Alt Lübeck und die Steinkirche



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Transkript:

Alt Lübeck und die Steinkirche Rekonstruktionsmodelle Mieczysław Grabowski Alt Lübeck wurde als eine der zahlreichen Burgen des slawischen Stammes der Abodriten im Jahre 819 auf der Halbinsel zwischen Schwartau und Trave gegründet. Im Gegensatz zu den vielen Burgen der westlichen Elbslawen, deren Existenz im 10. Jahrhundert endete, überlebte Alt Lübeck die Zeiten der Machtkonzentration, wurde vom Fürst Gottschalk aus der Geschlecht der Nakoniden (1043 1066) ausgebaut und neben weiteren Orten als Stützpunkt für seine Missionszwecke benutzt. 1 Gottschalk, im christlichen Glauben erzogen, nahm sich die Christianisierung der Elbslawen zum Ziel. In Oldenburg erneuerte er das alte Bistum, in Mecklenburg und in Ratzeburg gründete er zwei neue. Laut Adam von Bremen ließ er in mehreren Orten, so auch in Alt Lübeck, Klöster bauen. In diesem Zusammenhang erwähnte der Chronist erstmals auch den Namen der Burg Liubice. Die Slawenmission endete jedoch im Jahre 1066 mit einer Katastrophe: In einem antichristlichen Aufstand kam Gottschalk ums Leben, alle Kirchen und Klöster im Slawenland wurden zerstört, die Geistlichen vertrieben. Bei seiner Machtergreifung wählte Heinrich (1093 1127), Gottschalks Sohn, Alt Lübeck zum Hauptort seines Reiches, das von der Kieler Förde bis zum Oderbruch reichte. Dank Unterstützung des Herrschers wuchs er zu einem Siedlungskomplex heran, der neben einer Burg mit Hafen noch aus zwei Vorburgsiedlungen bestand. Heinrich, dem die Bedeutung des Handels und die damit verbundenen Profite wohl bekannt waren, gründete für die fremden Kaufleute eine weitere Siedlung auf dem jenseitigen Traveufer. Für die freie Ausübung ihrer Religion gestattete er ihnen sogar, eine Kirche inmitten der Kolonie zu bauen. In der Ausübung des christlichen Glaubens war Heinrich allerdings viel vorsichtiger als sein Vater. Der antichristlichen und antisächsischen Opposition bewusst, verzichtete er auf die Missionierung der Elbslawen. Lediglich für sich selbst und für die eigene Familie ließ er, als einzige im ganzen Slawenland, in Alt Lübeck eine kleine Kirche errichten. Erst um 1126 beauftragte er den Priester Vicelin mit der Christianisierung seines Volkes, was zu seinem Sturz 1127 führen soll. In den über 30 Jahren seiner Herrschaft ist es Heinrich durch seinen persönlichen Einsatz gelungen, zwischen den expandierenden Königreichen der Dänen und der Deutschen einen Staat der Slawen aufzubauen und zu erhalten. Sein ausgedehntes Herrschaftsgebiet wurde oben beschrieben. Der überregionale Rang und die Position, welche Heinrich genoss, werden durch die Titulierung von Helmold von Bosau als rex slavorum ersichtlich. Seinen Herrschaftsanspruch unterstrich Heinrich durch die eigene Münzprägung. Auch der Bau der Kirche, zuerst aus Holz, später aus Stein, sollte den Rang des Machthabers betonen. Die aus den Kirchengräbern stammenden reichen Beigaben wie Fingerringe, Schläfenringe oder Fibeln, alle aus purem Gold, weisen die Kirche eindeutig als Grabstätte der königlichen Familie aus. Zugleich unterzeichnet dies die Stellung und Aspirationen des Herrschers beim Aufbau eigener Dynastie. Die Fundamente der Kirche in Alt Lübeck wurden bei der ersten Grabung im Jahr 1852 entdeckt, freigelegt und untersucht (Abb. 1). 2 Im Kircheninnenraum fand der erste Ausgräber, Pastor Klug, sieben meist zerstörte Bestattungen mit zahlreichen Beigaben aus Gold. Die Goldfunde waren auch der Grund dafür, dass bis 1867 bei Nachgrabungen der Kircheninnenraum dreimal umgegraben wurde. Dabei fand man noch weitere goldene Preziosen. Die Dokumentation dieser Ausgrabungen und somit der Kirche Einführung 1 Die historischen Quellen sowie Grabungsergebnisse bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts wurden von Werner Neugebauer in seiner Monographie ausgewertet (1964/65). Die Ergebnisse der folgenden Forschung sind von H. H. Anderson (1988 und 1992), T. Kempke (1988), D. Meier (1993) und M. Grabowski (2002) vorgelegt. 2 Neugebauer 1964/65, dort frühere Literatur. Die Entdeckung und Erforschung der Kirche 77

Abb. 1: Das Fundament der steinernen Kirche in Alt Lübeck von Westen. Abb. 2: Steingerechte Aufnahme des Fundaments von der Steinkirche in Alt Lübeck. Abb. 3: Kreuzförmiger Grundriss der Holzkirche in Alt Lübeck. ist uneinheitlich. Während die Beschreibung bis heute als ausführlich und detailliert gilt, lässt die zeichnerische Dokumentation mit schematischer, nicht steingerechter Aufnahme des Kirchenfundaments viele Wünsche offen. Von fotografischen Aufnahmen fehlt jede Spur. Für die nachfolgenden Jahrzehnte galt bei den Ausgräbern die Alt Lübecker Kirche als ausreichend untersucht und für eine neue Grabung ungeeignet. Eine Ausnahme stellt ein Schnitt von 1937 dar, worüber später berichtet wird. Die Schwerpunkte der zahlreichen Grabungen lagen bei der Erforschung des Walles, des Innenraums, der südlichen und westlichen Vorburgsiedlungen. So wurden nebenbei in den Jahren 1948 49 der Be 78

reich um die Einzelmauer untersucht 3 und 1949 ein Schnitt durch die Apsis ausgeführt, wobei die Apsismauer unberührt blieb. 4 Gleichzeitig wurden die Fundamente neu vermessen und erstmals steingerecht aufgenommen (Abb. 2). Erst 1977 wurde die nordöstliche Partie der Kirche untersucht, was zur Entdeckung der älteren Kirche aus Holz führte. 5 Ihr kreuzförmiger Grundriss wurde während der Grabungen 1988 sowie 1999 2001 verfolgt (Abb. 3). 6 Nach der Entdeckung der Holzkirche konzentrierte sich das Interesse der Forscher auf die Frage nach der Datierung der beiden Kirchen. Die Steinkirche ist im allgemeinen in Ost-West-Richtung, mit einer leichten WNW/OSO-Abweichung orientiert. Sie lässt sich als langrechteckiges Schiff mit einem Innenmaß von lediglich 12 7,5 m erkennen. Im Osten befinden sich zwei kurze Querwände mit einer Länge von je 2 m und eine halbrunde Apsis mit einer Tiefe von 2,8 m. Die Mauerstärke variiert von 0,9 1,4 m bei der Apsis, 1,4 1,6 m bei den Seitenwänden bis 2,45 m bei der Westwand. Das Fundament des Schiffes besteht aus drei, das der Apsis aus zwei Steinlagen (0,7 0,8 m). Dabei wurden außen große Steine, innen unregelmäßig kleine gelegt (Abb. 4). Als Bindungsmittel soll Lehm verwendet worden sei, von dem fast keine Spuren verblieben sind. Es wurde kein Mörtel nachgewiesen. Als Baumaterial wurden vor allem unbehauene und nur wenige behauene Steine verwendet. In der Westwand konnten Ziegelfragmente beobachtet werden. Pastor Klug berichtet über einen Estrich aus Kalk und Sand, der sich im Inneren der Kirche befand. Diese Information konnte bei den späteren Grabungen leider nicht mehr bestätigt werden. In einer Entfernung von 4,5 m westlich vom Kirchenschiff, fast parallel zur Westwand, liegt eine starke Einzelmauer mit einer Breite von 1,9 2,35 m und der gleichen Länge wie die Westwand der Kirche. Die Einzelmauer weist die gleiche Bauweise sowie Fundamentierung auf wie die Mauern des Schiffs. In Innenraum der Steinkirche wurden Überreste von insgesamt zehn meist zerstörten Bestattungen angetroffen; von diesen sind die Gräber 11 und 12 wegen ihner Lage der Holzkirche zuzurechnen. Zwei weitere lagen außerhalb des Gotteshauses (Abb. 5). Bei einem Skelett (Grab 8) befand sich neben dem Finger der linken Hand ein goldener Tebalkutani- Ring. Solche Ringe wurden von Männern getragen, die zum Adel oder zur Geistlichkeit gehörten. Wohl als prominentester Träger ist Kaiser Lothar III. mit einem solchen Ring im Jahre 1137 in Königslutter begraben worden. Aus den zerstörten Gräbern stammen weitere hervorragende Funde, darunter vier verzierte Fingerringe, sieben Schläfenringe, eine Nadel sowie zwei Fibeln. Alle Funde sind aus purem Gold (Abb. 6). Die Aufstellung der Funde beweist, dass neben zwei Kindergräbern, die durch die Grabung von 1977 nachgewiesen worden sind, in der Kirche sowohl männliche, als auch weibliche Personen bestattet wurden. Abb. 4: Schnitt durch die Nordwand der Steinkirche im Fundamentbereich. 3 Der Schnitt wurde direkt nach dem 2. Weltkrieg von der polnischen Archäologin Aleksandra Karpińska ausgeführt und erst später von T. Kempke (1984) ausgewertet und publiziert. 4 Hübener 1980. 5 Die im Jahr 1977 freigelegten Befunde wurden zuerst zwei größeren Holzbauten zugesprochen (Andersen 1980). Erst die Ergebnisse der Grabung vom 1988 ließen ihn diese Annahme zu Gunsten einer Holzkirche revidieren (Andersen 1992). 6 Bei der Grabung 1988 wurde der Grundriss des Chores von Andersen weiter verfolgt (Andersen 1992). Im Jahr 1999 konnte die Südostecke des Chores, im nächsten Jahr ein Teil der Nordwand des Schiffes nachgewiesen werden (Grabowski 2002 und 2009). Im Jahr 2001 wurden mehrere Schnitte entlang der südlichen Kirchenwand ausgeführt, die jedoch keine Befunde erbrachten, die zu der Holzkirche gehört hätten. Abb. 5 (links): Die Grundrisse der beiden Kirchen in Alt Lübeck mit Lage der Gräber. Abb. 6 (unten): Goldfunde, geborgen im Bereich der Kirche in Alt Lübeck. 79

Ein weiterer Bodenfund steht in direkter Verbindung mit den christlichen Praktiken in einer der Kirchen. Bei den Ausgrabungen 1977 und 1999 wurden zwei Teile einer Platte aus Elfenbein oder Walrosszahn geborgen, die mit einer Kreuzigungsszene verziert ist. Abgebildet ist Christus am Kreuz und eine weibliche Figur, wohl Maria, an seiner rechten Seite. Der traditionell auf seiner linken Seite dargestellte Johannes fehlt (Abb. 7). Rekonstruktion der Steinkirche Abb. 7: Kreuzigungstafel, geborgen im Bereich der Kirche in Alt Lübeck. Abb. 8: Rekonstruktion der Kirche in Alt Lübeck. Für die Rekonstruktion der Kirche mit dem Steinfundament stehen zum einen die Schriftquellen, zum anderen die Bodenbefunde zur Verfügung. Obwohl Helmold von Bosau in seiner Chronik der Slawen die Kirche in Alt Lübeck sehr oft erwähnt, fehlen dabei Informationen zu ihrem Aussehen. Lediglich in einem einzigen Dokument befindet sich eine spärliche Angabe zum Äußeren der Kirche: in einem Brief von Sido (Epistola Sidonis), Probst aus Neu Münster, wird die Kirche ecclesia lapidea genannt. Obwohl diese Nachricht im Jahre 1195 oder 1196, also fast 60 Jahre nach der Zerstörung Alt Lübecks 1138, entstanden ist, wird ihr Inhalt von den Wissenschaftlern nicht in Frage gestellt. Bei dem Bodenbefund handelt es sich, wie bereits erwähnt, um ein Fundament, das nach dem Kirchenabbruch übrig blieb. Das Fundament ist sehr gut erhalten und in seiner Erscheinung homogen. So lassen sich keine Aussparungen von eventuellen Pfosten erkennen. Diese Tatsache, seine Breite als auch die massive Bauweise erlauben die Annahme, dass beim Bau der Kirche als Baumaterial ausschließlich Steine verwendet wurden. Die Angaben der Schriftquellen kombiniert mit den Grabungsergebnissen lieferten die Grundlage für die bisher einzige Rekonstruktion der Kirche, die bereits 1919 publiziert wurde. 7 So wurde die Kirche von Alt Lübeck als eine einfache Kapelle aus Feldsteinen visualisiert. Sie soll aus einem Schiff mit halbrunder Apsis im Osten und einem mächtigen Turm im Westen bestanden haben (Abb. 8). Dabei hat man sich offensichtlich an den ältesten Steinkirchen im Lande, zum Beispiel in Bosau, orientiert. Die vorgestellte Kirchenrekonstruktion wurde von den Forschern nicht vollständig akzeptiert. Während Stein als Baumaterial (die halbrunde Apsis konnte nur gemauert sein), sowie das Aussehen des Schiffes und der Apsis keine Beanstandung in der Fachliteratur fanden, wurde der massive Turm aus Stein, dessen Existenz auf der Einzelmauer gründet, abgelehnt. 8 Denn tatsächlich stellt die Einzelmauer für die Kirchenrekonstruktion ein Problem dar. Sie wurde auf gleiche Weise und aus gleichem Material wie die Mauern des Schiffs gebaut. Weiterhin weist sie die gleiche Stärke und fast gleiche Länge wie die Westwand auf und nimmt eindeutig Bezug auf sie. Das spricht für ihre Gleichzeitigkeit mit dem Schiff. Sie steht aber als geschlossenes Mauerwerk ohne eine sichtbare Verbindung zum Schiff, weder aus Stein, noch aus Holz, allein da. Auch die Autoren der Rekonstruktion waren sich selbst des eigenen Vorschlags nicht ganz sicher, denn über die Einzelmauer im Westen schrieben sie: vielleicht Grundmauer für einen turmartigen Bauteil. Sonst finden sich in ihrer Arbeit keine Hinweise zur Rekonstruktion. 9 Der Turm war Grund für die Kritik von Kamphausen, 10 der mit der von Balzer und Bruns vorgelegten Rekonstruktion nicht einverstanden war, und im Jahre 1937 ein Kontrollschnitt zwischen dem Kirchenschiff und der Einzelmauer unternahm. Er suchte vergeblich nach einer nördlichen Fundamentmauer des Turmes. Durch die Grabungsergebnisse bestätigt, widerspricht Kampfhausen der Rekonstruktion mit dem Turm. Er sieht hier, ähnlich wie R. Haupt, eine offene, laubenartige Vorhalle, ohne eine zeichnerische Rekonstruktion zu präsentieren. Im Jahr 1964/65 veröffentliche W. Neugebauer die erste und bis heute einzige Monographie über Alt Lübeck. Zu der Kirchenfrage präsentierte er den Forschungsstand und bildete die Rekonstruktion von Balzer/Bruns wieder ab. Er stellte aber keine neuen Rekonstruktionsversuche vor. Die Rekonstruktion wurde weiter verwendet, obwohl der Turm in dieser Form 80

Abb. 9: Die Stele mit dem Modell der Steinkirche auf dem Wall in Alt Lübeck. Abb. 10: Die Steinkirche in Alt Lübeck mit einer Vorhalle. sehr umstritten war. Das gipfelte Ende der 60er Jahre in der Aufstellung einer Stele mit dem Modell der Kirche auf dem Wall in Alt Lübeck (Abb. 9). Gegen den so massiv rekonstruierten Turm sprechen zwei Hauptargumente. Erstens fehlen die Verbindungen, welcher Art auch immer, zwischen Schiff und Einzelmauer. Sie konnten auch durch die Nachgrabung nicht nachgewiesen werden. Zweitens ist die Einzelmauer ein geschlossenes Mauerwerk ohne Ansätze von Mauern nach Osten. Das zweite Argument weist eher auf eine andere Lösung hin, auf einen offenen Vorbau. Dafür spricht auch die Gleichzeitigkeit der Einzelmauer und des Schiffs, die aus der Gleichheit des Materials und der Bauweise sowie der Maße der Befunde resultiert. Die Breite sowie die massive Bauweise der Einzelmauer widersprechen allerdings einem leichten Vorbau. Dennoch erscheint mir die Existenz eines narthex-artigen Laubenvorbaus, wie ihn bereits R. Haupt und A. Kamphausen benannt haben, viel wahrscheinlicher als eines Turmes. Daher möchte ich die folgende Rekonstruktion der Steinkirche aus Alt Lübeck zur Diskussion stellen (Abb. 10). Sie soll wenigstens als Alternative zum bisherigen Vorschlag betrachtet werden. Ihre Höhe, sowie die Lage und Größe der Fenster beziehen sich auf die Kirchen in Bosau und Süsel. Die Lage des Eingangs ist aus dem Befund nicht ersichtlich. Er musste aber, wie schon R. Haupt festlegte, im Westen gelegen haben. Auf die Darstellung von Details wie eines Dachreiters, der Bedachungsart usw. wurde verzichtet. 7 Balzer/Bruns 1919, Abb. S. 1. 8 Haupt 1925, 164. 9 Wie Anm. 7. 10 Kamphausen 1938, 116 ff. Mieczysław Grabowski M. A. Bereich Archäologie und Denkmalpflege Meesenring 8, D-23566 Lübeck mieczyslaw.grabowski@luebeck.de 81

Literatur Andersen, Henning Hellmuth: Neue Grabungsergebnisse 1977 zur Besiedlung und Bebauung im Innenraum des slawischen Burgwalles Alt Lübeck; in: Lübecker Schriften zur Archäologie und Kulturgeschichte 3, 1980, 39 50. Andersen, Henning Hellmuth: Alt Lübeck. Zu den Grabungsergebnissen 1977 1986; in: Lübecker Schriften zur Archäologie und Kulturgeschichte 13, 1988, 25 59. Andersen, Henning Hellmuth: II Neue Erkenntnisse zu Bau- und Kulturgeschichte Lübecks. Die Holzkirche zu Alt Lübeck; in: Lübecker Schriften zur Archäologie und Kulturgeschichte 22, 1992, 41 64. Baltzer, Johann/Bruns Friedrich: Die Bau- und Kunstdenkmäler der Freien und Hansestadt Lübeck, III 1: Die Kirche zu Alt Lübeck. Der Dom. Lübeck 1919. Grabowski, Mieczysław: 150 Jahre Ausgrabung in Alt Lübeck; in: Gläser, Manfred/Hahn, Hans Joachim/Weibezahn, Ingrid (Hrsg): Heiden und Christen. Slawenmission im Mittelalter (Ausstellungen zur Archäologie in Lübeck 5). Lübeck 2002, 43 54. Grabowski, Mieczysław: Alt Lübeck und die Slawenmission; in: Jensen, Birgitte/Wille Jørgensen, Dorthe (Hrsg.): Expansion Integration. Danish-Baltic contacts 1147 1410 AD. Vordingborg 2009, 45 52. Haupt, Richard: Die Bau- und Kunstdenkmäler in der Provinz Schleswig-Holstein mit Einschluß benachbarter Gebiete und Landschaften, VI. Heide 1925. Hübener, Wolfgang: Die Ausgrabungen im slawischen Burgwall Alt Lübeck 1949; in: Lübecker Schriften zur Archäologie und Kulturgeschichte 3, 1980, 13 37. Kamphausen, Alfred: Die Baudenkmäler der deutschen Kolonisation in Ostholstein und die Anfänge der nordeuropäischen Backsteinarchitektur. Neumünster 1938. Kempke, Torsten: Alt Lübeck. Die Ergebnisse der Ausgrabung 1947 50, 1: Die Burgmitte; in: Lübecker Schriften zur Archäologie und Kulturgeschichte 9, 1984, 9 23. Kempke, Torsten: Alt Lübeck 1852 1986. Problemstellung, Forschungsergebnisse und offene Fragen; in: Lübecker Schriften zur Archäologie und Kulturgeschichte 11, 1985, 53 73. Kempke, Torsten: Alt Lübeck 1852 1986: Problemstellung, Forschungsergebnisse und offene Fragen; in: Lübecker Schriften zur Archäologie und Kulturgeschichte 13, 1988, 9 23. Meier, Dirk: Alt Lübeck. Die Ergebnisse der Ausgrabungen 1947 1950 (Teil 3) und 1956 1972 im nördlichen Burgbereich sowie erreichter Forschungsstand; in: Lübecker Schriften zur Archäologie und Kulturgeschichte 23, 1993, 7 46. Neugebauer, Werner: Alt Lübeck, ein Forschungsbericht; in: Offa 21/22, 1964/65, 127 283. Abbildungsnachweis Abbildungen 1, 4 und 6: Bereich Archäologie der Hansestadt Lübeck Abbildung 2: nach Neugebauer 1964/65 Abbildung 3: Zeichnung D. Simonsen Abbildung 5: nach Müller-Wille mit Ergänzung des Autors Abbildung 7: D. Braca Abbildung 8: nach Baltzer und Bruns, 1919 Abbildung 9: V. Kornienko Abbildung 10: Entwurf M. Grabowski, Zeichnung D. Simonsen 82