Gottesdienst vom 13. Juli 2014 Predigtreihe Josef, Teil 5: Die Familiengeschichte holt sie ein Pfr. Max Hartmann, Brittnau Es gibt Momente im Leben, wo uns die eigene, sehr persönliche Familiengeschichte einholt. Das, was einmal gewesen ist, wird unerwartet sehr präsent. Die eigene Familiengeschichte. Wie erleben wir sie? Ist die Erinnerung schmerzhaft oder beglückend? Familiengeschichten sind selten nur schön. Da gibt es auch das Schwierige, wenn auch in unterschiedlichem Ausmass: Das, was wir vielleicht verdrängen und vergessen möchten. Es kann ein langer Weg sein, bis wir darüber versöhnt sind und den Frieden gefunden haben. Josef und seine Brüder: Die eigene Familiengeschichte holt sie ein. Wie erleben sie es? Wie gehen sie damit um? Was hilft ihnen und was nicht? Diesen Fragen wollen wir nachgehen. Und damit vielleicht auch der eigenen Familiengeschichte, schmerzhaft und/oder beglückend. Gut, wenn wir es zulassen. Die persönliche Vergangenheit, die eigene Familiengeschichte. Wir haben das letzte Mal gehört, wie Josef zum zweitmächtigsten Mann in Ägypten gemacht wird. Es ist eine steile und sehr ungewöhnliche Karriere und das erst noch als Ausländer. Er bekommt auch eine Frau und wird Vater von zwei Buben. Trotz seiner schwierigen Familiengeschichte erlebt er grosses Glück. Seine Empfindung zeigt er in der Wahl der Namen seiner Söhne. Der erste heisst Manasse, was übersetzt bedeutet Der vergessen lässt. Der zweite ist Ephraim Fruchtbar sein. In den beiden begegnet und die Botschaft: Was gewesen ist, soll vergessen sein. Wir schauen vorwärts und freue uns über neues Glück. Was gewesen ist, ist vergessen. Ich schaue vorwärts. Doch es erweist sich als Illusion. Was gewesen ist, lässt sich nicht vergessen. Sehr unerwartet, aber massiv meldet es sich zurück. Die alte Geschichte, zur Seite geschoben und verdrängt, wird plötzlich sehr präsent. Hören wir hin: Die erste Reise der Brüder Josefs nach Ägypten 1 Und Jakob erfuhr, dass es in Ägypten Getreide zu kaufen gab. Da sprach Jakob zu seinen Söhnen: Was schaut ihr einander an? 2 Und er sprach: Seht, ich habe gehört, dass es in Ägypten Getreide zu kaufen gibt. Zieht dort hinab und kauft für uns Getreide, damit wir am Leben bleiben und nicht sterben. 3 Da zogen zehn von den Brüdern Josefs hinab, um in
Ägypten Korn zu kaufen. 4 Aber Benjamin, den Bruder Josefs, liess Jakob nicht mit seinen Brüdern ziehen, denn er dachte, es könnte ihm etwas zustossen. 5 So kamen mit denen, die hinzogen, auch die Söhne Israels, um Getreide zu kaufen, denn es herrschte Hungersnot im Land Kanaan. 6 Josef aber war der Regent über das ganze Land; er war es, der an das ganze Volk des Landes Getreide verkaufte. Und die Brüder Josefs kamen und warfen sich vor ihm nieder mit dem Gesicht zur Erde. 7 Und Josef sah seine Brüder und erkannte sie, aber er gab sich ihnen nicht zu erkennen, fuhr sie hart an und sagte zu ihnen: Woher kommt ihr? Sie sagten: Aus dem Land Kanaan, um Getreide zu kaufen. 8 Und Josef erkannte seine Brüder, sie aber erkannten ihn nicht. 9 Da erinnerte sich Josef an die Träume, die er von ihnen geträumt hatte. Und er sagte zu ihnen: Ihr seid Kundschafter! Um die Blösse des Landes auszuspähen, seid ihr gekommen. 10 Sie sagten zu ihm: Nein, Herr! Deine Diener sind gekommen, um Getreide zu kaufen. 11 Wir alle, wir sind Söhne desselben Mannes. Wir sind ehrliche Leute, deine Diener sind keine Kundschafter. 12 Aber er sagte zu ihnen: Nein, ihr seid gekommen, um die Blösse des Landes auszuspähen. 13 Sie sagten: Deine Diener sind ihrer zwölf, wir sind Brüder, Söhne desselben Mannes im Land Kanaan. Der Jüngste ist zurzeit bei unserem Vater, und einer ist nicht mehr. Doch Josef misstraut den zehn. Einer von ihnen soll den jüngsten Bruder holen. Er setzt sie für drei Tage ins Gefängnis. Dann lässt er sie wieder frei. Nur einer muss bleiben, aber der Jüngste muss her. Josef hört, wie sie im Gespräch untereinander reagieren. Das schlechte Gewissen meldet sich: 21 Ja, wir müssen büssen, was wir an unserem Bruder verschuldet haben. Wir haben ihn in seiner ganzen Not gesehen, als er uns um Erbarmen anflehte, aber wir haben nicht darauf gehört. Darum ist nun diese Not über uns gekommen. 22 Ruben antwortete ihnen: Habe ich euch nicht gesagt: Versündigt euch nicht an dem Knaben! Ihr aber habt nicht hören wollen. Nun wird sein Blut eingefordert. 23 Sie wussten aber nicht, dass Josef es verstand, denn ein Dolmetscher vermittelte zwischen ihnen. 24 Und er wandte sich von ihnen ab und weinte. Dann wandte er sich ihnen wieder zu und redete mit ihnen, und er liess Simeon aus ihrer Mitte ergreifen und vor ihren Augen fesseln. Die zehn anderen können gehen, mit viel Getreide. Er gibt ihnen Verpflegung und lässt das Geld, das sie ihm gegeben haben, zuoberst in die Säcke stecken. Auf der Heimreise entdecken sie es und bekommen Angst. Was, wenn sie als Diebe verhaftet werden? Es geht aber gut. Sie kommen nach Hause und erzählen ihrem Vater, was sie erlebt haben und dass sie den jüngsten Bruder bringen müssen. Dieser reagiert entsetzt: Jetzt wollt ihr mir auch noch Benjamin nehmen. Ihr bringt mich ins Grab. Die eigene Geschichte holt sie ein Josef und seine Brüder. Was zeigt sich dabei? Eine erste Beobachtung:
Versöhnung ist ein langer, harter Weg und das auch für jemanden, der an Gott glaubt. Billige Versöhnung, rasch daher gesagt, hält nicht. Versöhnung kann mit einem grossen inneren Kampf verbunden sein und sehr schmerzhaft. So ist es bei Josef und seinen Brüdern. In diesem Kapitel sind wir noch weit weg vom Ziel der Versöhnung. Es werden nur erste Ansätze in eine gute Richtung sichtbar. Je schwieriger eine Familiengeschichte ist, je länger kann der Weg zur Versöhnung sein. Es gibt dabei zwei Seiten: die sehr menschliche Empfindung, die sich nicht ausblenden lässt und mit dazu gehört. Und es braucht die Bereitschaft, einer anderen Stimme Priorität zu geben, die die alte Geschichte überwinden hilft. Die Begegnung mit der eigenen Vergangenheit, der persönlichen Familiengeschichte. Schauen wir zuerst auf Josef. Es geschieht sehr unerwartet. Plötzlich stehen sie vor ihm, zehn seiner Brüder. Sie wissen nicht, wer sie vor sich haben. Josef tut, als kenne er sie nicht. Er ist für sie auch nicht erkennbar nach so vielen Jahren der Distanz. Er ist am neuen Ort gut assimiliert und sieht aus wie ein Ägypter. Aber zutiefst im Herz ist und bleibt er Hebräer. Und zutiefst im Herz lebt seine alte Geschichte weiter. Er wird mit seiner Vergangenheit unfreiwillig konfrontiert. Er hat keine Zeit, sich zu überlegen, wie zu reagieren. Es meldet sich in ihm das Bedürfnis nach Rache und Vergeltung. Jetzt hat er sie vor sich. Jetzt sind sie in seiner Hand. Jetzt kann er es ihnen zeigen. Seine erste Reaktion: Er misstraut ihnen. Er bezeichnet sie als Spione. Es geht euch nicht um Getreide, es geht euch darum zu schauen, wie ihr uns später überfallen könnt. So sein Vorwurf. Josef greift seine Brüder frontal an. Sie sollen beweisen, dass sie ehrlich sind. Er steckt sie sogar für drei Tage ins Gefängnis. Und dann lässt er sie nur ziehen, indem sie einen unter ihnen als Geissel zurücklassen müssen. Er wird sogar grob und lässt ihn fesseln. Sie müssen den jüngsten Bruder als Lösegeld holen. Dazu kommt zuletzt noch die Geschichte mit dem Silber im Kornsack dem Geld, das er ihnen zurückgibt und ihnen zur Falle wird, wenn sie kontrolliert werden. Dann sind sie als Diebe entlarvt. Das Bedürfnis nach Rache und Vergeltung. Ja, es gehört zu uns. Wir sehen hier Josef mit seiner sehr menschlichen Seite. Er nimmt die Brüder ganz gehörig in die Zange. Sie sollen massiv erfahren, was sie ihm angetan haben. Es ist nicht nett, wie Josef reagiert. Wir würden vielleicht sagen: gar nicht christlich. Josef als Vorbild - in diesem Verhalten besser nicht.
Christliches Verhalten. Wir sind uns einig: Das Ziel ist Versöhnung, nicht Vergeltung. Dafür ist Jesus mit seinem ganzen Leben bis zur äussersten Radikalität, seinem Tod am Kreuz sehr persönlich eingestanden. Christliches Verhalten ist sicher auch von uns gefragt im Blick auf die Bewältigung schwieriger Familiengeschichten. Aber es gibt auch die Gefahr einer zu raschen Versöhnungsbereitschaft, die sich später nicht bewährt. Versöhnungsbereitschaft darf nicht dazu führen, dass wir unsere Gefühle nach Rache und Vergeltung bloss unterdrücken, indem wir künstlich in uns abtöten, was an negativer Energie in uns nicht sein darf und dennoch ist. Es braucht das ehrliche Eingeständnis: ja, ich habe das, dieses Bedürfnis zurückzuzahlen, was mir angetan worden ist. Trotzdem: Es so auszuleben wie Josef es getan hat, sollten wir nicht. Es könnte eher wie Öl in das Feuer des Konfliktes wirken. Und doch müssen wir zulassen können, was in uns ist. Für mich sind in diesem Zusammenhang die so genannten Rachepsalmen eine Hilfe. Da lassen Menschen ihre Gefühle, ihren Hass und ihre Rachegedanken aus sich heraus. Sie tun es nicht vor den Menschen, die sie verletzt haben. Sie tun es vor Gott. Vor Gott kann ich aus mir herauslassen, was in mir ist. Gerade auch das, was ich besser nicht vor Menschen mache. Die Folge: Wer es aus sich herauslassen kann, im Gebet und vielleicht auch vor Zeugen, den ganzen Zorn und den Schmerz über erfahrenes Unrecht auszusprechen, wird ruhig. Ich entdecke: Es ist gesagt, was gesagt werden muss. Dann aber setze ich ein Stop. Es ist genug. Nun werde ich anders vorwärts gehen. Der Weg der Versöhnung führt häufig über das ehrliche Eingeständnis des Wunsches nach Rache und Vergeltung. Das sehr Menschliche in der Begegnung mit der schwierigen Familiengeschichte. Es begegnet uns auch auf der anderen Seite, bei den Brüdern. Obwohl ist die Brüder nicht wissen, dass sie Josef vor sich haben, den sie zunächst umbringen wollten und schliesslich verkauft haben, werden auch sie an ihre Vergangenheit erinnert. Für sie löst die ganze Begegnung massive Gewissensbisse und Schuldgefühle aus. Wir müssen büssen, was wir an unserem Bruder verschuldet haben. Wir haben ihn in seiner ganzen Not gesehen, als er um Erbarmen anflehte, aber wir haben nicht darauf gehört.
Ruben, der schon damals dagegen war, dass sie ihren Bruder umbringen, sieht das, was sie nun erleben, als Strafe für ihre Schuld. Schuldgefühle. Gewissensbisse. Auch sie gehören zum Weg, der zu einer späteren Versöhnung führen kann. Ohne Erkenntnis der eigenen Schuld wird Versöhnung nicht möglich. Es muss ausgesprochen werden: Was wir unserem Bruder angetan haben, ging zu weit. Er hat uns berechtigt gehörig auf die Nerven gegeben, aber ihn so fertig zu machen, war dennoch nicht in Ordnung. Schuldgefühle, Gewissensbisse dürfen nicht verdrängt werden. Natürlich, es gibt auch übertriebene oder falsche Schuldgefühle. Perfekt sind wir nicht, müssen es auch nicht sein. Aber bereit, echt zu erkennen, wo wir schuldig geworden sind, und es einander auch eingestehen. Die Brüder bekennen ihre Schuld. Und wissen dabei nicht, dass sie es unerkannt vor ihrem Bruder tun. Damit sind wir bei einer weiteren Beobachtung: Zum Weg der Versöhnung gehören Tränen, verborgene und auch offene. Er wandte sich von ihnen ab und weinte. So lesen wir von Josef. Er realisiert, wie schuldbewusst sich seine Brüder zeigen. Das berührt ihn. Offen steht er aber nicht zu diesen seinen Gefühlen. Dazu braucht es noch viel Zeit. Denn versöhnungsbereit ist er noch nicht. Dafür ist der Schmerz zu gross über alles, was ihm angetan worden ist. Er reisst sich emotional zusammen, lässt sich nichts anmerken und zeigt unmittelbar danach den ganz harten Mann. Der weiche Mann und der harte Mann. Auch so ein Thema im Blick auf Josef und seine Brüder. Die harte Schale, der weiche Kern. Das ist eigentlich das, was sie verbindet. Je härter die Schale, je weicher der Kern. Mann zeigt sich gegen aussen nicht gerne mit der weichen Seite. Dazu braucht es viel. Wie weich die Brüder geworden sind, realisiert Josef in ihrem Gespräch, wo sie meinen, er verstehe sie nicht. Und Gott? Was spielt er eigentlich für eine Rolle in diesem Moment, als sie ihre Familiengeschichte einholt? Es ist auf beiden Seiten eine entscheidende Rolle. Auch das verbindet. Das Stichwort dazu: Gottesfurcht.
Von Josef hören wir, dass er am dritten Tag, nachdem er seine Brüder ins Gefängnis gesteckt hatte, zu ihnen sagt: Dies tut, - den jüngsten Bruder holen - und ihr sollt am Leben bleiben, denn ich fürchte Gott. (Vers 18) Aus Respekt vor Gott verzichtet er darauf, seine Brüder für das, was sie ihm angetan haben, mit dem Tod zu bestrafen. Tief in sich weiss er, dass Gott das nicht will, wenn er sich gnadenlos rächt. Er spürt von Gott her die Herausforderung, seinen Brüder vergeben zu lernen. Und ebenso zeigt sich bei den Brüdern deutliche Gottesfurcht: Da verliess sie der Mut. Zitternd sahen sie einander an und sagten: Was hat Gott uns angetan? (Vers 28) Sie realisieren, dass die Zeit gekommen ist, wo es sich rächt, was sie ihrem Bruder angetan haben. Gott duldet kein Unrecht. Gott ist unser Richter. Wir stehen in Verantwortung vor ihm in unserem Umgang untereinander, auch in der Familie. Gott, der sich an uns rächt, uns straft. Ich bin froh, dass Gott auf diesem Gebiet nicht konsequent ist. Seine Absicht ist eindeutig nicht, dass die Brüder gestraft werden. Seine Ziel ist es, dass es zur Versöhnung kommt. Das ist die grosse Botschaft der Bibel. Die Antwort auf die Schuldfrage der Menschheit ist Jesus Christus. Wir alle sind auf Vergebung angewiesen. Wir leben aus der Vergebung Gottes. In der Folge davon sollen und können auch wir einander vergeben. Was da so einfach daher kommt, ist in der Umsetzung sehr komplex. Und da sind wir wieder bei unserer Geschichte. Und vielleicht auch bei der eigenen Familiengeschichte. Familiengeschichten sind selten nur schön. Das Schwierige kann man nicht einfach vergessen. Irgendeinmal bricht es wieder auf und manchmal ganz unerwartet. Rachegedanken melden sich, Gewissensbisse. Wir sind und bleiben einander vieles schuldig - und dies mehr als wir uns überhaupt bewusst sind. Wenn wir bei Vergeltungsgedanken und Schuldgefühlen stehenbleiben sind wir in einer Sackgasse. Es gibt einen anderen Weg. Manchmal braucht es viel Leiden, bis wir bereit sind, ihn zu gehen. Es ist der Weg zu einer Versöhnung, die nicht billig ist. Möge uns Gott dabei begleiten und stärken so, wie er es mit Josef und seinen Brüdern getan hat. Amen.