinne von der Aufklärung nie als eine in sich geschlossene Einheit oder Monade begriffen worden. Was sie zu einer Einheit macht, ist jeweils die besondere politische Verfassung und nicht unbedingt getrennt davon ihr jeweiliges Selbstverständnis, ihr National-Geist. Diese Selbstbeschreibung und ihr dadurch mitgeformter oder überhaupt auch erst sichtbar gemachter Gegenstand ist immer auch anders möglich, ist geschichtlich kontingent und durch Zufälle, Gelegenheiten und Unverfügbares geprägt. Er läßt sich deshalb auch nur durch eine Geschichte erfassen und macht das so Beschriebene dadurch zu einem durch diese Geschichte verstrickten Individuum. So wundert es denn auch nicht, daß eine soziologisch reflektierte Gesellschaftsgeschichte auch heute noch als Geschichte einer zumeist nationalstaatlich definierten Region geschrieben werden kann. Der nur geschichtlich zu begreifende National-Geist - heute würden wir von Mentalität, Habitus oder Kultur sprechen - und damit die Eigenart einer Nation, verdankt sich - und auch das läßt sich bei Ferguson, Smith oder auch Herder nachlesen - der Täuschung und Selbsttäuschung, dem Vorurteil und der Selbstüberschätzung. Die menschliche Natur - so 38 Parsons war vermutlich der wichtigste Theoretiker unseres Jahrhunderts, der sich - jenseits komparativer Analysen - für einen allgemeinen, analytisch ausgerichteten Gesellschaftsbegriff stark gemacht hat, um damit - gewissermaßen direkt - auf das Substrat des Sozialen zu zielen. Dieser Abstraktionsschritt - der natürlich alle strukturalistischen und systemtheoretischen Unternehmen charakterisiert - muß sich jedoch unweigerlich mit folgender, häufig variierter Kritik arrangieren: "The trouble with Parsons is, and it is a pervasive trouble with much of modern thinking, he is so intent on bringing out the general characteristics of societies that whenever he portrays any individual society we are left merely with general features that are applicable as well to any number of other societies. We of course know that a woman we love is a female and shares many characteristics in common with other females; however, it is not females we love but this sepcific woman." Bershady, Harald J., Ideology and Social Knowledge, Oxford 1973, S. 13f. 20