Jens Sacher Interpretieren Sie die Szene IV, 4 aus Johann Wolfgang von Goethes Drama Iphigenie auf Tauris. Ordnen Sie hierzu den Inhalt der Szene in den Dramenkontext ein und analysieren Sie das Gesprächsverhalten der beiden Personen. Berücksichtigen Sie dabei auch die sprachlich-stilistische Gestaltung. Zeigen Sie ebenso auf, inwiefern an der Szene Aspekte des klassischen Menschenbildes aufgezeigt werden können. Die Zeit der Weimarer Klassik zeichnet sich durch die Rückbesinnung auf die astethischen Ideale der Antike aus. Inspiriert durch seine Italienreise im Jahre 1786 übernahm Johann Wolfgang von Goethe Vorstellungen der Antike und gilt seitdem als Begründer der Epoche, die er zusammen mit Wieland, Herder und Schiller bis dem Tod des letztgenannten im Jahre 1805 anführen sollte. Die schöne Seele, bei der sich Handeln, Pflicht und Neigung im Einklang befinden, stellte zusammen mit der Humanität und der Harmonie innerhalb der Gesellschaft die Hauptthematik dieser Epoche dar. Noch im Jahr seiner Reise verfasste Goethe das epochale Vorzeigewerk Iphigenie auf Tauris, das dem thematischen Stoff des Dramas Iphigenie bei den Tauern von Euripedes aus dem Jahre 416 v. Chr. zugrunde liegt. Der zeitlose Konflikt zwischen pragmatischem und sittlichem Handeln, einer der Themenschwerpunkte des Stückes, spiegelt sich besonders deutlich in der Szene IV, 4 wieder. Diese Szene soll nun im folgenden interpretiert werden. In diesem Handlungsabschnitt treten sowohl die Hauptperson und Priesterin Iphigenie wie auch der Freund ihres Bruder, Pylades, auf. Dieser teilt Iphigenie mit, dass ihr Bruder Orest, der noch kurz zuvor an Halluzinationen litt, sich wieder beruhigen konnte und bei Sinnen sei. Außerdem verkündet er die Nachricht, dass sie ihre Gefährten zusammen mit ihrem Schiff in einer Bucht gefunden hätten. Einer möglichen Flucht stünde also nichts mehr im Weg, allerdings sollte nicht mehr allzu
viel Zeit verloren werden. Für Iphigenie bedeutet diese Information also einen weiteren Druckfaktor. Als er bereits den Weg zum Schiff antreten will, eröffnet ihm Iphigenie, dass Thoas sie in absehbarer Zeit aufsuchen wird, um den Sachverhalt des verschmutzen Bildes selbst zu überprüfen. Außerdem vermittelt sie Pylades erneut ihre Bedenken am dessen Fluchtplan. Zwar versucht dieser sie wiederholt umzustimmen, in dem er ihr den Ernst der Lage vor Augen führt, jedoch ohne nennenswerten Erfolg. Iphigenie soll ihnen weitere Zeit verschaffen, indem sie Thoas belügt. Bei Iphigenie auf Tauris handelt es sich wie bereits erwähnt um ein Drama klassicher Art in geschlossener Form, dessen Struktur mit der von Gustav Freytag beschriebenen pyramidalen Bau größtenteils übereinstimmt. Die behandelte Szene ist Teil des 4. Aktes. Die Handlung des Bühnenstückes nähert sich merklich dem Ende, doch die Spannung wird durch ein retardierendes Moment nochmals zusätzlich gesteigert. In der vorrausgegangenen Handlung hat Iphigenie, so wie es Pylades ihr aufgetragen hatte, dem königlichen Diener Arkas mitgeteilt, dass das Bild der Göttin Diane verschmutz sei, so dass eine Opferung, wie Thoas sie nach seinem gescheiterten Heiratsantrag an Iphigenie wieder wünscht, nicht möglich sei. Sie müsse es zunächst am Meer säubern. Arkas misstraute ihr allerdings, sodass er den König Thoas informierte, auf dessen Ankunft Iphigenie wartet, als Pylades auftaucht. Außerdem hat Sie in einem Monolog direkt vom Pylades Ankunft ihren unbedingten Willen zur Wahrheit bekräftigt. Der Konflikt zwischen pragmatischem und sittlichem Handeln im Allgemeinen, bzw. die Abwägung zwischen Lüge und Wahrheit im Speziellen, stellt die Hauptthematik der Szene 4, 4 des Werkes dar. Außerdem wird auf die natürliche, geschlechtsspezifische Interpretation dieses seit jeher bestehenden Konflikts
eingegangen. Iphigenie agiert dabei als das ideale Menschenbild der Klassik, die sogenannte schöne Seele. Sie löst den Konflikt durch ihre sittliche Vollkommenheit und ihre bedingungslose Menschlichkeit. Ihre einzige Waffe, derer sie sich bedient ist hierbei die des Wortes, sie handelt also friedlich. Genau darin sieht die Klassik die Stärken der Frau, im Gegensatz zu der von Leidenschaft geprägten Welt der Männer, die sich durch Krieg, Gewalt und Betrug auszeichnet. Nun sollen die Gesprächsstrategien sowie der Gesprächsverlauf unter Berücksichtigung der sprachlich-stilistischen Mitteln im Mittelpunkt stehen. Zunächst einmal wird die Person der Iphigenie genauer betrachtet. Die Gesprächsziele Iphigienies sind anfangs nicht eindeutig definierbar, da sie sich selbst noch in einem Entscheidungsprozess befindet. Zwar hat diese feste Prinzipien, zu denen unter anderem das sittliche Handeln zählt, doch sieht sie sich durch die Notlage ihres Bruders zum Überdenken dieses Prinzips genötigt. Das sie mit ihrer Entscheidung ringt zeigt sich als sie sagt: Fast überredst du mich zu deiner Meinung. (V. 1665) Sie versucht jedoch Pylades ihre Bedenken näher zu bringen, sowie ihn davon zu überzeugen, dass auch die Wahrheit, also ein klärendes Gespräch mit Thoas einen Lösungsweg darstellen könnte. Sie zweifelt an der moralischen Korrektheit einer unangekündigten Flucht von der Insel Tauris. Zum einen, weil sie dadurch die Verantwortung für zukünftige Opferungen auf sich nehmen müsste, zum anderen, weil sie während der Zeit, die sie auf der Insel verbracht hat, eine emotionale Beziehung zu König Thoas aufgebaut hat, der sie bei ihrer Ankunft auf der Insel entgegen der Tradition nicht der Göttin Diane hat opfern lassen. Diesen Mann, der ihr kurz zuvor noch einen Heiratsantrag gemacht hat, will sie nicht verletzen. Dies versucht Iphigenie Pylades mitzuteilen, als sie von de(m) König, der (ihr) zweiter Vater wurde, spricht, den sie nicht teuflisch (...) betrügen und berauben möchte(v. 1641f). Damit würde Iphigenie ihr Herz (...) befriedig(en), welches sich
ihrer Meinung nach nur (g)anz unbefleckt genießt (V.1648 u. 1652). Im folgenden sollen Iphigenies Gesprächsstrategien erörtert werden. Um ihr Ziel zu erreichen, versucht sie Pylades ihre moralische Bedenken näher zubringen, indem sie ihm mit großer Offenheit begegnet. So verheimlicht sie es ihm nicht, als sie sich selbst nicht mehr sicher ist.(vgl. V.1665) Dies zeigt zugleich, dass die keinesfalls überlegt, sondern primär gefühlsorientiert argumentiert. Sie versucht Pyaldes dazu zu bewegen, sich in sie hineinzuversetzen: du tätest selbst (e)in solches Unrecht keinem Mann gelassen, (d)em du für Wohltat dich verpflichtet hieltest. (V. 1669ff) Auf die Argumente Pylades lässt sie sich ein und hat meist auch eine passende Antwort parat, wie beispielsweise eine Reihen von Stichomythien aus Sentenzen zeigt(vlg V.1643-1652). Die Sprache Iphigenies lässt sich, ihrem Stand entsprechend als sehr gewählt beschreiben. Um ihren Argumenten Nachdruck zu verleihen, bezieht sie regelmäßig Personifikationen in ihre Ausführungen mit ein. So spricht sie beispielsweise von der Lippe, die so (g)utes spreche, von einem schweigende(n) Verweis oder einem männlich Herz, dass einen kühnen Vorsatz hegt (V.1547,V.1572,V.1677f). Durch das Verwenden dieses stilistischen Mittels wird ihre seelische Zerrissenheit deutlich glaubwürdiger. Einen ähnlichen Effekt bewirken auch die verwendeten Metaphern: (I)n den Mund gelegt, die Seele, die Seele die sich, (w)ie (...) die Blume nach der Sonne, nach dem Toste wendet, sowie die Sorge, die sich (w)ie leichte Wolken vor (die) Sonne, vor die Seele zieht sind Beispiele hierfür(v.1574, V.1620ff,V.1635f). Im nun Folgenden soll mit Hilfe der gleichen Kriterien das Gesprächsverhalten Pylades untersucht werden. Für diesen stellt sich die Situation, vom rationalen Standpunkt aus betrachtet, nahezu gelöst dar. Einer baldigen Flucht mit dem Bild der Göttin Diane steht demnach nichts mehr im Wege. Doch er sieht die Gefahr, dass ein strenges befolgen moralischer Maßstäbe, wie Iphigenie es fordert, in einem Unglück
enden könnte, weshalb er dies verhindern will. Um Iphigenie dies vor Augen zu führen, verwendet er gezielt schockierende Begriffe wie schlachte(n) (V. 1643). Dies würde nämlich nach Meinung Pylades möglicherweise Iphigenies Bruder Orest bevorstehen, wenn man nicht schnellstmöglich die Flucht antritt. Außerdem versucht er ihr zu vermitteln, dass es realistisch betrachtet nur eine mögliche richtige Entscheidung gibt: Braucht s Überredung, wo die Wahl versagt ist? Den Bruder, dich und einen Freund zu retten, (i)st nur ein Weg; fragt sich s, ob wir ihn gehen? (V.1666f). Im weiteren teilt er ihr mit, dass sie für den Fall, dass sie zu Grunde gehen, die Verantwortung tragen müssten(v.1672). Zwar geht er auf die Argumente Iphigenies ein, kann sie jedoch nicht ganz nachvollziehen und teilen. Pylades Argumentation wirkt wesentlich durchdachter als die seines weiblichen Pendants. Auch die Sprache Pylades weist auf einen höheren Gesellschafts- und Bildungsstandes hin. Er versucht ebenfalls durch Personifikationen seine Ausführungen zu mehr Nachdruck zu verhelfen. (K)luge Worte und die Furcht, die mit der Gefahr (e)in enges Bündnis eingeht sind Beispiele hierfür.(v.1569,v.1638). Damit möchte er Iphigenie dazu ermutigen eine pragmatische Entscheidung zu treffen. Diese Szene zeigt wie fast keine andere den Konflikt in dem sich Iphigenie befindet. Zwar will sie Thoas nicht enttäuschen und auch nicht für zukünftige Opferungen verantwortlich sein, doch möchte sie auch das Überleben ihres Bruders sichern. Schlussendlich ringt sie sich zu Wahrheit durch, was zu einem nahezu perfekten Ende führt. Sie hat also aus ihrer Neigung heraus sich für den richtigen Weg entschieden.
Gliederung 1. Informationen zu Autor, Zeit und Werk 2. Interpretation der Szene IV,4 aus Johann Wolfgang von Goethes Werk Iphigenie auf Tauris Inhalt der Szene Einordnung der Szene in den Kontext Zuordnung zur Struktur des Dramas nach Gustav Freytag Vorausgehende Entwicklung Thematische Bedeutung der Szene Gesprächsstrategien und Gesprächsverlauf unter Berücksichtigung der sprachlich-stilistischen Mittel Gesprächsverhalten Iphigenies Gesprächsziele Gesprächsstrategien Sprachliche Gestaltung Gesprächsverhalten Pylades Gesprächsziele Gesprächsstrategien Sprachliche Gestaltung 3. Bedeutung der Szene und Ausblick auf die folgende Handlung