THEMEN / WELT / EUROPA GESELLSCHAFT Motivationstraining im Zeichen von Dialog und Integration Man kennt sie aus den USA: Massenveranstaltungen, auf denen charismatische Redner Ratschläge zum Lebensglück geben. In Deutschland laden neuerdings islamische Verbände Migranten türkischer Herkunft dazu ein. Der Saal jubelt. Zumindest die eine Hälfte. Die andere buht so laut, dass es auch in der benachbarten Moschee zu hören ist. Gerade hat Burak Yilmaz, der "islamische Motivationstrainer", wie er sich selbst bezeichnet, die Glaubensfrage gestellt. Allerdings nicht die nach dem religiösen Glauben, sondern nach dem Glauben an den richtigen Fußballverein. Galatasaray Istanbul oder Fenerbahce Istanbul. Arbeiterverein gegen Upper-Class-Club. Es ist eine Frage, die die fußballverrückte Türkei in zwei Lager spaltet - auch in einer Mehrzweckhalle im Leverkusener Industriegebiet. 1 von 5 27.07.2015 00:36
2 von 5 27.07.2015 00:36 Nahrung für die Seele Burak Yilmaz hat jetzt die volle Aufmerksamkeit seines Publikums. Sein Thema heute: "Lebensglück". Eingeladen hat ihn die DITIB - die Türkisch-Islamische Anstalt für Religion - und so ist er aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Gestern war er schon in Hamburg, heute in Leverkusen. "Die DITIB ist die größte islamische Organisation in Deutschland. Ein großer Teil der Moscheegemeinden in Deutschland ist unter ihrem Dach vereinigt," so Theresa Beilschmidt im DW-Gespräch. Die Soziologin von der Universität Gießen forscht in ihrer Dissertation über die Organisation: Seit einiger Zeit befinde sich die DITIB in einem Wandlungsprozess: "Der Dachverband tritt nicht mehr nur als religiöser Dienstleister auf, sondern auch als Ansprechpartner für Dialog- und Integrationsfragen." Für Hasan Aydin, einen der Organisatoren der Veranstaltung, ist "das Hauptziel des Treffens, Jugendverbände der DITIB aus ganz Nordrhein-Westfalen besser zu vernetzen". Deshalb seien auch in Zukunft weitere Veranstaltungen in Deutschland geplant. Der 25-jährige Student der Wirtschaftswissenschaften ist im Landesjugendverband der DITIB in Köln. Mit Motivationstrainer Burak Yilmaz spricht über das Lebensglück dem Aufbau einer Parallelgesellschaft hat das für ihn nichts zu tun. Im Gegenteil: Eine stärkere Vernetzung und der Austausch unter den einzelnen Jugendverbänden seien für ihn der erste Schritt zu einer verbesserten Integration, sagt er. Kommunikation und Austausch stehen auch im Zentrum der Rede von Burak Yilmaz. Das Gespräch zu suchen - mit sich selbst, seiner Umwelt, seiner Familie und mit Allah - das seien die "vier Wege zum Glück", sagt Yilmaz. Das Gebet nimmt dabei eine besondere Rolle ein: "Wie der Körper die Nahrung braucht, so muss sich auch die Seele ernähren. Und das Gebet ist die Nahrung der Seele", ruft er ins Mikrofon. Familiäre Atmosphäre Etwa tausend junge Deutsch-Türken hören ihm gebannt zu. Aus ganz Nordrhein-Westfalen sind sie nach Leverkusen gekommen. Die Atmosphäre ist familiär. Die Leute umarmen sich zur Begrüßung, lachen. Viele kennen sich. Zwischen den Tischen mit Nudelsalat und Kuchen spielen Kinder. Man spricht türkisch. Alle hier sind sunnitische Muslime. Alle haben türkische Wurzeln. Und fast alle studieren in Deutschland, haben einen deutschen Pass und sprechen akzentfrei Deutsch. "Menschen in Deutschland haben heutzutage manchmal mehrere Identitäten, die nicht unbedingt
3 von 5 27.07.2015 00:36 dem klassischen Bild eines Deutschen entsprechen und dennoch Teil der hiesigen Alltagskultur sind", so Islamforscher Bekim Agai im DW-Gespräch. Erstaunt stellt er dann aber immer wieder fest, "dass solche Gruppen oftmals als Teil einer Subkultur betrachtet werden." Dabei seien sie doch längst fester Bestandteil deutscher Realität, sagt Agai. Keine Subkultur Esma Çakmak ist in Nordrhein-Westfalen aufgewachsen, macht gerade ihren Master im Bereich Steuerwesen und trägt ein Kopftuch. "Jeder gehört doch zu irgendeiner Gruppe. Und wir sind eben deutsche Muslime mit türkischen Wurzeln, sagt die 24-Jährige im DW-Gespräch. Im Alltag beschäftige sie das Thema eigentlich aber nicht so sehr. "Nur manchmal bin ich verwundert, wenn mich die Leute auf meine guten Deutschkenntnisse ansprechen", erklärt sie lachend. "Ich denke dann immer, warum sollte ich denn kein Deutsch können? Ich bin doch hier aufgewachsen. Der Politik-Student Ramazan Yildiz stimmt ihr zu. Mit seinem modisch geschnittenen Hemd, Wollschal und seinen Sportschuhen erinnert er stark an eine Werbekampagne für junge Mode. Der Islam ist für ihn selbstverständlicher Teil seines Alltags: "Dazu gehören auch regelmäßige Moschee-Besuche und Fasten während des Ramadan." Über seine Herkunft sagt er: "Zu allererst bin ich Kölner. Erst wenn jemand weiter fragt, komme ich auf meine türkischen Wurzeln und meinen deutschen Pass zu sprechen." Ramazan Yildiz: "Zu allererst bin ich Kölner" Ein Derbysonntag in Leverkusen Bekim Agai erklärt die Bereitschaft der jungen Migranten, sich unter der Schirmherrschaft von DITIB zu treffen, vor allem durch die ähnlichen Wurzeln der Teilnehmer. "Man will endlich mal unter sich sein. Nicht immer auf seine Herkunft oder Religion reduziert werden. Und nicht immer über abgenutzte Themen wie den Türkei-Beitritt zur EU sprechen." Dazu gehöre eben auch die Tatsache, dass die Veranstaltung auf Türkisch stattfindet. "Sprache transportiert Emotionen", sagt Agai im DW-Gespräch. Sie stelle die Verbindung zur eigenen Religion, zur eigenen Kultur her. "Das trifft doch nicht nur auf Migranten in Deutschland zu. Schauen Sie sich doch die deutschen Auswanderer in den USA an, die dort seit 40 Jahren leben, perfekt integriert sind und dann zu Weihnachten trotzdem die deutschen Weihnachtslieder rauskramen", sagt der Islamwissenschaftler. Nach über vier Stunden auf der Bühne verlässt Burak Yilmaz die Veranstaltung. Die Halle bleibt dennoch gut gefüllt. Der Beamer, der bis gerade eben noch die Wegbeschreibung zum Lebensglück an die Leinwand warf, hat eine neue Aufgabe zugewiesen bekommen: Das Logo des türkischen
4 von 5 27.07.2015 00:36 Sportkanals flammt auf. 22 Spieler in den gelb-roten Vereinsfarben von Galatasaray und den blau-gelben Trikots von Fenerbahce laufen sich auf dem grünen Rasen warm. Die Gespräche verstummen, außer dem TV-Moderator und den Fangesängen aus dem Stadion in Istanbul ist kaum ein Mucks zu vernehmen. Die Leute starren wieder gebannt auf die Leinwand. Denn es ist schließlich nicht irgendein Sonntag. Es ist Derbysonntag - auch in Leverkusen. DIE REDAKT ION EMPFIEHLT Türkei - gelobtes Land für Berufseinsteiger? Viele gut ausgebildete Deutsch-Türken verlassen Deutschland in Richtung Türkei. Im Land der boomenden Wirtschaft erhoffen sie sich gute Karrierechancen. Viele unterschätzen die großen Unterschiede in der Arbeitskultur. (29.12.2013) Integration auf der Bühne lernen Studierende haben das Ensemble vor über 20 Jahren gegründet. Jetzt bringt das Türkisch-Deutsche Theater in Hildesheim Schauspieler aller Nationalitäten zusammen, egal ob jung oder alt, ob Studierende oder Berufstätige. (30.12.2013) Erste türkischstämmige Staatsministerin Die SPD-Politikerin Aydan Özoğuz wird Staatsministerin für Migration, Flüchtlinge und Integration. Zum ersten Mal gehört damit eine muslimische Frau mit türkischen Wurzeln einer Bundesregierung an. (17.12.2013) Datum 30.12.2013 Autorin/Autor Daniel Heinrich Schlagwörter Motivationstraining, DITIB, Türken, Deutschtürken, Muslime, Integration Teilen Versenden Facebook Twitter google+ mehr... Feedback: Schreiben Sie uns! Drucken Seite drucken Permalink http://dw.com/p/1aqsh MEHR ZUM T HEMA Geächtet: Atheisten in der Türkei 26.05.2015 Akgün: "Erdogan bedient Opferhaltung der Erdogan polarisiert auch Deutschtürken 19.05.2014
5 von 5 27.07.2015 00:36 Wer als Muslim geboren wird, bleibt auch Muslim, lautet ein Grundsatz in der Türkei. Der Atheistenverband Ateizm Dernegi sieht das anders. Kurz vor der Parlamentswahl in der Türkei sucht er hierzulande Unterstützer. Deutschtürken" 20.05.2014 In der Debatte um den Auftritt des türkischen Premiers in Köln spricht Lale Akgün (SPD) von einer reinen Jubelveranstaltung. Doch aus Sicht vieler Türken vertrete er ihre Interessen mehr als deutsche Politiker. Viele deutsche Politiker kritisieren den geplanten Auftritt von Recep Tayyip Erdogan in Köln. Auch unter den Türken in Deutschland ist er umstritten - was will der türkische Ministerpräsident erreichen?