Unverkäufliche Leseprobe. Christoph Levin Das alte Testament. 128 Seiten, Paperback ISBN: 978-3-406-44760-0. Verlag C.H.

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Unverkäufliche Leseprobe Christoph Levin Das alte Testament 128 Seiten, Paperback ISBN: 978-3-406-44760-0 Verlag C.H.Beck ohg, München

1. "Kein Jota oder Strichlein soll dahinfallen : Der Text des Alten Testaments Ein Buch, das auf die Zeit vor der Erfindung der Druckkunst zurückgeht, weckt die Frage nach der Geschichte seiner schriftlichen Überlieferung. Wie tragfähig ist die Fassung, die auf uns gekommen ist? Welche Vorlagen gingen ihr voraus? Wie weit zurück reichen die Zeugnisse, die wir "schwarz auf weiß besitzen? Nur wenn sicher ist, daß uns ein authentischer Text vorliegt, gibt es eine Grundlage für Schlußfolgerungen zur Herkunft des Inhalts. a) Der hebräische Text. Die älteste vollständige hebräische Bibelhandschrift, die erhalten ist, ist der Kodex B19 A der öffentlichen Bibliothek in St. Petersburg. Er ist bekannt als Codex Leningradensis; neuerdings wird er Codex Petropolitanus genannt. Nach der Beischrift wurde er im Jahre 1008 n. Chr. in Kairo geschrieben. Für den gesamten hebräischen Bibeltext ist er zugleich die beste erhaltene Handschrift und liegt den meisten wissenschaftlichen Textausgaben zugrunde. Nur der einige Jahrzehnte ältere Kodex von Aleppo übertrifft ihn, der aber, seit er 1948 zeitweilig verschollen war, ein Viertel seines Umfangs eingebüßt hat. Geschrieben wurden diese und weitere Handschriften von den sogenannten Masoreten, die vom 8. bis 10. Jh. n. Chr. in Tiberias am See Gennesaret gewirkt haben. "Masora heißt hebräisch "Überlieferung. Man spricht vom masoretischen Text. Es gab zwei maßgebende Gelehrtenfamilien, die Ben Ascher und die Ben Naftali. Der Kodex von Aleppo, der als Musterkodex für die Anfertigung weiterer Handschriften gedient hat, ist von Aaron ben Ascher vokalisiert worden, der Codex Petropolitanus von Samuel ben Jakob nach Aaron ben Ascher. Der Anstoß zu dieser Arbeit ging aus von der Sekte der Karäer ("Anhänger der Schrift ), die sich seit dem 8. Jh. von Babylonien aus verbreitete. Die Karäer lehnten die rabbinische 10

Auslegung, wie sie der Talmud überliefert, ab und bezogen sich nur mehr auf die Heilige Schrift selbst ein jüdisches "sola scriptura. Wenn die Tradition als Lesehilfe entfiel, durften auch kleinste Einzelheiten nicht mehr im Ungefähren bleiben. Diese Haltung wirkte auf das rabbinische Judentum zurück. Die Masoreten waren Rabbanim. Wichtigste Leistung der Masoreten ist die genaue Aufzeichnung der Aussprache gewesen. Die hebräisch-aramäische Schrift ist wie alle semitischen Alphabetschriften eine Konsonantenschrift. Das bringt zahlreiche Mehrdeutigkeiten und Unsicherheiten mit sich. Zwar hat der Text nie ohne Aussprachetradition bestanden man wußte, wie man zu lesen hatte, doch jetzt wurde die genaue Lesung durch ein System von Vokalzeichen und Akzenten, die "Punktation, schriftlich festgelegt. Die Vokalisation unterwarf die im Laufe von Jahrhunderten gewachsene Sprache einem einheitlichen grammatischen System. Das konnte zu Spannungen von überliefertem Text (K e tîb) und masoretischer Lesart (Q e rê) führen. Die Masoreten halfen sich, indem sie ihre Auffassung des Konsonantentextes am Kolumnenrand notierten. Dieser Randapparat, die "kleine Masora oder "masora parva, bot auch Raum, altüberlieferte Lesarten weiterzugeben sowie statistische und grammatische Hinweise anzubringen. Deren Hauptzweck ist der Schutz des Textes vor Veränderung. "Masoræt ist ein Zaun für die Tora (Rabbi Aqiba, gest. 135 n. Chr.). Neben der Masora parva gab es am Kopf und Fuß der Kolumne die Masora magna, einen im Laufe langer Auslegungstradition gewachsenen Parallelstellenapparat. Der so entstandene Text hat innerhalb des rabbinischen Judentums alle anderen Fassungen verdrängt. Da unbrauchbar gewordene Handschriften nicht aufbewahrt oder gar wiederverwendet wurden, sondern es Sitte war, sie feierlich zu begraben, gingen die älteren Textformen verloren. Rückfragen nach der vormasoretischen Textgeschichte liefen lange Zeit ins Leere; nur daß man aus den Bibelzitaten in der rabbinischen Überlieferung wußte, daß der Konsonantenbestand bis auf Kleinig- 11

keiten mit jener Textform übereinstimmt, die das Judentum seit dem Ende des 1. Jh.s n. Chr. allein noch überliefert hat. Erst ein sensationeller Fund in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s führte für die Textwissenschaft eine neue Situation herauf: In der Geniza (hebr. "Aufbewahrungsort ) der Synagoge von Alt-Kairo, einer versteckten Ablagekammer, fand sich eine große Zahl von Handschriften man schätzt 200 000 Fragmente, die der Vernichtung entgangen waren. Sie befinden sich heute in der Universitätsbibliothek von Cambrigde und weiteren europäischen und nordamerikanischen Bibliotheken. Die ältesten reichen bis ins 6. Jh. n. Chr. zurück. Dieser Fund brachte unter anderem ans Licht, daß es Vorstufen zu dem masoretischen Vokalisationssystem gegeben hat. Das rabbinische Judentum ist nicht die einzige Glaubensgemeinschaft gewesen, die das Alte Testament überliefert hat. Neben ihm stehen die Samaritaner, die auf dem Garizim bei Sichem ein eigenes Heiligtum besaßen. Als sie sich, wahrscheinlich zu Beginn der hellenistischen Zeit, von der nachexilischen Judenheit abspalteten, behielten sie die Tora als Heilige Schrift bei, nicht jedoch das übrige Alte Testament. Die ältesten erhaltenen Handschriften des samaritanischen Pentateuch stammen aus dem 12. Jh. Sie bewahren, abgesehen von dogmatischen Korrekturen, eine eigene Textform, die in vorchristliche Zeit zurückreicht. b) Der griechische Text. Das hellenistische Diasporajudentum besaß eine eigene Fassung des Alten Testaments: die Septuaginta. Der Name bedeutet lateinisch "siebzig und wird mit der römischen Zahl LXX abgekürzt. Er geht auf die Legende über die Entstehung zurück, die der im 1. Jh. v. Chr. geschriebene Aristeasbrief überliefert: Demetrios von Phaleron, der Vorsteher der Bibliothek in Alexandria, habe König Ptolemäus II. Philadelphos (285 246) vorgeschlagen, die jüdischen Gesetze in die Bibliothek aufzunehmen. Zu diesem Zweck wird die Tora von 72 gelehrten Männern, sechs aus jedem Stamm Israels, die der Hohepriester Eleasar aus Jerusalem nach Alexandria entsendet, an genau 72 Tagen ins Griechische übersetzt und die Übersetzung von der dortigen jüdischen Gemeinde 12

angenommen. Die Darstellung, die später in christlicher Überlieferung wunderhaft ausgemalt worden ist, dürfte den historischen Sachverhalt insoweit treffen, als Mitte des 3. Jh.s v. Chr. zunächst die Tora für den gottesdienstlichen Gebrauch der ägyptischen Diaspora ins Griechische übertragen worden ist. In der Folge wurde nach und nach (und in den einzelnen Büchern auf unterschiedliche Weise) das übrige Alte Testament übersetzt. Der Prolog zur Übersetzung des Sirachbuches (nach 132 v. Chr.) kennt "Gesetz, Propheten und die übrigen Bücher in griechischer Fassung. Die Septuaginta unterscheidet sich vom masoretischen Text nicht nur in der Sprache. Ihre Übersetzungsvorlage vertritt eine andere Textform. Das wird besonders deutlich am Umfang. Die Septuaginta enthält eine Anzahl Bücher, die in der hebräischen Bibel fehlen. Das Buch Daniel und das Buch Esther sind in griechischer Fassung erheblich länger, andere wie das Buch Jeremia kürzer. Hält man den griechischen und den hebräischen Text nebeneinander, wird die Frage unausweichlich, welche der beiden Fassungen ursprünglich ist. Im Falle der Heiligen Schrift ist der Vergleich religiös brisant: Was soll als Offenbarung gelten? Es versteht sich, daß der hebräische Text den Vorrang besaß. Schon in vorchristlicher Zeit läßt sich beobachten, daß die griechische Bibel nach der hebräischen korrigiert worden ist. Daraus erwächst für die Textwissenschaft ein Problem: Der hebräische Text, an dem sich die Korrekturen ausrichteten, war nicht mehr identisch mit der Übersetzungsvorlage. Die Septuaginta begann früh, ihre Eigenschaft als Vertreter einer selbständigen Textform zu verlieren. Seit die Judenheit durch die Zerstörung des zweiten Tempels im Jahre 70 n. Chr. ihren Mittelpunkt verloren hatte, kam dem Bezug auf die Heilige Schrift für die religiöse Identität um so größeres Gewicht zu. Das Judentum wurde endgültig zur Schriftreligion. Damit ließ sich eine Mehrzahl von Textformen nicht mehr vereinen. Von nun an bezog man sich einzig auf jene Fassung, aus der später die masoretische Textform hervorging, und stieß alle übrigen ab. Die aus dem Judentum hervorgegangenen Christen hingegen, die sich neben der 13

Schrift auf die Autorität Jesu Christi beriefen, teilten dieses exklusive Schriftverständnis nicht und behielten die traditionelle griechische Bibel bei. So kam es, daß die Septuaginta ausschließlich von der Kirche weiterüberliefert wurde und die eigentliche Fassung des christlichen Alten Testaments geworden ist. Für die griechischsprachige Judenheit entstanden im 2. Jh. n. Chr. neue Übersetzungen des protomasoretischen Textes. Am bezeichnendsten für ihre Geisteshaltung ist die Übersetzung des Aquila, die den Versuch unternimmt, den hebräischen Text buchstabengetreu ins Griechische zu übertragen. Nunmehr ist, nicht anders als in der rabbinischen Schriftauslegung, jede Kleinigkeit von offenbarungstheologischer Bedeutung. Letzten Endes wird der heilige Text unübersetzbar. Dem Geist der griechischen Sprache näher stehen die etwas jüngeren Übersetzungen des Symmachus und des Theodotion. Am Ende war die Bindung an den hebräischen Text so stark, daß keine dieser Übersetzungen in Gebrauch geblieben ist. Sie sind bis auf Reste verloren. Damit, daß die Judenheit die Septuaginta aufgab, war der Unterschied zwischen hebräischem und griechischem Text nicht erledigt. Im Streit um die christologische Deutung des Alten Testaments gewann er dogmatisches Gewicht. Obwohl die Christen von der Offenbarungsqualität ihres Textes überzeugt waren, bedeutete die Differenz zum hebräischen Text der Juden eine Verunsicherung. Daraus erwuchs eine frühe Form textkritischer Wissenschaft. Ihr Meisterstück ist die Hexapla gewesen, eine Sechsspaltenbibel, mit der der große alexandrinische Theologe Origenes um 240 245 n. Chr. in Caesarea an der Küste Palästinas die Übereinstimmung des griechischen mit dem hebräischen Text erweisen oder wenn nötig herstellen wollte. Das Riesenwerk soll 50 Bände umfaßt haben. Es enthielt nebeneinander den hebräischen Konsonantentext, eine griechische Transkription, die Übersetzungen des Aquila und des Symmachus, die Septuaginta sowie die Übersetzung Theodotions. Auf dieser Grundlage wurden Handschriften gefertigt, die die Septuagin- 14

ta nach dem hebräischen Text korrigierten. Insbesondere wurden die Überschüsse des hebräischen Textes aus den Übersetzungen Theodotions, Symmachus oder Aquilas in den Septuagintatext eingefügt. Sie wurden durch Sternchen ("Asteriscos ) markiert, Überschüsse des griechischen Textes mit Tilgungszeichen ("Obelos ) versehen. Im Verlauf der weiteren Handschriftenüberlieferung konnten diese Zeichen leicht entfallen, und das Ergebnis war der "hexaplarische Text, mit dem die Septuaginta ihre Eigenschaft als vom protomasoretischen Text unabhängige Textform eingebüßt hatte. Auch wenn die Hexapla bis auf wenige Fragmente verloren ist, hat die Septuagintaforschung Wege, den ursprünglichen Text wiederherzustellen. Eine Übersetzung des rezensionellen Textes ins Syrische, die Syrohexapla (616/617 n. Chr.), hat die textkritischen Zeichen genau bewahrt, so daß sich der Bearbeitungsvorgang in den Einzelheiten nachvollziehen läßt. Die Kirchenväter zitieren in ihren Bibelkommentaren vielfach den vorhexaplarischen Text. Die großen Bibelhandschriften des 4. Jh.s, der Codex Vaticanus aus der Vatikanischen Bibliothek und der 1844 und 1849 im Katharinenkloster auf dem Sinai gefundene Codex Sinaiticus (heute in Leipzig und London), sind rezensionell nur gering beeinflußt. Papyrusfunde bezeugen die vorhexaplarische Textgeschichte des 2. bis 4. Jh.s. Schließlich ist die Septuaginta bereits vor dem 3. Jh. in die Sprachen der damaligen Christenheit übersetzt worden. Unter diesen Tochterübersetzungen sind besonders wichtig die lateinische in der weströmischen Kirche (sogenannte Vetus Latina), die aber nur in Resten erhalten geblieben ist, und die Übersetzungen in koptische Dialekte in Ägypten. c) Weitere Übersetzungen. Während die Septuaginta bis heute die Bibel der Ostkirchen geblieben ist, wurde für die abendländische Bibeltradition die Vulgata bestimmend, die lateinische Bibelübersetzung des Hieronymus (ca. 347 420). Man kann dieses Unternehmen als einen weiteren Versuch verstehen, die Differenz zwischen dem hebräischen Text der Juden und dem griechischen Text der Christen zu überbrücken. Von 15

Papst Damasus I. (366 384) beauftragt, übersetzte Hieronymus in den Jahren 390 405 das Alte Testament nach dem damaligen hebräischen Text, also der protomasoretischen Textform (wobei ein gewisser Einfluß der Vetus Latina erhalten blieb). Die Vulgata setzte sich seit dem 8./9. Jh. in der Westkirche durch. Nachdem die Reformation unter dem Einfluß des Humanismus auf den hebräischen Text zurückgegangen war, erklärte das Konzil von Trient im Jahre 1546 die Vulgata zu dem in Lehrfragen maßgebenden Text der römisch-katholischen Kirche. Von den übrigen Übersetzungen ist die Bibel der syrischen Kirche, die Peschitta (syr. "die einfache ), die wichtigste. Sie ist beiden Konfessionen, den westsyrischen Jakobiten und den ostsyrischen Nestorianern, gemeinsam, geht daher auf die Zeit vor deren Trennung im 5. Jh. zurück. Es gibt begründete Vermutungen, daß die Peschitta auf älteren aramäischen Übersetzungen fußt, den sogenannten Targumen. Als sich die Kenntnis des Hebräischen verlor, bürgerte sich ein, den im synagogalen Gottesdienst verlesenen Bibeltext durch eine aramäische Paraphrase verständlich zu machen. Es bildeten sich feste Traditionen heraus, die schließlich auch schriftlich niedergelegt wurden. Maßgebend geworden sind das Targum Onkelos zur Tora und das Targum Jonatan zu den Propheten. d) Qumran. Der gegenwärtige Stand der textkritischen Wissenschaft ist bestimmt durch die Textfunde, die zwischen 1947 und 1956 in der Wüste Juda gemacht wurden. In den elf Höhlen von Qumran, 15 km südlich von Jericho am Toten Meer gelegen, kamen Fragmente von mehr als 190 biblischen Schriftrollen ans Licht. Sie stellen die Kenntnis der Textgeschichte auf eine neue Grundlage. Mit Ausnahme des Estherbuchs sind alle biblischen Bücher vertreten, und sei es in kleinsten Bruchstücken. Besonders eindrucksvoll ist die vollständig erhaltene Jesaja-Rolle (heute im "Shrine of the Book in Jerusalem). Die Menge der Fragmente stammt aus dem 2. und 1. Jh. v. Chr, einzelne reichen bis ins 3. Jh. v. Chr. zurück. Die Funde zeigen, daß um die Zeitenwende mehrere Textformen des Alten Testaments nebeneinander bestanden haben. 16

Besonders wichtig ist, daß sich auch der protomasoretische Text breit vertreten findet. Damit ist erwiesen, daß jener Text, der seit Ende des 1. Jh.s n. Chr. von der Judenheit allein noch gebraucht wurde, keine Rezension ist, sondern eine altüberlieferte Textform. Neben ihm gibt es in Qumran Fragmente, die der samaritanischen Textform nahestehen. Man stieß auch auf Handschriften, die der Vorlage der Septuaginta entsprechen. Aus ihnen geht hervor, wie eng die griechische Übersetzung sich an ihre Übersetzungsvorlage gebunden hat. Schließlich fanden sich bisher unbekannte Textformen, die allein in Qumran belegt sind. Sie unterscheiden sich vom protomasoretischen Text unter anderem durch eine lebendigere, weniger strenge Überlieferungsweise. Der Weg zum Urtext führt über den Vergleich des masoretischen Textes, der für den größten Teil des Alten Testaments als der mit Abstand beste Text gelten kann, mit dem samaritanischen Pentateuch, mit den Qumranfragmenten und vor allem mit der vorhexaplarischen Septuaginta. Der Vergleich kann bei manchen Büchern ergeben, daß es den Urtext nicht gegeben hat, sondern daß die verschiedenen Textformen Stationen eines literarischen Prozesses sind, der sich zuletzt in getrennte Wege verzweigt hat. 2. Ein Buch als Bibliothek: Der Kanon des Alten Testaments Das Wort "Bibel (engl./frz. "bible ) geht über das latinisierte "biblia auf griechisches bibl2a zurück; bibl2on heißt "Buch, bibl2a ist der Plural: "Bücher. Der Name deutet an: Was uns heute als ein einziger Band in Händen liegt und was wir mit Selbstverständlichkeit als eine Einheit verstehen: die Bibel, ist tatsächlich eine Vielheit. Man hat die Bibel gern das "Buch der Bücher genannt. Damit ist nicht nur die Unvergleichlichkeit bezeichnet, die ihr für den jüdischen und den christlichen Glauben zukommt, sondern auch ihre innere Pluralität. Sie ist 17