Florian Huber Meine DDR

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Transkript:

Leseprobe aus: Florian Huber Meine DDR Mehr Informationen zum Buch finden Sie hier. Copyright 2008 by Rowohlt Berlin Verlag GmbH, Berlin

Staatsgründung ohne Echo Der 7. Oktober des Jahres 1949 zählte für Johanna Jawinsky aus Adorf im sächsischen Vogtland nicht gerade zu den Höhepunkten ihres bisherigen Lebens. Nein, in diesem Jahr hatte sie ganz andere Erlebnisse gehabt. Im August durfte sie an den Weltfestspielen in Budapest teilnehmen. Es war das zweite Weltjugendtreffen überhaupt, ein Festival der sozialistischen Studenten und Jugendlichen und zum ersten Mal war eine Gruppe aus Deutschland dabei! 750 FDJ-Angehörige aus dem Land der Hitler-Faschisten, der Mörder, der Täter. Unter dem Motto «Für einen dauerhaften Frieden» hatten zehntausend junge Leute aus 82 Ländern zwei Wochen lang gefeiert. Als Zeichen ihres guten Willens und im Bewusstsein um die deutsche Kriegsschuld hatte die FDJ sogar Solidaritätsgeschenke für die gerade notleidende griechische Jugend mitgebracht : Operationsstühle, Medikamente und einen Sanitätswagen. Die ostdeutsche Gruppe hatte sich ihren Auftritt etwas kosten lassen. Umso ergreifender war der freundliche, ja herzliche Empfang in Budapest. Das war ohne Zweifel eine Sternstunde für die 19-jährige Johanna Jawinsky. Für sie stand fest, dass dem Kommunismus die Zukunft gehörte. Und sie wollte dabei sein. Dagegen der 7. Oktober? Für Johanna war dies kein Tag, dem sie für sich, für ihre Familie oder gar für die Menschheit besonderes Gewicht zubilligte. Dabei wurde an diesem 7. Oktober 1949 die Deutsche Demokratische Re pu blik gegründet. Der Sozialismus hatte endlich einen Staat auf deutschem Boden, im Vaterland von Karl Marx und Friedrich Engels. Ein historisches Datum, das im Laufe der nächsten vierzig Jahre immer mehr zum Mythos verklärt werden sollte. STAATSGRÜNDUNG OHNE ECHO 15

Aber im Jahr eins zeigten sich die Bürger des neuen Staates nicht besonders beeindruckt. So wie Johanna Jawinsky nahm kaum einer den Gründungsakt ernst : «Wir haben der Gründung der DDR damals keine so große Bedeutung beigemessen. Weil wir nicht dachten, dass es dabei bleiben würde.» Welche Zukunft mochte ein Staat auch haben, wenn selbst sein erster Ministerpräsident Otto Grotewohl nüchtern in seinen Kalender kritzelte : «Das Provisorium hat Gültigkeit für längstens 1 Jahr»? Und der SED-Vorsitzende und Staatspräsident Wilhelm Pieck betonte auf dem Parteitag ein paar Monate später, dass nicht die weitere Abspaltung der DDR, sondern die Wiederherstellung der Einheit mit Westdeutschland das außenpolitische Ziel des Landes sein müsse. Am zeittypischen Zeremoniell hatte es nicht gefehlt. In der bombastischen Göring-Residenz des ehemaligen Berliner Reichsluftfahrtministeriums ernannte sich der scheindemokratisch zusammengestellte Volksrat kurzerhand selbst zur «provisorischen Volkskammer» und damit zum verfassunggebenden Organ. Anschließend wurde der neue Staat proklamiert, die Redner aller Blockparteien riefen Jubelparolen in den immer wieder aufbrandenden Beifall. Doch schon draußen vor der Tür wirkte der Gründungsakt eher wie eine Zweckveranstaltung. Schmucklose Transparente mit Losungen wie «Es lebe die Deutsche Demokratische Re pu blik» waren nicht dazu angetan, die Millionen Bürger des Landes zu begeistern. Dass schließlich doch so etwas wie Feierstimmung aufkam, war dem Einsatz eines rührigen Jungkommunisten zu danken. Der 37-jährige Erich Honecker hatte niemals Zweifel am sozialistischen Weg, selbst wenn dieser zur Spaltung Deutschlands führte. Als Vorsitzender der FDJ dirigierte er zur DDR-Staatsgründung tausende Jugendliche aus der ganzen sowjetisch besetzten Zone nach Berlin. Am Abend des 11. Oktober 1949, als soeben die 16 1945 1961

11. Oktober 1949, Staatsgründung mit FDJ-Fackelzug. Manchem Berliner Bürger kam diese Form der Regierungsfeierlichkeit aus früheren Zeiten vertraut vor. selbsternannte Volkskammer Wilhelm Pieck zum Staatspräsidenten gewählt hatte, defilierte ein langer Zug von zweihunderttausend Blauhemden mit Fackeln und Fahnen an der Staatsführung Unter den Linden vorbei. Einen Fackelzug zu Ehren einer neuen Regierung sahen die Berliner ja nicht zum ersten Mal. Schon die Nationalsozialisten hatten am 30. Januar 1933 auf diese Art die Machtübernahme zelebriert. So wie damals zeigte auch diesmal der Feuerzauber seine Wirkung, und die Spitzen des Staates erinnerten sich später mit Rührung an ihre erste sozialistische Massenveranstaltung. Und die Gleichgültigkeit der meisten DDR- Bürger? «Es gibt Ereignisse im Leben eines Volkes, deren historische Größe und Tragweite mit zunehmendem Abstand immer markanter hervortreten», wie Erich Honecker später befand. STAATSGRÜNDUNG OHNE ECHO 17

Auferstanden aus Ruinen In den ersten Jahren nach Kriegsende waren viele Deutsche mehr mit den Grundfragen des Lebens und Überlebens beschäftigt als mit politischen Zukunftsentwürfen. Erst langsam begannen die Menschen den Schock der Katastrophe zu überwinden. Das galt besonders für die Sowjetische Besatzungszone. Hier war bis zum letzten Tag des Krieges erbittert gekämpft worden. Hunderttausende Wohnungen, Verkehrswege und Fabriken waren zerstört, die Versorgungslage war erbärmlich. Was an Infrastruktur und Industrieanlagen übrig blieb, wurde in mehreren Wellen demontiert und in den Osten geschafft. Über acht Jahre zogen sich die Reparationslieferungen für die Sowjetunion hin. Bis weit in die fünfziger Jahre hin ein laugten sie die DDR-Wirtschaft aus wie ein ständiger Aderlass. Millionen Menschen waren infolge des Krieges heimatlos geworden und mussten sich in fremder Umgebung unter einem strengen Besatzungsregime ihren Platz im Leben neu erkämpfen. Endlose Ströme von Flüchtlingen aus dem Osten waren in der SBZ gestrandet oder durchgeschleust worden. Im Herbst 1946 hatte jeder Vierte, der hier lebte, seine Heimat verloren. Die meisten von ihnen vegetierten in elenden Verhältnissen dahin. Elfriede Wojaczek-Steffke stammte aus einer katholischen Familie im nordmährischen Stachenwald. Dort verbrachte sie ihre Kindheit und Jugend. Als einer von wenigen Soldaten kehrte ihr Vater aus Stalingrad zurück. Die Familie wollte nach Kriegsende in ihrer Heimat bleiben, trotz der Drohgebärden durch die kommunistischen Machthaber. Doch im Sommer 1945 hatten die Siegermächte auf der Potsdamer Konferenz das Schicksal der Deutschen in den Gebieten östlich von Oder und Neiße besiegelt : ihre Zwangsaussiedlung «in ordnungsgemäßer und humaner Weise». Das Jahr 1946 war der Höhepunkt dieser vertraglich organisierten Vertreibung, und die Reihe kam auch an Stachenwald von 18 1945 1961

nun an Stachovice. Sämtliche Bewohner mussten gehen, in ein Mutterland, das gerade dabei war, sich zu spalten. «Ordnungsgemäß und human» hieß im Fall von Stachenwald, dass die eine Hälfte der Menschen in den westlichen Besatzungszonen unterkam. Die andere Hälfte landete in der Sowjetzone. Elfriede Wojaczek-Steffke war fünfzehn Jahre alt, als sie mit ihrer Familie die Koffer packen und ausreisen musste. Der Zufall brachte sie nach Brandenburg. Auffangbecken in der neuen Heimat waren die Vertriebenenlager. Ende 1946 gab es in Brandenburg fünfundzwanzig solcher Lager, die unter dem Zustrom der Zwangsumsiedler aus allen Nähten platzten. Die ersten Tage dort machten Elfriede klar, dass sie ganz unten angekommen war : Entlausung, Quarantäne, Küchen- oder Barackendienst, Nachtruhe um zehn so verlangte es Elfriede Wojaczek-Steffke (geb. 1931), hier links auf dem Bild, kam 1946 aus Nordmähren in die Sowjetische Besatzungszone. Von da an war sie keine Vertriebene mehr, sondern «Umsiedlerin». AUFERSTANDEN AUS RUINEN 19

die Lagerordnung, der sich die Flüchtlinge zu unterwerfen hatten. Aus den Tagen wurden Wochen, Monate und Jahre, in denen Elfriedes Familie in Baracken, Notwohnungen, abbruchreifen Gebäuden ohne Wasser und Strom hauste. Ein Dasein gezeichnet von Mühsal, Krankheit und Unterernährung. Mehrmals war Elfriede dem Hungertod nah : «Das war so ein schrecklicher Hunger. In diesem Winter 46 / 47 wurde der Oderbruch überschwemmt. Da waren die Kartoffeln ersoffen, man konnte sie mit der Hand ausquetschen, das Wasser lief her aus. Das haben wir in Suppen gekriegt.» Bei alledem hielt sich die Solidarität der Alteingesessenen in engen Grenzen. Flüchtlinge galten als Belastung, als nutzlose Kostgänger und Seuchengefahr. Die Behörden taten ihrer seits alles, um Herkunft und Identität der Flüchtlinge zu verleugnen. Auf Anweisung der sowjetischen Besatzer waren ab Oktober 1945 die Begriffe «Flüchtling», «Vertriebener» und «Heimatloser» nicht mehr zu verwenden. Menschen wie Elfriede Wojaczek-Steffke hatten sich «Umsiedler» oder «Neubürger «zu nennen, als hätten sie aus freien Stücken den Weg in das neue sozialistische Vaterland gesucht. An dieser Sprachregelung hielt die DDR fest bis zu ihrem Ende. Gleichzeitig war den Sowjets und den ostdeutschen Kommunisten klar, dass sie die Vertriebenen in die Gesellschaft in te grie ren mussten, wollten sie ein millionenfaches «Palästinenserproblem» vermeiden. Geschichtslos sollten die Neubürger bleiben, nicht aber perspektivlos. Schon in den Flüchtlingslagern gab es politische Veranstaltungen von KPD und später SED, Berufsberatung durch die Gewerkschaft, Gesangseinlagen der FDJ und «Bunte Abende» des Kulturamts. Solchen Bemühungen stand die Familie von Elfriede Wojaczek-Steffke höchst reserviert ge gen über : «Natürlich hatten wir Angst, nicht weil wir katholisch waren, sondern überhaupt vor den Russen und vor diesem kommunistischen Regime.» Später versuchten die Behörden, die Menschen durch Zuweisung von Arbeit, Wohnraum und Lebensmitteln als DDR- Bürger einzugliedern. Dass dies bis weit in die fünfziger Jahre hin- 20 1945 1961

ein nur in zögerlichen Schritten gelingen konnte, lag auch an den katastrophalen Lebensverhältnissen nach dem Krieg. Fünf zermürbende Jahre dauerte das Flüchtlingsdasein von Elfriede Wojaczek-Steffke, bis die Familie im osthavelländischen Hennigsdorf in einem der neuen Umsiedlerhäuser unterkam. Später bot ihr der Staat als Arbeiterkind die Chance zum Studium der Veterinärmedizin. Bis 1972 arbeitete sie als Tierärztin. Einen Grundstein für die Integration der Flüchtlinge hatte die Bodenreform gelegt. In der Propaganda als demokratischer Neuaufbau besungen, war sie eine von den Sowjets befohlene und von den ostdeutschen Genossen exekutierte Enteignungsaktion. Im September 1945, mitten in der Kartoffel- und Rübenernte, ging sämtlicher Grundbesitz über 100 Hektar entschädigungslos in staatliche Hände über. Offiziell galt die Maßnahme den ostelbischen Junkern, den Nazibauern und Kriegsverbrechern, in Wirklichkeit traf es die Großbauern jedweder Gesinnung. Mehr als drei Millionen Hektar Land kamen in die Hände der SBZ- Organe, die es in Kleinparzellen an landlose Bauern und zu einem guten Teil auch an Vertriebene verteilten. Damit hoffte die Obrigkeit, die Entwurzelten sesshaft zu machen und an den neuen Staat, der als Wohltäter auftrat, zu binden. So gelangten zahlreiche Familien aus Schlesien, Pommern oder Ostpreußen zu Landbesitz. Überall entstanden auf enteignetem Land Neubauernhöfe. Auch wenn die Arbeit eine harte Schinderei war, es an Maschinen fehlte und die Leute ihre Höfe und Dörfer mühsam aus Abrisssteinen zurechtklopfen mussten der Stolz auf ihre Aufbauleistung war mächtig. Die Ernährungslage verbesserte sich für viele spürbar und nachhaltig. Zwar konnten oder wollten nicht alle ihre neuen Höfe halten, sei es wegen der schlechten Ausrüstung oder der Zwänge der Kollektivierung. Dennoch gehörten die Flüchtlinge zu den Gewinnern der Bodenreform. AUFERSTANDEN AUS RUINEN 21