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Transkript:

Lebensbilder Leidensbilder Frauenbilder Erinnerungen an meine Großmutter Klara Keiling von Frau Hannelore Pflüger Bad Emstal, 2012-12-30 Angefertigt: Hartwin Neumann, Bergstrasse 28, 34308 Bad Emstal 1

Kultur- und Geschichtsverein Bad Emstal e.v. Lebensbilder Leidensbilder Frauenbilder Interview mit Frau Hannelore Pflüger, geb. Conradi, geb. 1931, z.zt. wohnhaft in 34311 Naumburg, Elbener Pfad 4. Das Interview wurde geführt am Donnerstag, 25. Oktober 2012 in Naumburg. Das zweite Interview am Samstag, 17. November 2012. Das Abschlussgespräch fand am Donnerstag, 10. Januar 2013 in Naumburg statt. Interviewer: Kultur- und Geschichtsverein Bad Emstal e.v., Hartwin Neumann, Vors. Foto (Neumann): Frau Hannelore Pflüger, November 2012 2

Erinnerungen an meine Großmutter, Frau Klara Keiling Vorbemerkung Nachdem ein Artikel über das Klostermuseum Bad Emstal in der Lokalpresse (HNA, 2012) erschienen war, entschließe ich mich, Kontakt mit dem Kultur- und Geschichtsverein Bad Emstal, Herrn Neumann, Vors., herzustellen und meine Geschichte zu erzählen. In erinnere mich, dass ein Gerücht besagt, meine Großmutter sei durch eine Todesspritze in der Psychiatrie Merxhausen ums Leben gekommen. Dieser Gedanke beunruhigt mich heute. Frau Pflüger: Meine Großmutter hieß Klara Keiling, geb. Hornschuh. Sie ist am 22. Januar 1882 geboren und am 13.6.1943 in Merxhausen gestorben. Sie gehörte der methodistischen Kirche an. Mein Großvater war Wilhelm Keiling, er war Feuerwehrmann bei der Firma Henschel in Kassel. Mein Vater war von Beruf Schneider, im Alter von 17 Jahren war er im ersten Weltkrieg, er war später Kriegsversehrter. Durch einen Granatsplitter hatte er eine Kopfverletzung erlitten, die wohl mit einer Platte am Kopf verschlossen war. Ich selbst habe meinen Vater nie gesehen. Meine Mutter war berufstätig. Ich war in 1943 12 Jahre alt. Foto (Pflüger) Von links: Die Großeltern Klara Keiling und Wilhelm Keiling mit den Töchtern Lydia (links) und Else Keiling. Meine Großeltern hatten fünf Töchter. 3

Kindheitserfahrungen In Kassel bin ich zur Bürgerschule an der Weserspitze gegangen. Damals gab es eine Mädchen- und eine Jungenschule, streng getrennt. Als der Krieg nach Kassel kam und die Bombenangriffe immer mehr wurden, mussten wir öfter in den Keller und die Luftangriffe abwarten. Wenn wir in der Schule waren und es Alarm gab, wurden wir nach Hause geschickt. Es hieß dann, schnell in den Keller laufen. Ich kann mich erinnern, dass ich zu dieser Zeit öfter krank war, und zwar am Magen. Das war immer ganz furchtbar, noch heute gehen mir Alarmsirenen direkt unter die Haut. Als Ausbildung hatte ich ein Praktikum bei einer Familie als Haushaltshilfe begonnen. Bald aber hatte ich geheiratet. Mit 39 Jahren habe ich dann noch den Beruf der Altenpflegerin erlernt und 15 Jahre lang in Zierenberg gearbeitet. Kriegssituation In 1942/43 ist meine Großmutter nach Merxhausen gekommen, da sie zu Hause nicht mehr gepflegt werden konnte. Sie soll etwas unruhig vielleicht auch verwirrt gewesen sein. So hat sie beispielsweise Blumen auf das Grab meines Vaters gelegt, den sie sehr gerne mochte; die Blumen waren allerdings von anderen Gräbern entnommen. Auch erinnere ich mich, dass meine Großmutter zu Zeiten von Wohnungsverdunkelungen vor den Fliegerangriffen mit einer Petroleumlampe durch die Wohnung gelaufen ist. Nachdem die häusliche Pflege durch die Schwester Elsa nicht mehr leistbar war, wurde meine Großmutter in der Neue Mühle (Anm.: Heute Ludwig Noll- Krankenhaus) untergebracht. Mein Großvater als Feuerwehrmann konnte sich nicht vollständig um die Großmutter kümmern, da Kassel seit 1942 bombardiert wurde. Wir selbst sind an der Weserspitze wohnend, zwei mal ausgebombt worden. So kam meine Mutter in die Landesheilanstalt Merxhausen. Mein Großvater hat seine Frau öfter - wenn er es zeitlich einrichten konnte- nach Kassel geholt und sich gekümmert. So ist er auch mit der Großmutter jeweils zum Hausarzt gegangen. Körperlich fehlte ihr nichts. Besuche in Merxhausen Ich kann mich erinnern, dass wir in 1943 oft, meist 1 bis 2 mal pro Woche meine Großmutter besuchten. Wir fuhren dann mit der Kleinbahn Kassel Naumburg nach Sand und gingen vom Bahnhof den langen Weg nach Merxhausen, der Weg kam mir immer sehr lang vor, ich fand das schrecklich. Essen hatten wir für die Oma immer mitgenommen, weil in Merxhausen ein Kriegslazarett war und dort das meiste Essen hinging. Bei den Besuchen mussten wir einen gesonderten Besucherraum betreten und wurden da eingeschlossen. Dort hatten wir, mit anderen Besuchern, zu warten, bis wir zu der Großmutter durften. Diese kam zu dieser Zeit nicht aus dem Bett. Ich erinnere mich, dass ich als junges Mädchen auch mal durch ein Guckloch an der Tür zum Krankensaal geschaut habe. Ich konnte sehen, wie die Pflegekräfte die Patienten mit großen Binden an die Betten festbanden. Auch erinnere ich mich an eine Geschichte, es muss wohl kurz vor dem Tod meiner Großmutter gewesen sein: Großeltern mit einem Kleinkind aus Kassel aus der Sodensternstrasse besuchten eine Frau, wohl die Mutter des Kleinkindes. 4

Woran genau diese Frau erkrankt war, kann ich nicht sagen. Beeindruckend war, dass das Kleinkind zur Mutter auf das Bett gesetzt wurde und die Frau die gesamte Besuchszeit über das Kind kämmte. Das Bild sehe ich noch gut vor mir. Weiterhin erinnere ich mich an einen Besuch, als meine Großmutter wohl zusammengeschlagen worden war, so hieß es. Jedenfalls hatte sie Verletzungen im Gesicht. Der letzte Besuch Zu diesem Besuch sind wir wie immer zunächst an das Häuschen (Anm.: Wachpforte) gegangen. Bei unserem letzten Besuch hatten wir zu warten, sagte der Pförtner. Es kam dann jemand von der Station und teilte mit, dass die Großmutter verstorben sei. Mein Großvater ist dann zur Leichenhalle geführt worden und konnte seine Frau noch mal sehen. Sie soll an einem Herztod gestorben sein. Bald danach, weil laufend dort die Menschen starben, hieß ein Gerücht, meine Großmutter sei durch eine Todesspritze umgekommen. Man konnte ja damals nichts unternehmen, sonst wäre man gleich weg gewesen. Kriegsende Am Ende des Krieges erlebte ich eine verrückte Geschichte: Als wir in Kassel das zweite mal ausgebombt waren sind wir zu Verwandten in die Rhön gegangen und waren dort in zwei Kammern untergebracht. Meine Mutter hatte auch Möbel und andere Gegenstände mitnehmen können. Zu dieser Zeit war dort die amerikanische Besatzungszone. Nun wollten wir einmal zurück nach Kassel, um zu sehen, wie es dort gehe. Wir sind mit einem Transportauto, ein Henschelauto nach Kassel gefahren. Als wir dann zurück in die Rhön wollten, erinnere ich mich, war das nicht mehr möglich, weil dort jetzt die russische Besatzungszone war. Das Hab und Gut war verloren. Foto: (Pflüger) Familie Keiling Von links: Wilhelm Keiling, Klara Keiling, Elsa Stolzenburg (geb. Keiling), Kind mit Schleife = Hannelore Pflüger (geb. Keiling), Ernestine Wittig, geb. Keiling, Walter Wittig, Lydia Conradi, geb. Keiling, Alfred Wittig (Sohn von Ernestine und Walter), Herr Stedefeld (Lebensgefährte von meiner Mutter Lydia) 5

Anfrage an das LWV Archiv in Kassel -Ursprüngliche Nachricht----- Von: Hartwin Neumann [mailto:hartwin.neumann@t-online.de] Gesendet: Freitag, 26. Oktober 2012 10:15 An: Vanja, Prof. Dr. Christina Betreff: Frau Keiling Sehr geehrte Frau Dr. Vanja, im Rahmen der Recherche zu "Frauenschicksalen" in Merxhausen konnte ich gestern ein Interview mit einer Frau Pflüger (geb. 1931) führen. Sie berichtete über ihre Großmutter, Frau Klara Keiling, geb. Hornschuh, gest. 13.6.1943 in Merxhausen. Frau Pflüger war damals ein 12jähriges Mädchen und musste mit zu Besuchen nach Merxhausen. Frau Keiling soll wegen der Kriegsereignisse in Kassel in Merxhausen gewesen sein, gesundheitlich fehlte ihr nichts. Bei einem Besuch wurde dann der Tod der Frau Keiling mitgeteilt, anschließend "gab es ein Gerücht", dass Frau Keiling mit einer "Todesspritze" zu Tode gebracht worden sei. Diese Erinnerungen beunruhigen Frau Pflüger heute. Nun meine Fragen: Gibt es noch Akten über Patienten aus dieser Zeit? Gibt es die Akte "Keiling" noch? Kann ich die ggfs einsehen, um diesem Gerücht begegnen zu können? Ich würde der Dame gerne etwas die Ängste nehmen. Für die Recherchen zu "Frauenschicksalen" sind die Einzelbetrachtungen/-perspektiven wertvoll. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich wissen lassen könnten, ob da Einsichtnahme o.ä. möglich ist. Gerne komme ich auch persönlich nach Kassel. Mit freundlichen Grüßen Hartwin Neumann, Vors. www.geschichtsverein-bademstal.de Antwort von Frau Vanja Kassel, 26.10.12 403.3-N Sehr geehrter Herr Neumann, vielen Dank für Ihre Anfrage. Die Großmutter von Frau Pflüger ist im Merxhäuser Aufnahmebuch (LWV-Archiv, Bestand 17 Nr. 593) aufgeführt (Aufenthalt 09.03.1942-13.06.1943), eine Krankenakte ist bei uns zumindest 6

aber nicht verzeichnet. Frau Pflüger müsste sich direkt an Vitos Kurhessen wenden. Über die Tötung von Patientinnen in Merxhausen ist bis jetzt zumindest nichts bekannt. Wir gehen für die drei nordhessischen Landesheilanstalten nicht von Krankenmorden aus, allerdings war die Versorgung sehr schlecht (siehe auch Gedenktafel). Mit freundlichen Grüßen im Auftrag Christina Vanja Nach dieser Antwort erfolgt ein Schreiben an die Vitos Kurhessen Hannelore Pflüger Naumburg, 17.11.2012 Elbener Pfad 4 34311 Naumburg An Vitos - Kurhessen ggmbh Landgraf Philipp - Str. 9 34308 Bad Emstal Frau Klara Keiling, geb. Hornschuh, verstorben in Merxhausen am 13.6.1943; LWV Archiv, Bestand 17 Nr. 593 (Aufenthalt vom 9.3.1942 bis 13.6.1943) Sehr geehrte Damen und Herren, mein Name ist Hannelore Pflüger, ich wohne in Naumburg. Als 12 jähriges Mädchen habe ich öfter an Besuchen meiner Großmutter, Frau Klara Keiling, in Merxhausen teilgenommen. Nach dem der Familie mitgeteilt wurde, dass meine Großmutter verstorben sei, hielt sich das Gerücht, sie sei durch eine Todesspritze umgekommen. Dies beunruhigt mich heute noch. Ich würde gerne mehr über die Umstände ihre Todes wissen. Deshalb habe ich den Kontakt mit dem Vorsitzenden des Kultur- und Geschichtsvereins Bad Emstal, Herrn Hartwin Neumann, aufgenommen. Herr Neumann ist mir dabei behilflich, die Umstände näher zu erforschen. Ihn bevollmächtige ich auch, persönlich im Archiv nachzusehen oder ihnen als Gesprächspartner zur Verfügung zu stehen. Vielen Dank für ihre Bemühungen. Mit freundlichen Grüßen Hannelore Pflüger 7

Am 27.12.2012 erfolgt ein Gespräch mit dem stellv. Klinikdirektor Herrn Wolfgang Kloß sowie die Einsichtnahme in die Krankenakte Keiling. Dr. Kloß informiert über die Akte Keiling. Frau Keiling sei in 1939 in der Neue Mühle, Kassel und auch in der Landesanstalt in Marburg gewesen, bevor sie 1942 nach Merxhausen gekommen sei. Frau Keiling sei vor ihren Behandlungen auffällig (kleine Diebstähle) gewesen. Die Diagnose wurde als Psychose mit Gehirnabbau formuliert. Frau Keiling war wohl unruhig, euphorisch und leicht ablenkbar. Der Gehirnabbau in diesem Alter (Mitte 50) sei aus heutiger Sicht etwas ungewöhnlich früh, allerdings sei zu bedenken, dass in der damaligen Zeit die Menschen früher alt waren als heute. In der Krankenakte drehe es sich sehr häufig um die Kostenübernahme, das waren 3,- Reichsmark pro Tag. Gestorben sei Frau Keiling an Erstickung durch Verschlucken beim Abendessen um halb sieben, so etwas komme manchmal vor. 8

Die Akte Merxhausen 9

Die Akte aus Marburg 10

Der letzte Eintrag in der Krankengeschichte 13.6.1943 (Transliteration) Verschied heute während des Abendessens plötzlich um 18:30 Uhr x Anzeichen für Verschlucken und Ersticken, u. Husten, u. Cyanose. Im Mund fand sich etwas halb zerkautes Brot. Pat. Hatte zu Beginn des Essens eine kleine Aufregung insofern, als ihr eine andere Pat. Das Essen wegzunehmen versucht hatte. Todesursache: Herzschlag. Datum/Unterschriften Naumburg, 2013-01-10 Abschlussgespräch Heute informiere ich Frau Pflüger über die Ergebnisse der Nachforschungen. Frau Pflüger nimmt sie gelassen zur Kenntnis. Ich habe nichts anderes erwartet. Jedoch glaube sie nicht an diese offizielle Darstellung. Ich weiß es aus dieser Zeit besser, sagt sie. Während dieser Zeit in 1943 war das unwerte Leben etwas, was den Berichten bzw. der Krankengeschichte entgegen stehe. Sie erhoffe sich durch ihren Bericht, dass mehr Menschen ihre Erfahrungen mitteilen. 11

(Anmerkung: Vgl.: Krankenpflege im Nationalsozialismus; Aktion T4; Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933; Schreiben Hitlers zurückdatiert auf den 1. September 1939: Adolf Hitler an: Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichen Ermessen unheilbar Kranken nach kritischer Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann. Quelle: wikipedia vom 2013-01-10 Ende des Berichts: Frau Pflüger ist mit der Veröffentlichung des Berichts einverstanden, sie erhoffe sich, dass auch andere Menschen sich erinnern können, in der Hoffnung, ggfs. doch noch weitere Informationen über den Umgang mit psychisch Kranken in Merxhausen zu erfahren. Bad Emstal 2013-01-10 Hartwin Neumann, Vors. www.geschichtsverein-bademstal.de 12