Diachron, synchron, panchron: die Erweiterung einer alten Dichotomie Martin Konvička martin.konvicka@fu-berlin.de
Eine alte Dichotomie Im Cours de linguistique générale (CLG) wird postuliert: Notwendigkeit zwingt uns nun, die Sprachwissenschaft in zwei prinzipiell verschiedene Teile zu gliedern. [ ] 1. die Achse der Gleichzeitigkeit (AB), welche Beziehungen nachweist, die zwischen gleichzeitig bestehenden Dingen obwalten und bei denen jede Einwirkung der Zeit ausgeschlossen ist, und 2. die Achse der Aufeinanderfolge (CD), auf welcher man stets nur eine Sache für sich allein betrachten kann auf der jedoch alle die Dinge der ersten Achse mit ihren Veränderungen gelagert sind. CLG (1916 [2001: 94]) Martin Konvička: Diachron, synchron, panchron: die Erweiterung einer alten Dichotomie, 17. NLK Hamburg, 1. April 2016 2
Eine alte Dichotomie Die Achse der Gleichzeitigkeit (AB) und die Achse der Aufeinanderfolge (CD) sind, laut CLG, für die Linguistik nicht gleich wichtig: Es ist nämlich klar, daß die synchronische Betrachtungsweise der andern (der diachronischen, MK), übergeordnet ist, weil sie für die Masse der Sprechenden die wahre und einzige Realität ist [ ]. die Sprechenden sind sich der früheren Äußerungen nicht bewusst CLG (1916 [2001: 107]) Martin Konvička: Diachron, synchron, panchron: die Erweiterung einer alten Dichotomie, 17. NLK Hamburg, 1. April 2016 3
Eine alte Kritik einer alten Dichotomie Die Dichotomie und die Hierarchie der beiden Achsen wurden schon früh kritisiert: Es ist eingewendet, dass es noch eine andere wissenschaftliche Betrachtung der Sprache gäbe, als die geschichtliche. Ich muss das in Abrede stellen. Was man für eine nichtgeschichtliche und doch wissenschaftliche Betrachtung der Sprache erklärt, ist im Grunde nichts als eine unvollkommene geschichtliche, unvollkommen teils durch Schuld des Betrachters, teils durch Schuld des Beobachtungsmaterials. Sobald man über das blosse Konstatieren von Einzelheiten hinausgeht, sobald man versucht den Zusammenhang zu erfassen, die Erscheinungen zu begreifen, so betritt man auch den geschichtlichen Boden, wenn auch vielleicht ohne sich klar darüber zu sein. synchronische Sprachwissenschaft ist entweder unwissenschaftlich, d.h. sie beschränkt sich auf bloßes Konstatieren von Tatsachen, oder sie ist eigentlich heimlich diachron Paul (1920: 20) Martin Konvička: Diachron, synchron, panchron: die Erweiterung einer alten Dichotomie, 17. NLK Hamburg, 1. April 2016 4
Eine Erweiterung einer alten Dichotomie I Roy Harris (1994) und sein integrationalistischer Ansatz: Sprache eingebettet in ihrem nicht-sprachlichen Kontext analysieren An integrationalist redefinition is in position to do this [redefine linguistics, MK] because it adopts a perspective which, in Saussurean terms, is neither synchronic nor diachronic but panchronic. It considers [ ] the integration of present events with past events and anticipated future events [as pertient to linguistic communication]. weder Synchronie noch Diachronie primär, sondern Panchronie plus explizite Nennung der erwarteten Zukunftsereignisse die Überbrückung der alten Dichotomie auch als 'Sprachdynamik' genannt Harris (1991: 47) Martin Konvička: Diachron, synchron, panchron: die Erweiterung einer alten Dichotomie, 17. NLK Hamburg, 1. April 2016 5
Á propos Panchronie - im CLG wird der Begriff der Panchronie auch verwendet, in dem gefragt wird: Gibt es eine panchronische Betrachtungsweise? - und die Antwort auf diese Frage, laut CLG, lautet eindeutig: nein! Der panchronische Gesichtspunkt findet niemals Anwendung auf bestimmte Tatsachen der Sprache. laut CLG sind in der Sprache entweder diachrone Vorgänge, oder synchrone Zustände, panchron sind dann höchstens die einzelnen Laute an sich CLG (1916 [2001: 113]) Martin Konvička: Diachron, synchron, panchron: die Erweiterung einer alten Dichotomie, 17. NLK Hamburg, 1. April 2016 6
Eine neuere Kritik einer alten Dichotomie Grammatikalisierungsforschung Synchrone Variation bildet die Grundlage für den künftigen Sprachwandel: nicht A B sondern eher A A/B B Let him go. Let us go. Let's go. Let's you and I take 'em for a set. Lets eat our liver now, Betty. Hopper & Traugott (2003: 10-11) ältere und neuere Formen koexistieren, d.h. ältere Sprachstufen nehmen Einfluss auf das synchrone System der Sprache nicht nur die Synchronie bildet die sprachliche Realität der Sprechenden, die sprachliche Realität ist nicht kontextlos radikal von Hopper (1987: 142) als Emergent Grammar formuliert: a continual movement towards structure, [ ] a view of structure as always provisional. Martin Konvička: Diachron, synchron, panchron: die Erweiterung einer alten Dichotomie, 17. NLK Hamburg, 1. April 2016 7
Eine Erweiterung einer alten Dichotomie II Die Realität der Sprechenden nicht nur die Synchronie oder Diachronie, sondern auch einen wahrscheinlichkeitsbasierten Blick in die Zukunft umfasst Grammatikalisierungsforschung (World Lexicon of Grammaticalization) mögliche semantische Entwicklungen: Bewegungsverb > Futurmarker implizit auch in einigen anderen historiolinguistischen Arbeiten z.b. Paul Hoppers Konzept der Emergent Grammar psycholinguistische Experimente Yuki Kamide (2008) und 'anticipatory processes' bei Satzverarbeitungen soziologische Forschung Konzept der 'komplementären Erwartungen' bei Niklas Luhmann (1984) Lars Erik Zeige (2011) Sprachwandel und sozial Systeme Martin Konvička: Diachron, synchron, panchron: die Erweiterung einer alten Dichotomie, 17. NLK Hamburg, 1. April 2016 8
Soziologische Forschung - basiert auf Theorien von Niklas Luhmann (1984) - sprachwissenschaftliche Anwendung von Lars Erik Zeige (2011) entwickelt Jede getroffene Selektion die zu Anschlusskommunikation führt, wird erwartbar und bestimmt so weitere Selektionen, die wiederum, wenn sie getroffen werden und erfolgreich sind, weitere Selektionen bestimmen. Der sich öffnende Möglichkeitsraum erwartbarer Selektionen und die getroffenen Selektionen stehen mithin in einem zirkulären Verhältnis [ ]: Die Systemgeschichte bestimmt die ereignishaften Selektionen, während die aktualisierten Selektionen in die Systemgeschichte eingehen. Strukturen sozialer Systeme sind damit nicht materiell, sondern Erwartungsstrukturen. die vergangenen Selektionen (Diachronie), haben Einfluss auf die aktuellen Selektionen (Synchronie), die wiederum die noch nicht getroffenen Selektionen beeinflussen (Zukunft) Zeige (2011: 145-146) Martin Konvička: Diachron, synchron, panchron: die Erweiterung einer alten Dichotomie, 17. NLK Hamburg, 1. April 2016 9
Grammatikalisierungsforschung Selektion 0 Let Oswald go. Selektion I Let him go. Selektion II Let us go. Selektion III Let's go. Selektion IV Let's you and I take 'em for a set. Selektion V Lets eat our liver now, Betty. Selektion VI Lets wash your hands, Peter.... die durch vergangene Selektionen entstandenen Erwartungen können entweder erfüllt, enttäuscht oder auch nur teilweise erfüllt/enttäuscht werden Innovation möglich durch Variantentoleranz, d.i. die Möglichkeit nur teilweise erfüllter/enttäuschter Erwartungen Hopper & Traugott (2003: 10-11) Martin Konvička: Diachron, synchron, panchron: die Erweiterung einer alten Dichotomie, 17. NLK Hamburg, 1. April 2016 10
Psycholinguistische Experimente die Erwartungen der Sprechenden können in gewissem Maße gemessen werden: anticipatory processes, priming effects, garden-path sentences, etc. 1a) The boy swam under... 1b) The boy slept under aus semantischen Gründen ist das Verarbeiten von '...bridge' schneller nach (1a) 2a) The reporter exposed corruption in the article. 2b) The reporter exposed corruption in the government. aufgrund von sog. content-based predictions wurde (2a) schneller verarbeitet [P]articular content of a sentence evokes expectations for the on-line processing of constituents in advance of the input that fully specifies the constituent, and that violations of these expectations result in a slowing of processing. Kamide (2008) Martin Konvička: Diachron, synchron, panchron: die Erweiterung einer alten Dichotomie, 17. NLK Hamburg, 1. April 2016 11
Eine Zusammenfassung einer Präsentation Postulat der (reinen) Synchronie aus dem CLG kritisiert Diachronie als Abfolge von synchronen Zuständen auch kritisiert Versuche die Dichotomie zu überbrücken (Panchronie, Sprachdynamik) selten explizit, impliziert wird die Zukunftsachse relativ häufig um Sprachwandel genau zu beschreiben, wäre neben der synchronen Achse (AB) und der diachronen Achse (CD) noch eine Verlängerung der diachronen Achse, um ihre mögliche, erwartbare Fortsetzung (D+) sinnvoll Martin Konvička: Diachron, synchron, panchron: die Erweiterung einer alten Dichotomie, 17. NLK Hamburg, 1. April 2016 12 +
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Martin Konvička: Diachron, synchron, panchron: die Erweiterung einer alten Dichotomie, 17. NLK Hamburg, 1. April 2016 13
Bibliographie Harris, Roy. 1991. On redefining linguistics. In Hayley G. Davis & Talbot J. Taylor (eds.) Redefining linguistics. London/New York: Routledge. 17-68. Heine, Bernd & Tania Kuteva, 2004. World Lexicon of Grammaticalization. Cambridge: Cambridge University Press. Hopper, Paul J. 1987. Emergent grammar. In Joe Aske; Natasha Beery; Laura Michaelis & Hana Filip (eds.) Berkeley Linguistics Society. Proceedings of the Thirteenth Annual Meeting, February 14-16, 1987: General Session and Parasession on Grammar and Cognition. Berkeley: Berkeley Linguistics Society. 139 157. Hopper, Paul J. & Elizabeth Closs Traugott. 2003. Grammaticalization. Cambridge: Cambridge University Press. Kamide, Yuki. 2008. Anticipatory Processes in Sentence Processing. Linguistics and Language Compass, 2 (4). 647 670. Luhmann, Niklas. 1984. Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Paul, Hermann. 1920. Prinzipien der Sprachwissenschaft. 5. Auflage. Halle an der Saale: Max Niemeyer. Saussure, Ferdinand de. 2001. Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft. 3. Auflage mit einem Nachwort von Peter Ernst. Herausgegeben von Charles Bally & Albert Sechehaye unter Mitwirkung von Albert Riedlinger. Übersetzt von Hermann Lommel. Berlin/New York: De Gruyter. Saussure, Ferdinand de. 1916. Cours de linguistique ge ne rale. Publie par Charles Bally & Albert Sechehaye. Avec la collaboration de Albert Riedlinger. Lausanne: Payot. Zeige, Lars Erik. 2011. Sprachwandel und soziale Systeme. Hildesheim: Olms. Martin Konvička: Diachron, synchron, panchron: die Erweiterung einer alten Dichotomie, 17. NLK Hamburg, 1. April 2016 14