KULTUSMINISTERIUM DES LANDES SACHSEN-ANHALT SCHRIFTLICHE ABSCHLUSSPRÜFUNG 2003

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Transkript:

KULTUSMINISTERIUM DES LANDES SACHSEN-ANHALT SCHRIFTLICHE ABSCHLUSSPRÜFUNG 2003 DEUTSCH (A-Kurs) Einlesezeit: Bearbeitungszeit: 30 Minuten 210 Minuten Es werden fünf Themen zur Auswahl gestellt. Ein Thema ist zu bearbeiten. Hinweis: Das Material für die Themen 2 und 3 ist identisch.

1 Thema 1 Handy ist trendy Die Redakteure einer Schülerzeitung planen die Veröffentlichung eines Artikels zu diesem Thema, dazu liegen verschiedene Aussagen vor. Formulieren Sie den Artikel unter einer entsprechenden Schlagzeile! Setzen Sie sich dabei mit vorliegenden Meinungen erörternd auseinander! Verdeutlichen Sie Ihren Standpunkt! Thema 2 Birol Denizeri: Das verlorene Gesicht Interpretieren Sie den Text! Legen Sie dar, wie Saniyes Weg in die Integration verläuft! Gehen Sie in Ihrer Darstellung vom Schlusssatz aus! Thema 3 Birol Denizeri: Das verlorene Gesicht Versetzen Sie sich in folgende Situation: Im Deutschunterricht erhalten die Schülerinnen und Schüler die Aufgabe, eine Selbstanalyse zu verfassen. Saniye wählt dasthema: Ich bin ich wirklich?. Schreiben Sie Saniyes Aufsatz! Thema 4 Friedrich Schiller: Wilhelm Tell. Ein Schauspiel [Auszug] Der tyrannische Landvogt Gessler lässt auf einer Wiese bei Altdorf in der Schweiz eine Stange mit einem Hut aufstellen. Jeder soll den Hut grüßen und damit der Obrigkeit Gehorsam zeigen. Wilhelm Tell, der seine Freiheit über alles stellt, verweigert den Gruß, als er mit seinem Sohn Walter an dem Hut vorbeigeht. Da wird er von Gessler zur Rede gestellt. Interpretieren Sie den Textauszug! Untersuchen Sie dabei, wie Spieler und Gegenspieler den Konflikt austragen! Deuten Sie die Motive der Figuren! Thema Theodor Fontane: Herr Ribbeck auf Ribbeck im Havelland oder Margarete Hannsmann: Landschaft Interpretieren Sie eines der vorliegenden Gedichte.

Material zu Thema 1 Handy ist trendy? Handybesitz Jugendlicher zwischen 12 19 Jahren 1999 2000 2001 14 % 49 % 74 % 2 (nach einer Studie von 2001) Aus Zeitungen notiert In Deutschland piept s: In der Bundesrepublik besitzen Millionen Bürger ein Handy. Und das ist nicht nur zum Telefonieren gut. Mit Handys kann man SMS verschicken, spielen oder einfach nur angeben. Es sieht gut aus, wenn man geschäftig ein Handy ans Ohr hält. Auch unter Kindern und Jugendlichen macht sich mehr und mehr die Handy-Manie breit. Gerade, wer sozial am Rande steht, kann sich oft nur über Äußeres definieren. Wir haben einfach eine Handy-Kultur, die nicht wegzudenken ist. Und so komisch das auch klingt: Die Jugendlichen brauchen diese Dinger, um nicht in eine soziale Isolation zu geraten. Dafür nehmen sie selbst Schuldenberge in Kauf. Auf dem Schulhof aufgeschnappt Michael: Astrid: Maik: David: Robert: Anika: Kerstin: Nicole: Maik: David: Anika: Ich habe einmal erlebt, dass sie einen Busfahrer zusammengeschlagen haben, ein Fahrgast hatte ein Handy und konnte Hilfe holen, das war okay. Ich bin Handygegner. Ich finde, niemand kann so wichtig sein, dass er immer erreichbar sein muss. Bei vielen ist das eine ziemliche Angeberei. Ich denke, das Handy ist ein Status-Symbol, ein Zeichen von Wohlstand, wie ein Auto, wie Markenklamotten, man gehört dazu. Ich schalte mein Handy oft aus, dann haben meine Eltern keine Kontrolle über mich. Mein Handy ist immer an. Mich stört es nicht, wenn meine Mutter anruft, vor allem, wenn ich etwas vergessen habe. Bei manchen klingelt dauernd das Telefon. Das nervt. Ich finde, das Handy bringt was für bessere Kommunikation, weil ich viel besser erreichbar bin, ich spare Zeit, kann mich gezielter mit Freunden treffen. Ich hatte vielleicht eine Handyrechnung diesmal, 0, da hatte ich Stress zu Hause. Mein ganzes Taschengeld geht dafür drauf! Handy, das macht wirklich süchtig, ich schreibe sofort zurück, wenn ich eine SMS bekommen habe. In jeder freien Minute spiele ich, bei mir ist Gameboy out und Handy in. Auf mein Handy würde ich nie verzichten, ich will doch nicht der totale Outsider sein! Und wenn ich mal Schulden mache, na und?... Meine Rechnung bezahlt mein Vater.

3 Material zu Thema 2 sowie zu Thema 3 Birol Denizeri: Das verlorene Gesicht (Bearbeitete Fassung) 10 1 20 2 30 3 40 4 Saniye ist 1 Jahre alt und geht noch in die Schule. Sie hat zwei Brüder. Ihre Eltern sind sehr stolz auf ihre Tochter, weil sie ein fleißiges und braves Mädchen ist, wie sie sagen. Saniye weiß, was ihre Pflichten sind. Wenn sie nach der Schule heimkommt, wäscht sie zuerst das Geschirr, dann bereitet sie das Abendessen vor. Wenn sie damit fertig ist, lernt sie noch für die Schule. An den Wochenenden hat die Familie meistens Besuch. Saniye muss dann die Tür öffnen und die Gäste hereinbitten. Danach verschwindet sie für eine Weile in der Küche, um den Tee vorzubereiten. Wenn die Gäste bewirtet sind, setzt sie sich neben ihre Mutter und strickt an einem Pullover weiter. Saniye hat respektvoll neben den Eltern zu sitzen und darf sich weder in das Gespräch der Erwachsenen einmischen noch ihnen widersprechen. Viele der Besucher kommen aus dem gleichen Dorf wie Saniye. Sie erinnert sich, dass sie die Menschen dort gehasst hat, ohne zu wissen, warum. Als sie noch ein kleines Mädchen war und man sie fragte, woher sie käme, sagte sie immer, aus Istanbul 1). Dabei stimmte das gar nicht. Sie wusste, dass es eine Lüge war, versuchte sich deshalb einzubilden, sie käme wirklich aus Istanbul. Eine Zeit lang glaubte sie tatsächlich daran. Dann aber kamen die Ferien, und sie musste mit ihren Eltern wieder nach Anatolien 2) in ihr Dorf fahren. Die Menschen dort mochten Saniye sehr. Sie grüßten stets freundlich, fragten, wie es ihr ginge, luden sie auch zu sich ein und verwöhnten sie mit allerlei Speisen. Aber Saniye hasste alle und wollte am liebsten nichts mit ihnen zu tun haben. Einmal machte Saniye eine sehr wichtige Entdeckung. Sie erkannte, dass sich die Leute dort wirklich füreinander interessierten. Es war ihnen nicht gleich, was mit dem anderen geschah. Sie feierten ihre Hochzeiten gemeinsam, verstarb jemand, dann war das Dorf ganz still. Nur in dem Haus des Toten versammelten sich die Frauen aus dem ganzen Dorf und trauerten gemeinsam. Als Saniye an einem solchen Tag die Frauen weinen hörte, hatte sie plötzlich ein Gefühl, das sie irgendwie rührte. Danach hasste Saniye diese Leute nicht mehr. In Deutschland betonte sie immer wieder, dass sie aus einem kleinen anatolischen Dorf stamme. Saniye kam mit sechs Jahren zu ihren Eltern nach Deutschland. Obwohl sie keine Sprachkenntnisse besaß, musste sie gleich eine deutsche Klasse besuchen. Sie saß ganz allein auf der letzten Bank, weil keiner neben ihr sitzen wollte. Es spielte auch niemand mit ihr. In den Pausen versteckte sie sich, denn sie fürchtete sich vor ihren Klassenkameraden, die sich über sie lustig machten und bedrohten. Saniye verließ immer als Letzte die Schule, weil einige Jungen aus ihrer Klasse sie auf dem Heimweg oft belästigten. Manchmal wurden sie auch handgreiflich, einmal wurde sie sogar verprügelt. Saniye fiel auf den Boden. Als sie merkte, dass ihre Nase blutete, lief sie erschrocken nach Hause. Daraufhin beschwerte sich ihr Vater beim Direktor. Ihm wurde mitgeteilt, dass er seine Tochter in eine Sonderschule schicken könne, wenn sie sich bei ihnen nicht wohlfühlte. Die Kinder erzählten in der Klasse, Saniye sei eine Petze. Die Lehrerin zwang sie, sich bei der Klasse zu entschuldigen. Nachdem sie sich entschuldigt hatte, sagte die Lehrerin zu ihr:»du hast dich heute ein bisschen integriert 3).«An jenem Abend plagten Saniye furchtbare Albträume. Sie sah viele Hände, die keinen Körper hatten. Es waren bloß Hände. Diese Hände griffen nach ihrem

0 60 6 70 SCHRIFTLICHE ABSCHLUSSPRÜFUNG 2003 4 Gesicht. Sie konnte sich gegen sie nicht wehren. Die Hände griffen nach ihrem Gesicht und rissen immer ein Stück Fleisch ab. Zurück blieben viele Wunden, die bluteten. Als sie von diesem Albtraum aufwachte, weinte sie und hatte lange nicht den Mut, ihr Gesicht im Spiegel anzuschauen. Saniye hasste ihre Klasse. Sie lernte wie eine Besessene und schaffte es schließlich, nach der vierten Klasse auf ein Gymnasium. Dann fing sie an, sich zu integrieren. Sie sprach inzwischen sehr gut Deutsch und fragte sich oft, ob man es merke, dass sie eine Ausländerin sei. Sie begann die Mädchen in ihrer Klasse zu imitieren 4). Sie kopierte ihre Bewegungen, ihre Ausdrücke, ihre Gesten. Sie stellte dann mit Zufriedenheit fest, dass sie bei ihren Mitschülern anerkannt wurde. Sie war sehr glücklich darüber, nur dann, wenn sie sich über die Ausländer lustig machten, war Saniye traurig. Ihre Albträume häuften sich. Immer wieder sah sie Hände, die ihr Gesicht abrissen. Als sie nach einigen Jahren über die Kanakenwitze ) mitlachen konnte, hatte sie ihren letzten Albtraum. Man ließ ihr kein Stück Gesicht mehr übrig. Sie war jetzt vollkommen integriert. Saniye fährt jeden Tag mit der Straßenbahn in die Schule. Sie trägt ein Kopftuch und meistens eine lange Weste. In der Straßenbahn zieht sie die Weste aus und legt das Kopftuch ab und steckt beides in ihre Schultasche. Wenn sie aussteigt, dann heißt sie nicht mehr Saniye, sondern Sanje. Ihre deutschen Freunde sagen zu ihr Sanje. Sanje geht meistens mit ihrer Clique aus, sie ist ein aufgeschlossenes Mädchen und unter Freunden sehr beliebt. Wenn ein türkischer Nachbar sie unter Deutschen sieht, erkennt er sie nicht wieder. Nur eines haben Saniye und Sanje gemeinsam: Sie beide suchen ihr verlorenes Gesicht. 1) Istanbul: türkische Großstadt 2) Anatolien: asiatischer Teil der Türkei 3) integrieren: eingliedern 4) imitieren: nachahmen ) Kanake: (umgangssprachlich) abwertend für ausländische (insbesondere türkische) Arbeitnehmer

10 1 20 2 30 3 40 4 Material zu Thema 4 Friedrich Schiller: Wilhelm Tell. Ein Schauspiel (Bearbeitete Fassung) Dritter Akt, Dritte Szene [... ] GESSLER: Verachtest du so deinen Kaiser, Tell, Und mich, der hier an seiner Statt gebietet, Dass du die Ehr versagst dem Hut, den ich Zur Prüfung des Gehorsams aufgehangen? Dein böses Trachten hast du mir verraten. TELL: Verzeiht mir, lieber Herr! Aus Unbedacht, Nicht aus Verachtung Eurer ists geschehn, Wär ich besonnen, hieß ich nicht der Tell, Ich bitt um Gnad, es soll nicht mehr begegnen. GESSLER (nach einigem Stillschweigen): Du bist ein Meister auf der Armbrust, Tell, Man sagt, du nähmst es auf mit jedem Schützen? WALTER TELL: Und das muss wahr sein, Herr nen Apfel schießt Der Vater dir vom Baum auf hundert Schritte. GESSLER: Ist das dein Knabe, Tell? TELL: Ja, lieber Herr, GESSLER: Nun, Tell! weil du den Apfel triffst vom Baume Auf hundert Schritte, so wirst du deine Kunst Vor mir bewähren müssen Nimm die Armbrust Du hast sie gleich zur Hand und mach dich fertig, Einen Apfel von des Knaben Kopf zu schießen Doch will ich raten, ziele gut, dass du Den Apfel treffest auf den ersten Schuss, Denn fehlst du ihn, so ist dein Kopf verloren. (Alle geben Zeichen des Schreckens) TELL: Herr Welches Ungeheure sinnet Ihr Mir an Ich soll vom Haupte meines Kindes Nein, nein doch, lieber Herr, das kömmt Euch nicht Zu Sinn Verhüts der gnädge Gott das könnt Ihr Im Ernst von einem Vater nicht begehren! GESSLER: Du wirst den Apfel schießen von dem Kopf Des Knaben Ich begehrs und wills. TELL: Ich soll Mit meiner Armbrust auf das liebe Haupt Des eignen Kindes zielen Eher sterb ich! GESSLER: Du schießest oder stirbst mit deinem Knaben. TELL: Ich soll der Mörder werden meines Kinds! Herr, Ihr habt keine Kinder wisset nicht, Was sich bewegt in eines Vaters Herzen. GESSLER: Öffnet die Gasse Frisch! Was zauderst du? Dein Leben ist verwirkt, ich kann dich töten, Und sieh, ich lege gnädig dein Geschick In deine eigne kunstgeübte Hand. Der kann nicht klagen über harten Spruch, Den man zum Meister seines Schicksals macht. TELL (zum Landvogt): Erlasset mir den Schuss. Hier ist mein Herz!

0 60 6 70 7 80 8 90 SCHRIFTLICHE ABSCHLUSSPRÜFUNG 2003 6 GESSLER: Ich will dein Leben nicht, ich will den Schuss. Du kannst ja alles, Tell, an nichts verzagst du, Das Steuerruder führst du wie den Bogen, Dich schreckt kein Sturm, wenn es zu retten gilt, Jetzt, Retter, hilf dir selbst du rettest alle! (Tell steht in fürchterlichem Kampf, mit den Händen zuckend und die rollenden Augen bald auf den Landvogt, bald zum Himmel gerichtet. Plötzlich greift er in seinen Köcher 1), nimmt einen zweiten Pfeil heraus und steckt ihn in seinen Goller 2). Der Landvogt bemerkt alle diese Bewegungen) WALTER TELL (unter der Linde): Vater, schieß zu, ich fürcht mich nicht. TELL: Es muss! (Er rafft sich zusammen und legt an) VIELE STIMMEN: Der Apfel ist getroffen! GESSLER (erstaunt): Er hat geschossen? Wie? der Rasende! WALTER TELL (kommt mit dem Apfel gesprungen): Vater, hier ist der Apfel Wusst ichs ja, Du würdest deinen Knaben nicht verletzen. (Tell stand mit vorgebognem Leib, als wollt er dem Pfeil folgen die Armbrust entsinkt seiner Hand wie er den Knaben kommen sieht, eilt er ihm mit ausgebreiteten Armen entgegen und hebt ihn mit heftiger Inbrunst 3) zu seinem Herzen hinauf, in dieser Stellung sinkt er kraftlos zusammen. Alle stehen gerührt) GESSLER: Bei Gott, der Apfel mitten durchgeschossen! Es war ein Meisterschuss, ich muss ihn loben. Tell, höre! TELL (kommt zurück): Was befehlt Ihr, Herr? GESSLER: Du stecktest Noch einen zweiten Pfeil zu dir Ja, ja, Ich sah es wohl Was meintest du damit? TELL (verlegen): Herr, das ist also bräuchlich bei den Schützen. GESSLER: Nein, Tell, die Antwort lass ich dir nicht gelten, Es wird was anders wohl bedeutet haben. Sag mir die Wahrheit frisch und fröhlich, Tell, Was es auch sei, dein Leben sichr ich dir. Wozu der zweite Pfeil? TELL: Wohlan, o Herr, Weil Ihr mich meines Lebens habt gesichert, So will ich Euch die Wahrheit gründlich sagen. (Er zieht den Pfeil aus dem Goller und sieht den Landvogt mit einem furchtbaren Blick an) Mit diesem zweiten Pfeil durchschoss ich Euch, Wenn ich mein liebes Kind getroffen hätte, Und Eurer wahrlich! hätt ich nicht gefehlt. GESSLER: Wohl, Tell! Des Lebens hab ich dich gesichert, Ich gab mein Ritterwort, das will ich halten Doch weil ich deinen bösen Sinn erkannt, Will ich dich führen lassen und verwahren, Wo weder Mond noch Sonne dich bescheint, Damit ich sicher sei vor deinen Pfeilen. Ergreift ihn, Knechte! Bindet ihn! (Tell wird gebunden) 1) 2) 3) Köcher: Behälter für Pfeile Goller: Wams; eine Art Weste ohne Ärmel Inbrunst: Leidenschaft, leidenschaftlicher Eifer

7 Material zu Thema Theodor Fontane: Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland 10 1 20 2 30 3 40 Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland, Ein Birnbaum in seinem Garten stand, Und kam die goldene Herbsteszeit Und die Birnen leuchteten weit und breit, Da stopfte, wenn s Mittag vom Turme scholl, Der von Ribbeck sich beide Taschen voll, Und kam in Pantinen ein Junge daher, So rief er: Junge, wiste ne Beer? Und kam ein Mädel, so rief er: Lütt Dirn, Kumm man röwer, ick hebb ne Birn. So ging es viel Jahre, bis lobesam Der von Ribbeck auf Ribbeck zu sterben kam. Er fühlte sein Ende. s war Herbsteszeit, Wieder lachten die Birnen weit und breit, Da sagte von Ribbeck: Ich scheide nun ab. Legt mir eine Birne mit ins Grab. Und drei Tage drauf, aus dem Doppeldachhaus, Trugen von Ribbeck sie hinaus, Alle Bauern und Büdner, mit Feiergesicht, Sangen Jesus meine Zuversicht, Und die Kinder klagten, das Herze schwer, He is dod nu. Wer giwt uns nu ne Beer? So klagten die Kinder. Das war nicht recht, Ach, sie kannten den alten Ribbeck schlecht, Der neue freilich, der knausert und spart, Hält Park und Birnbaum streng verwahrt. Aber der alte, vorahnend schon Und voll Mißtrauen gegen den eigenen Sohn, Der wusste genau, was damals er tat, Als um eine Birn ins Grab er bat, Und im dritten Jahr, aus dem stillen Haus, Ein Birnbaumsprößling sproßt heraus. Und die Jahre gehen wohl auf und ab, Längst wölbt sich ein Birnbaum über dem Grab, Und in der goldenen Herbsteszeit Leuchtet s wieder weit und breit. Und kommt ein Jung übern Kirchhof her, So flüstert s im Baume: Wiste ne Beer? Und kommt ein Mädel, so flüstert s: Lütt Dirn, Kumm man röwer, ick gew di ne Birn. So spendet Segen noch immer die Hand Des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.

8 Margarete Hannsmann: Landschaft (Bearbeitete Fassung) 10 1 20 2 Aber es werden Menschen kommen denen das zeitauf zeitab der Fabriken gleichgültig ist sie wollen nicht auf den Supermärkten einkaufen aber sie fragen nach dem Millionen Jahre alten Wind ob ihr noch Vögel Fische Füchse Sumpfdotterblumen aufgehoben habt wenn anderswo alle Wälder zerstückelt sind alle Städte über die Ränder getreten alle Täler überquellen vom Müll Könnt ihr noch Wetterbuchen liefern? einen unbegradigten Fluss? Mulden ohne schwelenden Abfall? Hänge ohne Betongeschwüre? Seitentäler ohne Gewinn? habt ihr noch immer nicht genug Einkaufszentren in Wiesen gestreut Möbelmärkte zwischen Skabiosen 1) nicht genug Skilifte ohne Schnee Nachschubstraßen für Brot und Spiele Panzerschneisen hügelentlang wenn ihr die Schafe aussterben lasst stirbt der Wacholder. [... ] 1) krautige Pflanzen mit korbähnlichem Blütenstand