Berufsfindungsprozesse zwischen der Primarschule und der Erwerbstätigkeit: Konzepte - Befunde - Unterstützungsmöglichkeiten Prof. Dr. Markus Neuenschwander 1. Ausgangslage 2. Determinanten der Selektion in die Sekundarstufe 3. Selektion in die Berufsbildung 4. Selektion an der 2. Schwelle 5. Schlussfolgerungen 1. Ausgangslage In Schulübergängen und Selektionsprozessen werden Jugendliche in Schulniveaus und Bildungskanäle zugeordnet und damit unterschiedlich gefördert. Die Bildungsabschlüsse führen Jugendliche verschiedenen Segmenten des Arbeitsmarktes zu und beeinflussen den beruflichen Erfolg. Durch Selektion üben Schulen Macht und Wirkung auf Schülerkarrieren aus. Ziele der Volksschule sind breit und wenig berufsbezogen. Curriculare Bildungsziele (Abschlussorientierung) vs. Vorbereitung auf Erwerbsleben (Anschlussorientierung). EDK-Beschluss: 95% erreicht Sek II-Abschluss. Dies wurde knapp noch nicht erreicht. 2
3 2. Determinanten von Übertrittsentscheiden und Bildungsverläufen Der Wert der Meritokratie verlangt, dass die besten erfolgreich sein und schulisch Karriere machen sollen. Selektionsentscheide sollen von askriptiven Merkmalen wie Geschlecht, Migrationshintergrund und soziale Herkunft unbeeinflusst sein leistungsbasierte Selektion. Elternmitwirkung verstärkt soziale Ungleichheit. Aber Parental involvement-forschung zeigt: Elternmitwirkung bei Schulentscheidungen wirkt sich auf die Kompetenzentwicklung der Kinder günstig aus. Soziales Schülerverhalten im Unterricht (Disziplinprobleme, Kooperation, überfachliche Kompetenzen) beeinflusst Übertrittsentscheid in Sekundarstufe I und II. 4
Ergebnisse Noten und Leistungen in Mathematik und Deutsch beeinflussen den Übertritt in die Sekundarstufe I wesentlich. Allerdings bestimmen die Bildungserwartungen von Eltern den Übertrittsentscheid stärker als die Noten/Leistungen. Bei gleichen Noten/Leistungen und Elternerwartungen werden verhaltensauffällige Kinder eher der Realschule statt der Sekundarschule zugeordnet (Neuenschwander & Malti, 2008). Schulische Kompetenzen sind beim Übertritt in die Sekundarstufe I wichtig. Doch wird ihre Bedeutung durch Elternerwartungen überlagert bzw. durch Verhaltensauffälligkeiten unterlaufen. Wie wichtig sind schulische Kompetenzen beim Sek II-Übertritt? 5 Vorhersage von Bildungsverläufen von der Primarstufe in die Sek II SES 24%.20 Einkommen E-Erwartung.39.29.21.11 ns.48.31 Gym vs. VET 43% E-Ausbildung.24 Mathtest 9% 6. Klasse 10. Klasse (Chi 2 =3.5, df=2, ns. CFI=.99, RMSEA=.07, N=180) 6
Ergebnisse 1. Bildungserwartungen von Eltern (6. Sj) beeinflussen die Entscheidung Gymnasium vs. Berufsbildung stärker als schulische Leistungen (Trefferquote: 77%). 2. Lehrpersonen können insbesondere Kinder mit Migrantenbiografie im Berufswahlprozess unterstützen! 3. Die langfristig bedeutsamen Determinanten von Bildungsverläufen konnten in USA repliziert werden Universalität. 4. Wie sehr sollen Schulkarriereentscheidungen von fachlichen, wie sehr von überfachlichen Kompetenzen bestimmt sein? 7 3. Selektionsprozesse beim Übergang in die Berufsbildung Timing: Je rascher der Berufs- und Lehrstellenwahlprozess abläuft, desto besser sind die Marktchancen. Lizentiatsarbeit von Nathalie Wismer: Befragung von 273 Berufsbildenden in den Kantonen Bern und Luzern (Winter 2008). Welche Selektionskriterien verfolgen Berufsbildende in den Branchen Handel, Wirtschaft und Verwaltung, Baugewerbe Kontroversen um die Bedeutung von Selektionskriterien: fachliche vs. überfachliche Kompetenzen 8
Wichtigkeit von Selektionskriterien unentschuldigte Absenzen ** entschuldigte Absenzen ** Selektionskriterien Sozial- und Selbstkompetenzen Selektionshilfen Methodenkompetenzen * * *** Handel Wirtschaft und Verwaltung Bau schul. Fachkompetenzen *** bes. Eigenschaften * 3 3.5 4 4.5 5 5.5 6 Wichtigkeit (1-6) (Neuenschwander & Wismer, 2010) 9 Gewichtung der Sozial- und Selbstkompetenzen (N=242) Motivation (N=243, Mittel=5.63) 37 63 Pünktlichkeit (N=242, Mittel=5.48) 5 42 53 Teamfähigkeit (N=243, Mittel=5.47) 3 47 50 Angenehme Umgangsformen (N=243, Mittel=5.43) 3 51 46 Fleiss und Pflichtbewusstsein (N=242, Mittel=5.43) 2 52 45 Persönlichkeit (N=242, Mittel, 5.08) 1 16 57 26 Kontaktfreudigkeit (N=243, Mittel=5.02) 3 21 47 29 Unternehmungsgeist (N=241, Mittel=4.63) 7 34 46 12 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% überhaupt nicht wichtig nicht wichtig eher nicht wichtig eher wichtig wichtig äusserst wichtig 10
BEN K4: Kriterien bei Personalentscheidungen Sie befinden sich in der Situation eine/n Mitarbeiter/in einstellen zu wollen. Dabei müssen Sie zwischen zwei Bewerbern wählen, die in allen Merkmalen gleich sind (Dilemma-Situation). (N=228) 21.5% Bildungszertifikat Hervorragende Grundausbildung vs. stete Weiterbildung 78.5% 3.7% Formalität des Lernens hoher Bildungsabschluss vs. Berufserfahrung 96.3% 70.1% Fachlichkeit der Kompetenzen Teamfähigkeit vs. fachliche Kompetenzen 29.9% Persönlichkeit 92.5% 17.3% 6.6% Eignung Verantwortungsbewusstsein vs. Talent Berufliche Voraussetzungen Berufliche Passung vs. berufliche Kompetenzen Steuerung von Arbeitsabläufen Risikobereitschaft vs. Organisationstalent 7.5% 82.7% 93.4% Kompetenzen 40.2% Zusammenarbeit im Arbeitsalltag Dienstleistungsorientierung vs. praktische Auffassungsgabe* 59.8% 11 (Neuenschwander & Hermann, 2013) Zur Bedeutung der fachlichen Leistungen im Lehrstellenmarkt Berufsbildnerbefragung: Selbst- und Sozialkompetenz gehören zu den wichtigsten Kriterien bei der Lehrstellenvergabe. Die Bedeutung der schulischen Leistungen unterscheidet sich je nach Beruf. TREE-Analysen: mässig gute Vorhersage des Sek-II Abschlusses aufgrund der Leseleistungen in PISA 2000 (Stalder, Meyer, Hupka-Brunner, 2008). Die Selektion in der Schule basiert auf anderen Regeln und Kriterien als die Selektion im Lehrstellen-/Arbeitsmarkt. 2. Chance für schulleistungsschwache Kinder. Schulleistungsschwache Kinder haben weniger berufliche Optionen als schulleistungsstarke Kinder. Sie können durch gute überfachliche Kompetenzen dieses Defizit teilweise kompensieren. 12
Fazit Überfachliche Kompetenzen sind in der Lehrlingsselektion in den Branchen Handel, Wirtschaft und Verwaltung, Baugewerbe wichtiger als fachliche Kompetenzen (v.a. in Handel)! Keine Unterschiede nach Betriebsgrösse! 13 4. Berufliche Sozialisation beim Eintritt in die Berufsausbildung (SoLe) Wenn zwischen Person und Ausbildungsumwelt eine Passung entsteht, ist der Übergang erfolgreich. Passung erhöht Motivation, Ausbildungszufriedenheit, Produktivität und Leistungen, aber begünstigt auch die weitere berufliche Entwicklung (Berufswechsel, Jugendarbeitslosigkeit). Passung bildet eine Intelligenzleistung (Eccles: stage-environment-fit). Passung bildet ein Ergebnis eines erfolgreichen Berufswahlprozesses, aber resultiert auch aus schulischen und sozialen Kompetenzen. SBFI-finanzierte Längsschnittstudie Sozialisationsprozesse beim Eintritt in die Berufslehre (SoLe) 14
Ergebnisse Längsschnittanalysen belegen, dass nicht die Noten, sondern die intelligente Anpassungsfähigkeit (z.b. gute Lehrpersonenbeziehung, Popularität in der Klasse, ausgeprägte Selbststeuerung und Konzentration) den Verlauf der beruflichen Sozialisation nach Eintritt in die berufliche Grundbildung beeinflussen. eine hohe Passungswahrnehmung von der sozialen Integration in den Lehrbetrieb und der Aufgabenlösung im Beruf abhängt. Die Schule bereitet Jugendliche auf die berufliche Grundbildung vor, indem sie diesen nicht primär Fachwissen vermittelt, sondern die Fähigkeit, sich an die neuen Arbeitsplatzanforderungen aktiv anzupassen bzw. diese nach ihren Fähigkeiten mitzugestalten. 15 b) Berufseinstieg als soziale Herausforderung für Jugendliche Verlust von Gleichaltrigenbeziehungen Höhere/andere Leistungsanforderungen Veränderung des Tagesrhythmus Anpassung an neue Ausbildungssituation (neuer Status als «Mitarbeiter», neue Aufgaben, neuer betrieblicher Kontext usw.) Gibt es einen Praxisschock? 16
SoLe: Veränderung der Passungswahrnehmung nach Eintritt in die Lehre 6 5.5 5 4.5 4 3.5 3 2.5 2 1.5 1 9. Sj Aug Sept Okt Nov Dez Jan Cluster 1 (N=131) Cluster 2 (N=137) Cluster 3 (N=31) 17 Zwischenfazit Es finden sich keine Hinweis für einen Praxisschock. Die Berufsvorbereitung gelingt in der Regel gut. Es gibt aber eine grosse Gruppe von Jugendlichen, die sich im Lehrbetrieb sozial nicht integrieren können. Diese sind gefährdet, den Lehrvertrag aufzulösen. Die Jugendlichen können sich in Volksschule auf die Berufsausbildung vorbereiten, indem sie positive Beziehungen zu Erwachsenen pflegen, die Selbststeuerung trainieren, um die Bedeutung des sozial angepassten Verhaltens wissen. Berufsfachschulen können Jugendlichen die Verhaltensanforderungen kommunizieren und gegebenenfalls trainieren. 18
5. Selektion beim Übergang von der Berufslehre in den Arbeitsmarkt An der 2. Schwelle treten Jugendliche nach einer jahrelang hoch strukturierten Ausbildungssituation in einen deregulierten freien Arbeitsmarkt. Weil die Arbeitslosenquote in der Schweiz tief ist, haben die Jugendlichen einen recht grossen Entscheidungsspielraum hohe Bedeutung der Leistungsmotivation für Karriereplanung Lehrabschlussnote erklärt Jugendarbeitslosigkeit nicht 19 Ausblick: Durchfallquote LAP (1. Versuch) Berufliche Grundbildung Durchfallquote in % Total Männer Frauen Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis EFZ 9.3 11.1 6.8 Eidgenössisches Berufsattest EBA 4.7 5.1 4.4 Anderes Fähigkeitszeugnis (nicht BBG) 7.8 17.4 5.7 Wirtschafts-/Handels-/Informatikmittelschulen 10.4 12.3 8.4 Anlehre 3.5 2.1 10.5 Total 9.0 10.7 6.7 Grosse Unterschiede der LAP Durchfallquoten zwischen Kanton, Beruf, Geschlecht (Neuenschwander et al., 2012) 20
Häufigkeiten der Anschlusslösungen nach LAP in % (BEN) K2: Entscheidungsstand 22 12.6 40 schulisch erwerbstätig Zwischenlösung 55.8 31.6 noch keine Ahnung keine sichere Zusage definitive Zusage 38 21 6. Schlussfolgerungen Obwohl sich Bildungssysteme geöffnet haben, Durchlässigkeit erhöht worden ist, sind Bildungsverläufe in der Schweiz früh festgelegt. Die Anforderungen in der Schule orientieren sich am Bildungssystem, aber die der beruflichen Grundbildung am Wirtschaftssystem. Neben fachlichen Kompetenzen und familiärer Unterstützung sind soziales Verhalten und Selbst- und soziale Kompetenzen im Lehrstellenmarkt und bei schulischen Selektionsprozessen zentral. Nicht nur schulische Kompetenzen fördern, sondern genau so wichtig ist die Förderung von überfachlichen Kompetenzen, gerade auch bei schulleistungsschwachen Kindern/Jugendlichen. Entsprechende Trainingsprogramme (unter Elterneinbezug!) könnten Wege gegen Drop-out weisen. Berufsberatung und Schule sollte bei komplexeren Fällen intensiver begleiten. 22
Handlungsbedarf Es fehlen Konzepte und Praxen zur Beurteilung von überfachlichen Kompetenzen (Selbst-, Sozialkompetenz, Arbeitsverhalten u.a.) in der Schule. Assessments bei (Lehr-)Stellenvergabe erlauben die Beurteilung von überfachlichen Kompetenzen BESKA-Projekt zur Beschreibung, wie AG-Lehrpersonen Prädikate für Zeugnisergänzung vergeben 23 Vielen Dank! Forschungszentrum Lernen und Sozialisation Literatur: www.fhnw.ch/ph/zls www.fhnw.ch/personen/markus-neuenschwander markus.neuenschwander@fhnw.ch