Romantik. Epoche Autoren Werke. Herausgegeben von Wolfgang Bunzel

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Romantik

3 Romantik Epoche Autoren Werke Herausgegeben von Wolfgang Bunzel

Die DeutscheNationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. 2010 bywbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe dieses Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Einbandgestaltung: Peter Lohse, Büttelborn Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-22073-1

Inhalt Wolfgang Bunzel Einleitung... 7 Silvio Vietta Die Frühromantik... 11 Detlef Kremer /Christoph Kleinschmidt Die mittlere Phase der Romantik... 26 Wolfgang Bunzel Die Spätromantik... 42 Ulrich Breuer Friedrich Schlegel... 60 Jochen Strobel August Wilhelm Schlegel... 76 Herbert Uerlings Novalis (Friedrich von Hardenberg)... 92 Dirk Kemper Wilhelm Heinrich Wackenroder... 107 Achim Hölter Ludwig Tieck... 123 Hartwig Schultz Clemens Brentano... 138 Ulfert Ricklefs Ludwig Achim von Arnim... 152 Hartmut Steinecke E.T.A. Hoffmann... 169

6 Inhalt Renate Moering Joseph von Eichendorff... 183 Barbara Becker-Cantarino Schriftstellerinnen der Romantik... 200 Gerhart Hoffmeister Romantik als europäisches Phänomen... 216 Bibliografie... 232

Wolfgang Bunzel Einleitung Es spricht viel dafür, die Romantik zumal die deutsche als Etappe eines umfassenden soziokulturellen Umstrukturierungsprozesses zu verstehen, der etwa im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in Gang kommt, dabei aber nicht linear, sondern schubweise verläuft (was einerseits Binnenzäsuren erzeugt, andererseits Retardierungserscheinungen hervorruft) und sich letztlich bis in die Gegenwart erstreckt. Grund für das Einsetzen diesen epochalen Umbruchs, der die Makroperiode der Moderne von einer vormodernen Phase scheidet, 1 ist die fortschreitende funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft in einzelne soziale Subsysteme, die irgendwann einen Grad an Selbstständigkeit erreichen, dass sie nach je eigenen Logiken zu funktionieren beginnen und sich in Folge davon gegenseitig voneinander abschließen. Genau das geschah im Bereich der Kunst, die bis zum späten 18. Jahrhundert nur eine relative Existenzberechtigung besaß und neben ästhetischen Aufgaben immer auch andere, heteronome Zwecke zu erfüllen hatte. Sie sollte die Literatur der Aufklärung legt beredtes Zeugnis ab von dieser wohlmeinenden Indienstnahme beispielsweise dem Lobpreis Gottes dienen (d.h. sie übernahm theologische Aufgaben), sie sollte Kenntnisse und Wissen vermitteln (erfüllte damit nebenher auch Funktionen der Wissenschaft) oder sie sollte erzieherisch wirken (hatte also pädagogische Dienste zu leisten). Um1770 herum aber begann sich die Kunst von diesen sekundären Zwecken zu emanzipieren. Sie erklärte sich alsautonom undgewannfortaneinen neuen Status.Der Eintritt in die Phase der ästhetischen Eigengesetzlichkeit der mit tiefgreifenden sozialen Umschichtungen wie der zunehmenden Emanzipation des Bürgertums 2 einherging und begleitet wurde von einem Programm der Autonomieästhetik, das vor allem Immanuel Kant, Karl Philipp Moritz und Friedrich Schiller entwickelten markiert den Beginn der Makroperiode Moderne. Der hier skizzierte Wandlungsprozess vollzog sich natürlich nicht von heute auf morgen, es dauerte vielmehr eine Weile, bis er vollständig Platz gegriffen hatte (und auch dann kam es noch wiederholt zu Versuchen, ihn ungeschehen zu machen, was sich im Rückgriff auf ältere Literaturkonzepte zeigt), aber er war und das ist das Entscheidende in seinem Kern irreversibel. Das bedeutet, dass die Zeitschwelle um 1770 zwei Großepochen voneinander trennt: die Vormoderne und die in einem weiten Sinne verstandene Moderne.

8 Wolfgang Bunzel Die Geniebewegung der siebziger Jahre mit ihrer zuweilen übersteigert wirkenden produktionsästhetischen Emphase kann als erster, noch reichlich ungelenker Ausdruck dieses neuen Selbstverständnisses von Literatur angesehen werden. Ihr folgt als konsequente Ausprägung des Autonomieprinzips dann die Ästhetik der Weimarer Klassik, welche die Sphäre der Kunst ausdrücklich von den übrigen sozialen Bereichen separiert denkt. In auf mehreren Ebenen stattfindender Abgrenzung von dieser mit ihrem Antike-Bezug als rückwärtsgewandt erscheinenden und mit ihrem transnationalen Anspruch als undeutsch empfundenen Gruppierung konstituierte sich in den frühen neunziger Jahren die romantische Bewegung. Die Autoren dieser Diskursformation rebellierten gegen die Selbstghettoisierung einer im Bereich anerkannter Ausdrucksmuster und Gestaltungsformen verharrenden, von der konkreten Lebenspraxis abgelösten Kunst und suchten den gerade erst erstrittenen Freiraum des Ästhetischen dadurch zu erweitern, dass sie seine Geltungskraft auf sämtliche Wirklichkeitsbereiche ausdehnten. Als deutlichster Ausdruck eines solchen Bestrebens kann das unter dem Stichwort progressiver Universalpoesie entworfene Programm einer Entgrenzung literarischer Formen und Verfahrensweisen gelten, das Friedrich Schlegel in den sog. Athenaeums-Fragmenten (1798) formuliert hat: Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennte Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie, und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie, und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetischmachen(kfsa, Bd.2,S.182). Schlegels Definition amalgamiert nicht nur einzelne Textsorten, divergente Ausdrucksmodi und unterschiedliche Künste miteinander, sie zielt auch darauf ab, die Grenze zwischen Literatur und Leben insgesamt aufzuheben. Das Bestreben nach entgrenzender Auflösung des ästhetischen Diskurses zeigt sich insgesamt in den vielfältigen Versuchen der Romantik, die Differenz zwischen fiktionaler Rede und Realität zu neutralisieren 3.Beispiele hierfür sind die Bemühungen umdie Etablierung einer neuen Mythologie, 4 die in der Poetik des Fragments wirksam werdende Demontage des klassischen Werkbegriffs 5 und die in der (früh-)romantischen Enzyklopädistik 6 zu beobachtenden Anstrengungen, Wissenselemente aus anderen sozialen Bereichen indie Literatur zu integrieren und sie damit entgegen allen sich herausbildenden Differenzierungen frei zu kombinieren. Mit dem Anspruch auf Totalität kippt das Programm radikaler künstlerischer Autonomie indes umineine Strategie

Einleitung 9 der Entdifferenzierung, die das Ästhetische zum universalen Interdiskurs und damit zum Funktionsmodus der gesamten Gesellschaft machen möchte. Deshalb muss die Romantik als die erste Entdifferenzierungsbewegung der deutschen Literaturgeschichte angesehen werden. (Als solche wurde sie dann zu einem zentralen Bezugspunkt für nachfolgende Generationen von Künstlern, die an romantische Argumentationsmuster anknüpften und einschlägige Verfahrensweisen übernahmen.) Das Bewusstsein, einer neuen Ära anzugehören bzw. eine solche heraufführen zu helfen, bewog die Vertreter der Romantik dazu, eine Zeitenwende zu postulieren. 7 Auf diese Weise konnte man sich erfolgreich von der Konkurrenz der Weimarer Klassik absetzen und trotz faktischer Koexistenz ein schwer überbietbares Alleinstellungsmerkmal installieren, das inder Reklamierung von Novität bestand. Dass die Kategorie des Neuen mit einem Mal eine so große Strahlkraft entwickelte, lag freilich nicht zuletzt an jenem übergreifenden Führungswechsel der Zeithorizonte (Niklas Luhmann), der um 1800 zu beobachten ist. Da alle Wissensbestände zunehmend und nachhaltig dynamisiert wurden und vormals als unumstößlich geglaubte ästhetische Normen eine radikale Verzeitlichung erfuhren, kam es sowohl im Bereich der Wissenschaft als auch im Bereich der Kunst vor allem aber in letzterem statt auf Tradition nun auf Innovation an. 8 Unmittelbar greifbaren Ausdruck fand dieser Paradigmenwandel im Selbstverständnis und Auftreten der frühromantischen Bewegung als literarischer Jugendbewegung. Auch wenn man damit in gewisser Weise Verfahrensweisen der Sturm- und Drang-Autoren, die sich als erste entsprechend profiliert hatten, kopierte, gehen die Vertreter der Romantik in der Konsequenz, mit der sie sich durch moderne Vermarktungspraktiken im Literaturbetrieb ihrer Zeit zu etablieren trachteten, über ihre Vorgänger deutlich hinaus. Erst um 1800 verbinden sich nämlich rhetorische Strategien der Selbstinszenierung mit lebensweltlichen Skandalpraktiken, und erst jetzt gewinnt die virtuose Form der Mediennutzung als Verfahren, sich öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen, eine eigene Qualität. In gewisser Weise generierten die romantischen Autoren überhaupt erst jene Formen der Selbstdarstellung und jene Muster der Etablierung im literarischen Feld, die dann für nahezu alle späteren Generationen von Schriftstellern obligatorisch geworden sind. 9 Insofern ist die Romantik eben nicht eine literarische Bewegung unter anderen, sondern so etwas wie die Ahnenformation der Moderne, die, indem sie das Bestreben nach künstlerischer Autonomie mit einem Programm ästhetischer Entdifferenzierung verkreuzt und dieses alles andere als widerspruchsfreie Konzept mit konsequent marktstrategischem Verhalten be-

10 Wolfgang Bunzel gleitet, performativ vorexerziert, welche ab der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert die neuen und fortan konstitutiven Regeln der Kunst (Pierre Bourdieu) verstanden als Funktionsmechanismen, die einzelnen Aktanten bzw. Aktantenkollektiven innerhalb des Literatursystems bestimmte transpersonale Verhaltensdispositionen vorgeben sind. Anmerkungen 1 Siehe hierzu Ingo Stöckmann, Vor der Literatur. Eine Evolutionstheorie der Poetik Alteuropas,Tübingen 2001. 2 Vgl. u.a. Leo Balet/E. Gerhard (Hg.), Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.m./berlin/wien 1973, sowie Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg/München 1959, und Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Darmstadt/Neuwied 1962. 3 Madleen Podewski, Fragment und Journal: romantische und jungdeutsche Sprechorte, in: Wolfgang Bunzel/Peter Stein/Florian Vaßen (Hg.), Romantik und Vormärz. Zur Archäologie literarischer Kommunikation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Bielefeld 2003, S. 145-161, hier: S. 147. 4 Vgl. etwa Manfred Frank, Dichtung als Neue Mythologie, in: Karl Heinz Bohrer (Hg.), Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion, Frankfurt a.m. 1983,S.15-40. 5 Siehe hierzu beispielsweise Franz Norbert Mennemeier, Fragment und Ironie beim jungen Friedrich Schlegel. Versuch der Konstruktion einer ungeschriebenen Theorie, in: Poetica 2(1968), S. 348-370, sowie Eberhard Ostermann, Das Fragment. Geschichte einer ästhetischen Idee, München 1991. 6 Vgl. stellvertretend Johannes Hegener, Die Poetisierung der Wissenschaften bei Novalis, dargestellt am Prozeß der Entwicklung von Welt und Menschheit. Studien zum Problem enzyklopädischen Welterfahrens,Bonn 1975. 7 Vgl. Walter Schmitz, Die Welt muß romantisiert werden.... Zur Inszenierung einer Epochenschwelle durch die Gruppe der Romantiker in Deutschland, in: Hendrik Birus (Hg.), Germanistik und Komparatistik. DFG-Symposion 1993, Stuttgart/Weimar 1995, S. 290-308, und allgemeiner Wilfried Barner, Über das Negieren von Tradition. Zur Typologie literaturprogrammatischer Epochenwenden in Deutschland, in: Reinhart Herzog/Reinhart Koselleck (Hg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, München 1987, S.3-51. 8 Siehe hierzu etwa Ingrid Oesterle, Innovation und Selbstüberbietung: Temporalität der ästhetischen Moderne, in: Silvio Vietta/Dirk Kemper (Hg.), Ästhetische Moderne in Europa. Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik, München 1998, S. 152-178. 9 Bourdieu hat gezeigt, dass von der Logik permanenter Revolution ein Institutionalisierungsprozeß der Anomie in Gang gesetzt worden ist, der die Zirkulationsweise der gesamten modernen Literatur bestimmt; Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, übers. von Bernd Schwibs und Achim Russer, Frankfurt a.m. 2001, S. 202 und 114. Die Romantik ist die erste Diskursformation, in der diese Umwertung zumtragen kommt.

Silvio Vietta Die Frühromantik Autoren, Zentren Wenn wir wie die Forschung es mit guten Gründen vielfach tut die Frühromantik als eine gesonderte Phase der Romantik behandeln, so sind es in erster Linie vier junge Autoren, die im Zentrum stehen: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, Friedrich Schlegel, Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck. Novalis stammt aus niederem Adel, der Vater Heinrich Ulrich Erasmus von Hardenberg war Gutsbesitzer und Salinendirektor, seine Mutter Bernhardine eine Geborene von Bölzig. Der Vater von Friedrich und August Wilhelm Schlegel, der Generalsuperintendent Johann Adolf Schlegel, war mit der Tochter des Mathematikprofessors Hübsch, Johanna Christiana Erdmute, verheiratet. Wilhelm Heinrich Wackenroder stammte aus großbürgerlichem Hause in Berlin, sein Vater Christoph Benjamin war Justizbürgermeister in Berlin. Ludwig Tieck stammt aus einer Berliner Handwerkerfamilie, der Vater Johann Ludwig war Seilermeister. Generell gilt für die Familienstrukturen der Spätaufklärung: Sie waren streng patriarchalisch organisiert. Zumeist war die Mutter der emotionalere, verständnisvollere Elternteil, während der Vater die oftmals repressive gesellschaftliche Autorität repräsentierte. Darin liegt eine Begründung für die Melancholie vieler Romantiker. Ihre Selbstfindung vollzieht sich in der Abwendung von der väterlichen Autorität und generiert eine Protesthaltung gegen sie. Alle vier Autoren der Frühromantik haben studiert: Novalis studiert nach dem Besuch des Gymnasiums abherbst 1790 an der Universität Jena, ab Herbst des Folgejahres in Leipzig und 1793/94 in Wittenberg, wo er ein juristisches Examen ablegt. Friedrich Schlegel studiert nach einer Kaufmannslehre ab 1790 Rechtswissenschaft in Göttingen, ab 1791 in Leipzig, wo er aber den Entschluss fasst, Schriftsteller zu werden. Ab Herbst 1793 studiert auch Wilhelm Heinrich Wackenroder nach dem Besuch des Friedrich-Werderschen Gymnasiums in Berlin und einem Studiensemester in Erlangen mit seinem Freund Ludwig Tieck für zwei Semester Jura ingöttingen. Kennzeichnend für diese jungen Studenten ist aber, dass sie sich weniger für ihr Brotstudium als für Fragen der Ästhetik und Literatur interessieren. Sie leben in einer Zeit der Leserevolution in welcher die Publikation von Romanen stark zunimmt

12 Silvio Vietta und damit auch das extensive Lesen von Belletristik. 1 Diese Generation verschlingt geradezu Literatur, Schlegel und Novalis dazu auch die Philosophie ihrer Zeit, Wackenroder die kunstgeschichtliche Literatur, Tieck vor allem englische Literatur, auch Werke der Trivialliteratur. Die Grenzen der Nationalliteratur werden dabei übersprungen. Vor allem die Brüder Schlegel und Tieck lesen die Klassiker der europäischen Literatur, besonders Shakespeare, Dante, Cervantes, die sie ja auch ins Deutsche übersetzen. Die Genannten verfügen damit über ein europäisches Literaturbewusstsein, das insbesondere bei Friedrich Schlegel auch die antiken Autoren umfasst. Die Frühromantik ist eine Epoche vor der eigentlichen Nationalisierung der Literaturen und entsprechenden nationalphilologischen Einengung der Literaturwissenschaften. Die Frühromantiker waren trotz ihres geringen Alters europäische Gelehrte, ihr Bewusstsein umfasste einen Kanon großer europäischen Literatur. Regional differenziert sich die Frühromantik dann nach den Lebensräumen der Autoren aus: Das gewichtigste Zentrum dieser Phase war Jena, wo sich ab 1796 Friedrich Schlegel und Novalis trafen, nach dem Tod von Wackenroder auch Tieck. In Jena lehrte auch der Philosoph Johann Gottlieb Fichte, dessen Ich-Philosophie für die Romantik von großer Bedeutung war. Neben Jena war Berlin als Geburtsort und Lebensraum Wackenroders und Tiecks von Bedeutung, dies aber eher im Sinne einer inneren Emigration aus der kühlen protestantisch-pragmatischen Aufklärungswelt der preußischen Hauptstadt in die inneren Gefilde ihrer Lektüre- und Kunstmeditationen. 2 Die ästhetische Revolution: Von der Nachahmungs- zur Produktionsästhetik Um genauer zu verstehen, warum sich in der Ästhetik der Frühromantik ein fundamentaler und für die gesamte ästhetische Moderne konstitutiver Umbruch vollzieht, ist es hilfreich, auf andere Revolutionen vor der Romantik zu rekurrieren. AmAnfang der Modernisierungsprozesse der Neuzeit steht die naturwissenschaftliche Revolution, wie sie mit Kopernikus, Kepler, Galilei, Newton in Gang kam. Der wissenschaftlichen folgt die philosophische Revolution der Aufklärung, wie sie insbesondere Descartes formuliert. Diese will nämlich die Methode der Wissenschaftserkenntnis nach dem Schock der naturwissenschaftlichen Revolution neu begründen und tut dies in der Form einer reflexiven Selbstbegründung der menschlichen Rationalität in Abwendung von einer Theorie der nachahmenden Erkenntnis. Dabei tritt in der Philosophiege-