so. MEDIZIN Fotos: dpa Wieder einmal stehen Ärzte in Deutschland unter Generalverdacht: Die Hälfte betrügt. Sagen zumindest die Krankenkassen. Oder sagen es nur die Medien? VON ALEXA VON BUSSE
Die Aufregung ist groß, das Thema aber nicht neu: Bereits seit Jahren berichtet der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) von falschen Abrechnungen in Höhe von etwa 50 Prozent. Seit ebenso langer Zeit wehren sich die Ärzte gegen einen Generalvorwurf, denn der klinge nach Betrug in großem Stil. Aber so einfach ist es nicht. Erstens handelt es sich um eine Hochrechnung der Krankenkassen und zweitens sind die Fälle, die schließlich strafrechtlich angezeigt werden, in der Minderzahl nebenbei: Laut Kriminalstatistik sind die vorsätzlichen Betrugsfälle in der Zeit von 2009 bis 2011 um 40 Prozent gesunken. Es geht also weniger um die Teufel in Weiß, sondern vielmehr um die Frage, wie gut das bestehende Abrechnungssystem funktioniert: Seit etwa 20 Jahren gibt es ein Klassifikationssystem, in dem Krankenhausfälle zu wirtschaftlich ähnlichen Gruppen zusammengefasst werden, den sogenannten diagnosis related groups (DRGs). Sie sollen auf möglichst viele Fälle einfach anwendbar sein, werden deshalb auch ständig vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) diskutiert und aktualisiert. So müssen im Krankenhaus theoretisch nur noch die Codes für die Diagnose eingegeben werden und der Computer spuckt die Rechnung mit nachvollziehbaren Positionen aus.
Die Praxis indes sieht anders aus. Wird ein Patient eingeliefert, stellt ein Arzt zunächst die Hauptdiagnose. Während der weiteren Untersuchungen ergeben sich viele Nebendiagnosen, und aus diesem Mix setzt sich später anhand der Kodierschlüssel errechnet die Summe zusammen, die das Krankenhaus in Rechnung stellt. Das aber hat nicht unbedingt etwas mit den verursachten Kosten zu tun. Die können viel niedriger oder auch höher sein. Der Faktor Mensch ist ein Fass ohne Boden wirtschaftlich unberechenbar. Im Krankenhaus hängt die Vergütung somit von der Zusammensetzung aus Haupt- und Nebendiagnosen ab, wobei manchmal etliche Nebendiagnosen zu stellen sind. [ ] Die Vergütung hängt von der Zusammensetzung aus Haupt- und Nebendiagnosen ab. Das wissen viele Ärzte und auch die Abrechnungsfachkräfte. Hier liegt Schummel-Potenzial, gewollt wie ungewollt. Ein Beispiel: Herr Müller kommt mit einer Lungenentzündung ins Krankenhaus. Bei der Untersuchung stellt sich heraus, dass er auch an Lungenkrebs und Reflux leidet. Drei Diagnosen, deren Zusammensetzung in Haupt- und Nebendiagnosen entscheidend zur Einnahmesituation des Krankenhauses beiträgt. Welche der drei Diagnosen letztlich die erste und damit hauptsächliche war, lässt sich am Ende der Behandlung nicht immer nachvollziehen. Aber immerhin: Behandelt wurde in der Regel alles. Obendrein ändern sich die Vergütungsschlüssel für die Einzeldiagnosen ständig. Gibt es in einem Jahr für die Behandlung einer Lungenentzündung 200 Euro, können es im nächsten Jahr 500 Euro sein. Gute Fachkräfte haben so etwas im Blick und prüfen die Patientenakten bei der Abrechnung deshalb noch einmal im Hinblick auf übersehene Positionen, von denen es meist einige gibt. In der Realität würden nie alle Positionen, die auf der Rechnung auftauchen müssten, tatsächlich berücksichtigt, schildert ein Arzt seine Erfahrungen. Bei einer nochmaligen Prüfung auf gewinnbringende DRGs gebe es dann für verhältnismäßig wenig Aufwand relativ viel Geld. Aber auch hierbei handelt es sich keineswegs um Betrug, denn die Arbeit ist schließlich geleistet worden.
Offensichtlich ist es schwierig, den Überblick zu behalten: Laut einem 2010 veröffentlichten Bericht des Bundesrechnungshofes startete das Abrechnungssystem 2003 mit rund 660 DRGs, im Fallpauschalen-Katalog von 2014 finden sich gut 1100. Krankenhäuser beklagen die Komplexität des Systems, der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) hält in einem Positionspapier dagegen: Die mittlerweile langjährige Erfahrung, die Unterstützung von Kodierassistenten und die Unterstützung durch Software und Kodierempfehlungen bieten ausreichend Hilfestellung zum richtigen Kodieren. Im Folgenden gibt der MDK Beispiele für Fehlkodierungen, die kaum auf Unwissenheit basieren dürften. Ein zu niedrig angegebenes Geburtsgewicht eines Frühchens kostete die zuständige Kasse beispielsweise 40.468,59 Euro. Eine Nebendiagnose, die oft bei Neugeborenen gestellt wurde, ist die Notwendigkeit der Hilfestellung bei der Körperpflege. Das sei bei Säuglingen allerdings der Normalzustand, so der MDK. Der Schaden für die Krankenkassen beträgt pro Geburt 1200 Euro. Und gerade bei intensivmedizinischen Behandlungen fielen die Kosten ins Gewicht: In mehr als 60 Prozent der 1454 geprüften Fälle minderte der MDK die Kosten um bis zu 78 000 Euro in einem einzigen Fall. Hinreichend Argumente gibt es demnach auf beiden Seiten, der Streit zwischen Ärzten und Kassen bricht nicht ab. Die Politik reagierte bereits. Noch Mitte vergangenen Jahres traten neue gesetzliche Maßnahmen in Kraft, deren Wirkungen sich erst zeigen werden. Ziel ist unter anderem, über Routinedaten jene Krankenhäuser zu identifizieren, die überdurchschnittlich viele fehlerhafte Abrechnungen vorlegen. Stichprobenprüfungen wurden hierzu gestrichen, da sie aufgrund
der Rückzahlungsregelungen nur für regionale Kassen interessant waren und wenig angewendet wurden. Die Einzelfallprüfungen aber sind für Krankenhäuser bürokratisch aufwendig, daher will der Gesetzgeber die Krankenhäuser davor weiterhin mit einer Aufwandsentschädigung schützen. 300 Euro müssen die Kassen bezahlen, wenn sich eine geprüfte Rechnung als richtig herausstellt. Aus Sicht der Ärzte eine Strafe für sinnloses Querulantentum, das ihnen noch mehr Zeit raubt, als es die Dokumentation ohnehin schon tut. [ ] Einzelfallprüfungen sind für Krankenhäuser bürokratisch aufwendig Aus Sicht der Krankenkassen ist die Entschädigung eine absolute Ungerechtigkeit, denn im umgekehrten Fall gibt es keine Strafe. Stellt sich eine Rechnung als falsch heraus, muss das Krankenhaus nur die Differenz zum richtigen Betrag zurückzahlen. Zumindest sieht die Gesetzesänderung vor, dass zwischen diesen beiden Positionen ein fairer Interessenausgleich zu finden ist. Deshalb und um endlich verbindliche Abrechnungssysteme festzulegen, hat ein Schlichtungsausschuss aus Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) und Deutscher Krankenhausgesellschaft (DKG) im April seine Arbeit aufgenommen. Anreize zur sinnlosen Prüfung von Rechnungen sind also kaum gegeben, Anreize zur richtigen Rechnungsstellung aber kaum gesetzt. Aber wo fängt Betrug an? O-Ton eines Arztes: Muss ich einem Patienten eine Schlaftablette geben, weil sein Zimmernachbar schnarcht, gibt es dafür keinen Code. Also gebe ich hinterher die Kodierung für Einund Durchschlafstörungen an. Auch für die Gabe des magenschützenden Medikaments Omeprazol gebe es in Zusammenhang mit Chemotherapien, bei denen es oft gebraucht wird, keine Kodierung. So werde der Code für eine Verabreichung in Zusammenhang mit Reflux verwendet, auch wenn der Patient gar nicht unter Reflux leide. Betrug oder die korrekte Abrechnung eines Arbeitseinsatzes? Diese Fälle aber sind noch nicht mal diejenigen, die der MDK bemängelt. Laut DKG wirft der Dienst in rund 70 Prozent der
Fälle die Frage auf, ob ein Klinikaufenthalt überhaupt notwendig gewesen sei, und des Weiteren die Frage, ob er hätte kürzer ausfallen können. Doch dafür gibt es kein objektives Entscheidungskriterium, letztlich sollten das Arzt und Patient gemeinsam klären. Überhaupt prüft der MDK nur zehn bis zwölf Prozent aller Abrechnungen, davon ist etwa die Hälfte fehlerhaft. Absolut also nur um die fünf Prozent, die Schlagzeilen dieser Tage basieren somit auf Hochrechnungen. Wie andererseits die meisten Zahlen, die wir zur Deutung unseres Alltags heranziehen. Welche Zahlen nun stimmen, wer Recht hat und wer nicht, ist kaum auszumachen. Die wirtschaftlich relevante Ware bleibt der Mensch; für jeden Patienten bleibt auf der Rechnung ein individueller Zahlencode übrig. Dazwischen existiert unendlich viel Raum für Schummeleien oder auch für Unwissen. Unser Informant sagt: Ich vermute, dass viele WOHER WEISS ICH, DASS MEIN AUFENTHALT IM KRANKENHAUS RICHTIG ABGERECHNET WIRD? Jeder Patient, egal ob gesetzlich oder privat versichert, kann sich über die Behandlung informieren. Privat Versicherte erhalten ihre Rechnung in der Regel automatisch und müssen diese bei der zuständigen Kasse einreichen. Seit 2012 ist es aber auch für gesetzlich Versicherte möglich, ihre Behandlungsabrechnungen einzusehen. Die Krankenkassen stellen dafür sogenannte Patientenquittungen aus. Kliniken nicht wirtschaftlich arbeiten allein aus der Tatsache heraus, dass sie mit dem Abrechnungssystem nicht umgehen können. Und diejenigen, die es können? Sie sind entweder Götter oder Teufel in Weiß.