EINFÜHRUNG IN DAS NEUE TESTAMENT WISSENSWERTES ZUR BIBEL 4. Deutsche Bibelgesellschaft Katholisches Bibelwerk e.v.

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Transkript:

WISSENSWERTES ZUR BIBEL 4 EINFÜHRUNG IN DAS NEUE TESTAMENT Seine Entstehung und seine Schriften von Walter Klaiber Deutsche Bibelgesellschaft Katholisches Bibelwerk e.v.

Wissenswertes zur Bibel 4 herausgegeben von Deutsche Bibelgesellschaft Katholisches Bibelwerk e.v. Stuttgart Österreichische Bibelgesellschaft Österreichisches Katholisches Bibelwerk Schweizerische Bibelgesellschaft Schweizerisches Katholisches Bibelwerk Der Verfasser dieser Einführung, Dr. Walter Klaiber, ist Bischof der Evangelisch-methodistischen Kirche in Deutschland. ISBN-10: 3-438-06616-5 ISBN-13: 978-3-438-06616-9 2003 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart Aktualisierte Neuausgabe Gestaltung und Satz: Schwarz Grafik & Satz, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany

Zur Einführung In seinem Ersten Brief an die Thessalonicher schreibt Paulus:»Deswegen danken wir Gott unaufhörlich, dass ihr die Botschaft, die wir euch brachten, als das Wort Gottes aufgenommen habt nicht als Menschenwort, sondern als Wort Gottes, das sie tatsächlich ist!«(2,13 nach der»gute Nachricht Bibel«). Er gibt damit die entscheidenden Stichworte für das rechte Verständnis der Bibel: Gottes Wort im Menschenwort. Da kommt ein Mann nach Thessalonich, körperlich gezeichnet von den Misshandlungen durch die Behörden in Philippi (vgl. Apostelgeschichte 16,22-24), und die Menschen, die seine Botschaft von Gottes rettendem Handeln in Jesus von Nazaret hören, erkennen: In diesen Worten spricht Gott zu uns. Das blieb nicht unumstritten. Paulus selbst muss angesichts von Zweifeln an der Vollmacht und Offenbarungsqualität seiner Verkündigung sagen:»ich trage diesen Schatz in einem ganz gewöhnlichen, zerbrechlichen Gefäß«(2.Korinther 4,7). Aber er bleibt davon überzeugt, dass in seiner Botschaft Gott selbst zu Wort kommt. Luther sagt in seiner Vorrede zum Alten Testament:»Hier wirst du die Windeln und die Krippe finden, da Christus innen liegt, dahin auch der Engel die Hirten weiset. Schlechte und geringe Windeln sind es, aber teuer ist der Schatz Christi, der drinnen liegt«. Es gibt also eine Beziehung zwischen der menschlichen Gestalt des Wortes Gottes und der Menschwerdung Gottes. Dass die Bibel nicht vom Himmel gefallen ist, sondern im Lauf einer langen Geschichte durch Menschen aufgeschrieben und zusammengestellt wurde, ist darum kein Mangel, sondern Zeichen der Nähe und Zugewandtheit Gottes. Wenn wir nach der Entstehung des Neuen Testaments und seiner Schriften fragen, dann nehmen wir ihre menschliche Gestalt ernst. Wir tun das in der Überzeugung, dass sich gerade in solchen»gewöhnlichen, zerbrechlichen Gefäßen«Gottes Gegenwart offenbart und wir in den Worten von Menschen Gottes Reden vernehmen können, nämlich die befreiende und neu schaffende Botschaft vom Heil für den Menschen in Jesus Christus. 3

Aufbau und Entstehungsgeschichte A des Neuen Testaments Der zweite Teil der christlichen Bibel, das Neue Testament, besteht in allen heutigen Bibelausgaben aus 27 einzelnen, im Urtext griechisch geschriebenen Schriften. Den Anfang bilden die vier Evangelien Matthäus, Markus, Lukas und Johannes, die die Geschichte Jesu vom Beginn seiner Wirksamkeit bis zu seinem Tod und seiner Auferweckung berichten. Ihnen ist die Apostelgeschichte zugeordnet, die von der Missionsarbeit der ersten Christen erzählt. Darauf folgt eine Sammlung von 14 Paulusbriefen, zu denen in der frühen Kirche auch der Hebräerbrief gezählt wurde. Dazu treten als weitere Briefsammlung die so genannten»katholischen«briefe, deren Namen darauf hin- Neues Testament LUTHERBIBEL EINHEITSÜBERSETZUNG /GUTE NACHRICHT BIBEL Geschichtsbücher/Evangelien Matthäus Matthäus Markus Markus Lukas Lukas Johannes Johannes Apostelgeschichte Apostelgeschichte Lehrbücher/Briefe Römer Römer 1. 2. Korinther 1 2 Korinther Galater Galater Epheser Epheser Philipper Philipper Kolosser Kolosser 1. 2. Thessalonicher 1 2 Thessalonicher 1. 2. Timotheus 1 2 Timotheus Titus Titus Philemon Philemon Hebräer Jakobus 1. 2. Petrus 1 2 Petrus 1. 3. Johannes 1 3 Johannes Hebräer Jakobus Judas Judas Prophetisches Buch Offenbarung Offenbarung Die Reihenfolge der Bücher des Neuen Testaments in der Lutherbibel unterscheidet sich in den Briefen von der traditionellen Anordnung, wie sie sich in den meisten Bibelausgaben findet. 4

weist, dass sie keine bestimmte Ortsgemeinde oder Einzelperson als Adressaten, sondern eine allgemeine (griechisch: katholike) Empfängerangabe aufweisen. Ihre Reihenfolge ist: Brief des Jakobus, 1. und 2.Petrusbrief, 1., 2. und 3.Johannesbrief und Brief des Judas. Die Offenbarung des Johannes beschließt das Neue Testament. Die hier genannte Reihenfolge der neutestamentlichen Schriften finden wir in den Textausgaben des griechischen Neuen Testaments und den meisten neueren Übersetzungen. Die Lutherbibel hat jedoch bei den Briefen eine abweichende Anordnung, da Luther bei seiner Übersetzung des Neuen Testaments aus sachlichen und historischen Erwägungen den Hebräerbrief von den Paulusbriefen abrückte und zusammen mit dem Jakobusbrief vor den Brief des Judas und die Offenbarung des Johannes ans Ende des Neuen Testaments setzte. Die neutestamentlichen Schriften waren von ihren Verfassern nicht von vornherein als zweiter Teil der Bibel oder als notwendige Ergänzung der heiligen Schriften des Judentums geschrieben. Die»Schrift«als maßgebliche Autorität für alles Reden von Gottes Offenbarung umfasste für die ganze Urchristenheit das»gesetz«(d.h. die fünf Bücher Mose), die»propheten«(das sind die Bücher Samuels, der Könige und die Prophetenschriften) und die»schriften«(insbesondere die Psalmen, die Sprüche und Hiob), also die Bücher des Alten Testaments.* Daneben trat die lebendige Verkündigung von Gottes Handeln in Jesus Christus und die erzählende Überlieferung seiner Worte und Taten. Doch führten Fragen und theologische Auseinandersetzungen in den von ihm gegründeten Gemeinden einen Mann wie Paulus bald dazu, wichtige Themen und Konsequenzen seiner Verkündigung auch schriftlich in Briefen darzulegen. Diese Briefe wurden als Zeugnis der apostolischen Auslegung des Evangeliums aufbewahrt und gesammelt. Etwa zur gleichen Zeit d.h. um die Mitte des ersten Jahrhunderts wird man auch damit begonnen haben, die Überlieferung der Worte und Taten Jesu schriftlich zu fixieren, was dann nach und nach zur Niederschrift der vier Evangelien geführt hat. Auf diese Weise sind bis zum Ende des ersten Jahrhunderts die in unserem heutigen Neuen Testament enthaltenen Schriften entstanden. Doch dachte zu diesem Zeitpunkt noch niemand daran, sie als zweiten Teil der christlichen Bibel zusammenzufassen. *vgl. dazu Wissenswertes zur Bibel 3: Einführung in das Alte Testament von Siegfried Herrmann Ein kurzer Papyrusbrief, wie er zu neutestamentlicher Zeit ausgesehen hat 5

Der Weg dahin vollzog sich in drei Etappen: (1) In der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts ist weiterhin immer das Alte Testament gemeint, wenn»die Schrift«zitiert wird. Daneben treten aber als richtungsweisende Autorität die Worte des Herrn und die Lehre der Apostel. Die entsprechenden Jesusworte werden dabei meist frei zitiert, ohne dass ein bestimmtes Evangelium genannt wird. Sie lassen sich aber oft mit einem in den ersten drei Evangelien überlieferten Wort identifizieren, auch wenn sie nicht immer wörtlich damit übereinstimmen. Für die apostolische Verkündigung dient vor allem die Sammlung der Paulusbriefe als Quelle. Auch hier macht man sich aber meist nicht die Mühe, den Brief zu nennen, aus dem man zitiert. Doch finden sich erste Anzeichen dafür, dass die Autorität des»herrn«und der Apostel auf die Schriften übertragen wird, die ihre Botschaft überliefern. (2) Gegen Ende des zweiten Jahrhunderts hat sich die Situation grundlegend geändert. Der Kirche war in der Auseinandersetzung mit einer Reihe von neuen Lehren, die innerhalb der christlichen Gemeinden entstanden oder sie von außen bedrohten, bewusst geworden, dass geklärt werden musste, welche urchristlichen Schriften als maßgebend neben denen des Alten Testaments gelten sollten. Zusammen sollten sie den Maßstab (griechisch: Kanon) für die christliche Lehre bilden. Den Anstoß dazu gaben vor allem zwei Bewegungen: 1. die so genannte»gnosis«(= griechisch: Erkenntnis, vgl. schon 1.Timotheus 6,20), die eine Fülle von neuen Evangelien und Offenbarungen produzierte, 2. die Lehre des Markion, eines Mannes aus Sinope am Schwarzen Meer, der nach Rom kam, dort wegen seiner Lehren aus der Gemeinde ausgeschlossen wurde und eine eigene Bewegung gründete. Er lehnte das Alte Testament ab, weil es einen anderen Gott als den Vater Jesu Christi offenbare, und setzte an seine Stelle eine eigene Heilige Schrift, die aus einer nach seinen Vorstellungen»gereinigten«Fassung des Lukas-Evangeliums und der Paulusbriefe bestand. Die Kirche stand also vor einer dreifachen Aufgabe: Sie musste die Autorität des Alten Testaments verteidigen, gegen die Engführung Markions den wahren Umfang und den richtigen Text einer Heiligen Schrift des Neuen Testaments (d.h. des neuen»bundes«gottes mit den Menschen) feststellen und die Vielzahl der späteren gnostischen Schriften ausgrenzen. Gegen Ende des zweiten Jahrhunderts war diese Arbeit in den Grundzügen geleistet. Als maßgebend sollten auf jeden Fall die vier Evangelien und die Sammlung der Paulusbriefe gelten, dazu traten die Apostelgeschichte und die beiden gewichtigsten der»katholischen«briefe, 1.Petrus und 1.Johannes. Dieser Grundstock des neutestamentlichen Kanons hatte sich ohne eine besondere kirchenamtliche Entscheidung einfach aufgrund der allgemeinen Anerkennung in der Kirche durchgesetzt. (3) In den nächsten anderthalb Jahrhunderten (ca. 200 367 n.chr.) wurde die Arbeit der Theologen wichtig. Sie unterschieden zwischen den allgemein anerkannten, den gefälschten (meist gnostischen) und den noch umstrittenen Schriften. Letzteren widmeten sie ihre besondere Aufmerksamkeit, da sie vielfach hoch geachtet, 6

aber nicht überall anerkannt waren. Aus dem heutigen Kanon wurde vor allem über den Hebräerbrief und die Johannesoffenbarung diskutiert. Der Hebräerbrief wurde von den Gemeinden im Osten des Römischen Reiches geschätzt, im Westen aber wegen seiner Lehre von der Unmöglichkeit einer zweiten Buße abgelehnt; die Johannesoffenbarung war wegen ihrer Naherwartung im Osten umstritten, wurde aber im Westen eifrig gelesen. Von den nicht in unsere Bibel aufgenommenen Schriften fanden ein Brief des Barnabas und eine»hirt des Hermas«genannte Schrift viele Befürworter; beide stehen auch in einer der großen alten Bibelhandschriften, dem Codex Sinaiticus. Eine Seite des vierspaltigen Codex Sinaiticus (4. Jahrhundert n.chr.) Durchgesetzt hat sich dann eine mittlere Linie: Mit der Aufnahme aller sieben»katholischen«briefe, des Hebräerbriefes und der Johannesoffenbarung betonte man die Ost und West umfassende ökumenische Weite. Mit dem Hirten des Hermas und dem Barnabasbrief schloss man zwei offensichtlich erst nachapostolischer Lehre und Verkündigung angehörende Schreiben aus. 7 Den Schlusspunkt dieser Entwicklung bildete ein relativ unbedeutender Anlass. Der Bischof Athanasius von Alexandrien pflegte seinen Gemeinden in einem Osterfestbrief das genaue Datum des Osterfestes jeden Jahres bekannt zu geben und dies mit entsprechenden lehrhaften Ausführungen zu verbinden. In seinem 39.Osterfestbrief im Jahr 367 n.chr. stellte er fest, welche Schriften des Alten und Neuen Testaments in den Gemeinden Ägyptens gelesen werden sollten. Da offensichtlich die Zeit reif war für diese Entscheidung, wurde sie innerhalb der Griechisch sprechenden Kirche im Osten des Reiches weithin übernommen, ohne dass es eines ausdrücklichen Konzilsbeschlusses bedurft hätte. Nur über die Johannesoffenbarung wurde noch bis ins 10.Jahrhundert weiter diskutiert, und ein Teil der syrischen Kirche hat sie und die vier kleinen»katholischen«briefe nie in ihren Kanon aufgenommen. Im Lateinisch sprechenden Westen wurde die Entscheidung des Athanasius gegen Ende des 4. bzw. Anfang des 5.Jahrhunderts durch Synoden in Rom, Nordafrika und Gallien bestätigt und damit de facto das Neue Testament in seinem heutigen Umfang für die römisch-katholische Kirche verbindlich gemacht. Die Kirchen der Reformation haben ihn so übernommen, trotz gewisser anfänglicher Bedenken Luthers im Blick auf Hebräer-, Jakobus- und Judasbrief sowie die Johannesoffenbarung. Die Kanonsentscheidung der Alten Kirche war also kein plötzlicher, willkürlicher Schnitt, der durch irgendein Gremium vorgenommen und der Kirche