I. ABHANDLUNGEN SCHADENERSATZ: COMMON LAW UND CIVIL LAW IM VERGLEICH. Von Helmuth Pree. Präzisierung der Fragestellung

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Transkript:

I. ABHANDLUNGEN SCHADENERSATZ: COMMON LAW UND CIVIL LAW IM VERGLEICH Von Helmuth Pree Präzisierung der Fragestellung Mehrere tausend Fälle sexuellen Missbrauchs durch Kleriker wurden vor USamerikanische Gerichte gebracht nicht zuletzt deshalb, weil sich das kanonische Recht nicht als effizient genug erwies, um den Opfern zu ihrem Recht zu verhelfen. 1 Die meisten Fälle endeten mit einem settlement, aber die von den betroffenen Diözesen zu leistenden Schadenersatzsummen gingen sehr oft in die Millionen Dollar, in nicht wenigen Fällen überstiegen sie 10 Millionen hinsichtlich eines Täters 2 ganz abgesehen von dem durch den Missbrauch der Kirche insgesamt zugefügten moralischen und pastoralen Schaden. Leicht gekürzte Fassung des englischen Originals Allocation of Damages A Civil Law Perspective, dem der am 20. September 2014 im Rahmen des XV. Internationalen Kongresses der Consociatio Studio Iuris Canonici Promovendo in Washington gehaltene Vortrag zugrundeliegt. Das englische Original wird in den Akten des Kongresses publiziert. 1 Thomas P. Doyle, Stephen C. Rubino, Catholic Clergy Sexual Abuse meets the Civil Law, in: Fordham Urban Law Journal 31 (2003) 549 616, 549; zu den Problemen um den sexuellen Missbrauch von Klerikern siehe Ann Underwood, Doing Justice in Cases of Clergy Abuse of Power. A Legal Perspective, in: Journal of Religion & Abuse 5 (2003) 35 65. 2 Vgl. Timothy D. Lytton, Clergy Sexual Abuse Litigation. The Policymaking Role of Tort Law, in: Connecticut Law Review 39 (2007) 809 895, 815 817.

354 Helmuth Pree AfkKR Die folgende Untersuchung nimmt das eben Gesagte zum Anlass, die Grundgedanken des Schadenersatzrechts, wie sie sich im Common Law herausgebildet haben, in Gegenüberstellung zu jenen der europäischen Kodifikationen darzustellen. Zu diesem Zweck scheint es notwendig, vorab die die beiden Rechtssysteme prägenden Charakteristika in gedrängter, überblicksmäßiger Form aufzuzeigen, bevor die Grundelemente des Schadenersatzrechts der beiden Rechtskreise erörtert werden. Soweit es um das anglo-amerikanische Case Law System geht, konzentriert sich die Untersuchung schwerpunktmäßig auf das US-amerikanische Common Law, ohne die Unterschiede zwischen dem englischen und dem amerikanischen Rechtssystem eigens zu thematisieren. Auf Seiten der europäischen Zivilrechts-Kodifikationen werden hauptsächlich das französische, österreichische, italienische und deutsche Zivilgesetzbuch ins Auge gefasst. Da sich jedoch auch die Katholische Kirche seit dem CIC/1917 des Kodifikationssystems bedient 3 wobei einige Unterschiede gegenüber den zivilen Pendants zu konstatieren sind, die es rechtfertigen, bereits vom CIC/1917 als einem codice atipico zu sprechen 4 lässt sich die rechtsvergleichende Untersuchung ebenso auf das Schadenersatzprinzip des kanonischen Rechts beziehen. 3 Vgl. Piero Antonio Bonnet, De momento codificationis pro iure Ecclesiae, in: Periodica 70 (1981) 303 368; Giorgio Feliciani, Il Concilio Vaticano I e la codificazione del diritto canonico, in: Ephemerides Iuris Canonici 33 (1977) 115 143; Carlo Fantappiè, Chiesa Romana e modernità giuridica. Bd. II: Il Codex Iuris Canonici (1917), Milano 2008, insbes. S. 988 1061; Carlo Redaelli, Codificación [cuestión de la]: Diccionario General de Derecho Canónico, Bd. II (2012) 189 196; Ca rlo R e- daelli, The Adoption of the Principle of Codification, in: Jurist 57 (1997) 249 278; Gaetano Lo Castro, La codificazione del Diritto della Chiesa, in: Gaetano Lo Castro, Il Mistero del Diritto, Bd. II. Persona e Diritto nella Chiesa, Torino 2011, 77 95. 4 Für den CIC 1917 verwendet Carlo Fantappiè das Wort: un Codice atipico : siehe Carlo Fantappiè, Chiesa Romana e modernità giuridica. Bd. II: Il Codex Iuris Canonici (1917), Milano 2008, 1052 1061. Eine kritische Analyse der Gründe und Konsequenzen der Wahl der Kodifikationstechniken in den Codices 1917 wie auch 1983 bietet: Nicolás Àlvarez de las Asturias, Derecho canónico y codificación. Alcance y límites de la asunción de una técnica, in: Ius Canonicum 51 (2011) 105 136; ders., Las dos codificaciones canónicas y su lugar en la historia, in: Folia Theologica et canonica 2013, 159 176.

182 (2013) Schadenersatz 355 I. Das US-amerikanische Common Law- und das europäische Kodifikationssytem im Vergleich 1. Historischer Hintergrund a) Kontinentaleuropäisches Recht Das Schadenersatzrecht der europäischen Zivilrechtskodifikationen wurzelt in seinen Grundzügen im Römischen Recht, wie dieses im Ius commune dem Abendland des Mittelalters überliefert wurde, und ist beeinflusst vom europäischen Naturrechtsdenken des 17. und 18. Jahrhunderts. Das Römische Recht kannte weder einen einheitlichen Begriff des Schadens noch eine einheitliche Klage (actio) zu seiner Geltendmachung. Je nach Art des Schadens und seiner Verursachung gestalteten sich der Anspruch und das Verfahren unterschiedlich. Die hauptsächliche Grundlage für die Weiterentwicklung bilden das XII-Tafel-Gesetz (ca. 450 v. Chr.) mit der dort vorgesehenen actio iniuriarum, einer pönalen Klage wegen Personenverletzung 5 sowie die Lex Aquilia (ca. 286 v. Chr.) mit Sanktionen im Falle des damnum iniuria datum 6, d. h. unrechtmäßigen und zurechenbaren Verletzungen 7, welche durch urere, frangere oder rumpere an bestimmten Gütern einer anderen Person begangen wurden. 8 Der Geschädigte erhielt nicht nur den real bezifferbaren Schaden ersetzt, sondern in aller Regel ein Vielfaches davon, als private Bestrafung des 5 Lex XII tabularum 8, 2 4. Siehe: Gai. Inst. 220 225; Iustinian. Inst. 4,4; Dig. 47,10 (Ulpianus). Vgl. Max Kaser, Rolf Knütel, Römisches Privatrecht, München 18 2005, 257 258; Heinrich Honsell, Römisches Recht, Berlin-Heidelberg 6 2006, 181; Detlef Liebs, Römisches Recht, Göttingen 6 2004, 214 222. 6 Iustinian. Inst. 4,3; Dig. 9,2. Vgl. Kaser, Knütel, Römisches Privatrecht (Anm. 5), 255 257; Honsell, Römisches Recht (Anm. 5), 173 180; Liebs, Römisches Recht (Anm. 5), 198 205. 7 Iniuria umfasst ursprünglich sowohl Rechtswidrigkeit wie auch dolus (böswillige Absicht, Vorsatz). Erst später (gegen Ende des Römischen Reiches) beginnt der Ausdruck iniuria auch culpa (Fahrlässigkeit) miteinzuschließen. Die klare Unterscheidung zwischen Rechtswidrigkeit und Zurechenbarkeit (dolus, culpa) ist das Ergebnis der weiteren Entwicklung. 8 Andere Typen von Verantwortlichkeit für Schadenersatz waren: furtum (Diebstahl), rapina (Raub); Erpressung (actio quod metus causa, Dig. 4,2; Iustinian. Inst. 4, 6, 25 und 27); Schaden verursacht durch Betrug (actio de dolo, Dig. 4,3,18 pr., 1 und 4); quasi delicta (wie Haftung auf Grundlage von culpa in eligendo); vgl. Kaser, Knütel, Römisches Privatrecht (Anm. 5), 250 259.

356 Helmuth Pree AfkKR Schädigers 9. Diese Geldstrafe trat an die Stelle von Rache und Vergeltung 10. Dies weist darauf hin, dass das Römische Recht in seinen ältesten Zeiten nicht zwischen Sühne und Vergeltung einerseits und Ersatz des Schadens andererseits differenzierte. Jedoch führte die weitere Entwicklung dazu, das pönale und das schadenersatzrechtliche Element klar voneinander zu trennen. Eben dies ging als ein das Schadenersatzrecht charakterisierender Wesenszug in die Kodifikationen ein: Der Schadenersatz beschränkt sich auf den Ersatz des erlittenen Schadens; was darüber hinaus geht (die Bestrafung des Täters in den vorgesehenen Tatbeständen), fällt unter das wesensgemäß öffentliche Strafrecht. 11 In der Frage einer Haftung für Gehilfen sind Ansätze zu erkennen (vgl. Dig. 19,2,25,7), jedoch noch keine entwickelte Regel. Vielmehr scheint in der klassischen Periode des Römischen Rechts der tragende Grundsatz zu sein: Factum alterius non nocet (ei qui nihil fecit): Dig. 39, 1, 5, 5 (Ulpian). 12 Im 12. Jahrhundert übernahm das kanonische Recht die schadenersatzrechtlichen Grundsätze des Römischen Rechts 13, stellte sie aber auf die Grundlage der christlichen Moral. Zwei Elemente schufen die Verbindung zur Moral: (1) Einer anderen Person Schaden zuzufügen ist zuallererst Sünde, und folglich ein Hindernis auf dem Weg zum Heil. Die Sünde kann aber nicht vergeben werden ohne Rückerstattung bzw. Wiedergutmachung des Schadens. Dies fand Ausdruck in zwei Regulae iuris: Peccatum non dimittitur nisi restituatur ablatum (RJ 4 in VI ); Peccati venia non datur nisi correcto (RJ 5 in VI ). 14 9 Im Römischen Recht unterschieden sich die Begriffe crimina (kriminelle Delikte) und delicta (privata): Die Erstgenannten, die crimina publica, betrafen die Öffentlichkeit, wie Hochverrat, Mord; die Zweitgenannten umfassten Rechts- und Eigentumsverletzungen von Privatpersonen, wie Körperverletzung, Diebstahl, Sachschaden. Vgl. Kaser, Knütel, Römisches Privatrecht (Anm. 5), 250 251; Liebs, Römisches Recht (Anm. 5), 188. 10 Vgl. Kaser, Knütel, Römisches Privatrecht (Anm. 5), 250. 11 Vgl. Lie bs, Römisches Recht (Anm. 5), 188 189; Detlef Lie bs, Die Klagenkonkurrenz im Römischen Recht Zur Geschichte der Scheidung von Schadensersatz und Privatstrafe, Göttingen 1972, insbes. 87 240. 12 Siehe Kaser, Knütel, Römisches Privatrecht (Anm. 5), 183 184. 13 Zur Übernahme des Römischen Rechts in das kanonische Recht vgl. José Miguel Viejo-Ximénez, La recepción del derecho romano en el Derecho canónico, in: Ius Ecclesiae 14 (2002) 375 414; Willibald M. Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts, Bd. II, Wien-München ²1962, 64, 468, 498 499 und 516. 14 Vgl. Victorius Bartoccetti, De Regulis Iuris, Roma 1955, 37 40. Zum Decretum Gratiani vgl. C 14, 6, 1; C 23, 8, 31. Vgl. Maria d Arienzo, L obbligo di riparazione del danno in Diritto Canonico. Percorsi di ricerca, Cosenza 2013, 62 69: La riparazione del danno, come espressione di pentimento del colpevole, è condizione di efficacia dell amministrazione del sacramento della confessione e dell assoluzione dei

182 (2013) Schadenersatz 357 (2) Die Tugend der Gerechtigkeit 15 verlangt die Rückerstattung bzw. den Ersatz des zugefügten Schadens; es handelt sich um ein Erfordernis der iustitia commutativa: Restitutio est actus iustitiae commutativae 16. Folglich kann der Geschädigte nicht mehr beanspruchen als den vollständigen Ersatz: Aliquis reddendo quod accepit simplum, reducit ad aequalitatem. Ergo solum tenetur restituere tantum quantum accepit. Non plus quam quis accepit, restituere tenetur. 17 Die Scholastik übte demnach einen erheblichen Einfluss auf die kirchenrechtliche Ausgestaltung des Schadenersatzrechts aus. Die Dekretale Si culpa tua (X 5, 36, 9) 18 wurde mit ihrer Festlegung der schadenersatzrechtlichen Prinzipien im kanonischen Recht zur Basis der Weiterentwicklung. C. 128 CIC/1983 19 ist das Ergebnis dieser Entwicklung und fasst die in der Substanz bereits im Dekretalenrecht vorhandenen Prinzipien zusammen. 20 Der Beitrag des kanonischen Rechts zum Problem des Schadenersatzes lässt sich in vier Elementen zusammenfassen: im Hinblick auf den Zweck: Rückerstattung und Schadensausgleich besitzen keinen Strafcharakter, sondern dienen der Wiederherstellung der iustitia commutativa. Der Anspruch des Geschädigten geht folglich nur bis zum vollen Ersatz. peccati, al fine di realizzare l appartenenza giuridicamente piena alla comunione salvifica della Chiesa (67). 15 S. Thomas übernimmt die Definition von Gerechtigkeit aus dem römischen Recht: Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuens (Iustinian. Inst. 1,1,1); Iuris praecepta haec sunt: honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere (Iustinian., Inst. 1,1,3) beide Zitate gehen zurück auf Ulpianus: Dig. 1, 1, 10. S. Thomas, II-II q. 58 a. 1: Justitia, perpetua et constans voluntas est, jus suum unicuique tribunes ; deshalb: Proprius justitiae actus est, unicuique quod suum est reddere (II-II q. 58 a. 11). 16 S. Thomas, II-II q. 62 a. 1. 17 S. Thomas, II-II q. 62 a. 3. Zur vollständigen Erklärung der Begriffe von Entschädigung und Ausgleich als Erfordernisse der Gerechtigkeit gesehen vom klassischen Standpunkt aus ( Realismus in der Tradition von Aristoteles, den römischen Juristen, Thomas, und der Scholastik) vgl. Javier Hervada, Lecciones propedéuticas de filosofía del derecho, Pamplona 4 2008, 251 302, insbes. 291 298. 18 Si culpa tua datum est damnum vel iniuria irrogata, seu aliis irrogantibus opem forte tulisti, aut haec imperitia tua sive neglegentia evenerunt: iure super his satisfacere te oportet, nec ignorantia te excusat, si scire debuisti, ex facto tuo iniuriam verisimiliter posse contingere vel iacturam. (X 5, 36, 9). Vgl. D Arienzo, L obbligo di riparazione (Anm. 14), 73 76. 19 Vgl. Helmuth Pree, On juridic acts and liability in Canon law, in: Jurist 58 (1998) 41 83 und 479 514. 20 Nähere Details bezüglich der Entwicklung hin zum CIC 1983: D Arienzo, L obbligo di riparazione (Anm. 14), 69 135.

358 Helmuth Pree AfkKR Bereits culpa levissima begründet die Schadenersatzforderung. 21 Der Ersatzanspruch erstreckt sich auf alle möglichen Arten von Schäden i. S. von Verletzungen des einer Person geschuldeten suum. Das Römische Recht bzw. das Ius commune 22 wurde im Mittelalter in weiten Teilen Europas übernommen und bis in die Neuzeit hinein als zumindest subsidiäre Rechtsquelle anerkannt. Endgültig beseitigten erst die Kodifikationen das Ius commune als verbindliche Rechtsquelle. Jedoch haben die Kodifikationen in inhaltlicher Hinsicht die gemeinsamen Wurzeln im Römischen Recht nicht aufgelöst. 23 Die ersten europäischen Privatrechtskodifikationen entstehen in der Periode der Aufklärung und stehen unter dem Einfluss rationalistischer Naturrechtslehren dieser Epoche die ratio erhält den Vorzug gegenüber auctoritas et traditio 24 : das Allgemeine Landrecht (ALR, Preußen 1794) 25 ; der Code Civil (Frankreich, 1804) 26 ; das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (ABGB, Österreich, 1811) 27. In all diesen Kodifikationen gehört das Obligationenrecht mit dem Schadenersatzrecht zu jenen Materien, die aus dem Römischen Recht übernommen wurden, so wie dieses durch den usus modernus pandectarum vermittelt und in manchen Punkten durch das aufgeklärte Naturrecht mitgeprägt worden war. 28 Das römische Rechtserbe findet sich aber ebenso im Obligationenrecht 21 Wie D Arienzo betont, ist die spezielle Wichtigkeit des subjektiven Elements als Kriterium für die Zurechenbarkeit von Schäden der wichtigste Beitrag des Kanonischen Rechts zur Frage der Verantwortlichkeit: L obbligo di riparazione (Anm. 14), 134. 22 Zum Begriff des Ius commune vgl. Emilio Bussi, Intorno al concetto di Diritto commune, Milano 1935; Klaus Luig, Gemeines Recht, in: HRG 2 II,60 77; Adriano Cavanna, Storia del diritto moderno in Europa. Le fonti e il pensiero giuridico I, Milano 1979, 21 190 und 617 643 (Bibliographie). 23 Vgl. Luigi Labruna, Ius europaeum commune. Le matrici romanistiche del diritto europeo attuale, in: Ulrich Manthe/Christoph Krampe (Hrsg.), Quaestiones Iuris. FS Joseph Georg Wolf zum 70. Geburtstag, Berlin 2000, 151 161, 157; Cavanna, Storia del diritto (Anm. 22), 193 318. 24 Vgl. Inge Kroppenberg, Kodifikation, in: HRG 2 II, 1918 1930; Cavanna, Storia del diritto (Anm. 22), 319 377. 25 Vlg. Jörn Eckert, Allgemeines Landrecht (Preußen), in: HRG 2 I, 155 162. 26 Vgl. Jean-Louis Halpérin, Code Civil, in: HRG 2 I, 861 866. 27 Vgl. Wilhelm Brauneder, Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch (Österreich), in: HRG 2 I, 146 155. 28 Vgl. Klaus Luig, Usus modernus: HRG 1 IV, 628 636: Es ist die Zeit vom beginnenden 16. Jh. bis zum Ende des 18. Jh., als das Ius commune (Römisches und Kanonisches Recht) an den Universitäten gelehrt und von den Gerichtshöfen angewendet und weiterentwickelt wurde. Es trug zum Entstehen einer systematischen und zu einem gewissen Ausmaß einheitlichen Wissenschaft des Ius commune bei, als Basis einer mo-

182 (2013) Schadenersatz 359 der sogenannten zweiten Kodifikationswelle im 19. Jahrhundert 29, wofür das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch (BGB, 1900) exemplarisch genannt sei. Die bedeutsamsten Beiträge von Seiten des Ius commune zur gegenständlichen Thematik bestehen in der generellen Anerkennung des Schuldprinzips im Recht des Schadenersatzes sowie in der Beseitigung bzw. Nichtanerkennung pönaler Elemente im Schadenersatz. 30 Dabei ist der Einfluss des kanonischen Rechts über das Ius commune nicht zu übersehen. Dem Ius commune ist es aber noch nicht gelungen, eine alle Arten von Schädigungen umfassende, generelle Schadenersatznorm zu entwickeln; es erfasste die verschiedenen Fälle von Schadenshaftung in einer eher kasuistischen Weise. 31 Die Kodifikationen des Zivilrechts erzielen den Durchbruch, indem sie auf Grundlage naturrechtlicher Gedankengänge 32 einen umfassenden Schadenersatztatbestand in Gestalt einer Generalklausel schaffen, deren Wesenselemente in der rechtswidrigen und schuldhaften (ex dolo vel ex culpa) Schädigung bestehen: Art. 1382 Code Civil (1804): Tout fait quelconque de l homme, qui cause à autrui un dommage, oblige celui par la faute, duquel il est arrivé, à le réparer. 1295 ABGB (1811): Jedermann ist berechtigt, von dem Beschädiger den Ersatz des Schadens, welchen dieser ihm aus Verschulden zugefügt hat, zu fordern; der Schaden mag durch Übertretung einer Vertragspflicht oder ohne Beziehung auf einen Vertrag verursacht worden sein. Art. 41 OR (Obligationenrecht, Schweiz, 1911): Wer einem andern widerrechtlich Schaden zufügt, sei es mit Absicht, sei es aus Fahrlässigkeit, wird ihm zum Ersatze verpflichtet. Lediglich das deutsche BGB geht über eine Generalklausel hinaus, indem es aus Gründen der Rechtssicherheit zusätzlich bestimmte Rechte und Güter aufzählt, deren Verletzung zu Schadenersatz verpflichtet. 33 Der geltende italienidernen Wissenschaft des Zivilrechts in den europäischen Ländern mit der Kodifikation des Zivilrechts. Vgl. Horst Kaufmann, Rezeption und usus modernus der actio legis Aquiliae, Köln 1958; Werner Ogris, Schaden(s)ersatz, in: HRG 1 IV, 1335 1340; Liebs, Römisches Recht (Anm. 5), 206 227; Cavanna, Storia del diritto (Anm. 22), 464 466. 29 Vgl. So z. B.: Codice Civile (Italien, 1865), Código Civil (Spanien, 1889), Obligationenrecht (Schweiz, 1881 und 1911); vgl. Inge Kroppenberg, Kodifikation, in: HRG 2 II, 1918 1930. 30 Vgl. Ogris, Schaden(s)ersatz (Anm. 28), 1337. 31 Vgl. Ogris, Schaden(s)ersatz (Anm. 28), 1337. 32 Vgl. Dig. 1. 1. 10: neminem laedere; Dig. 1. 1. 1: suum cuique tribuere. 33 Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet ( 823 I BGB).

360 Helmuth Pree AfkKR sche Codice Civile (1942), der an die Stelle jenes aus dem Jahre 1865 trat, verankert zwei Generalklauseln: die eine für die Haftung ex contractu 34, die andere für die Haftung ex delicto. 35 Die Zivilrechtskodifikationen gewähren volle Entschädigung, auch wenn in Detailregelungen durchaus Unterschiede zu beobachten sind, z. B. hinsichtlich des Berechnungsmodus des zu ersetzenden Schadens. Das römisch-rechtliche Erbe war wohl dafür verantwortlich, dass die Kodifikationen zunächst längere Zeit hindurch eine Haftung für immaterielle Schäden ausschlossen. So wurde etwa der Anspruch auf Schmerzensgeld mit dem Argument abgelehnt, es handle sich um ein pönales Element. 36 Die weitere Entwicklung führte außerdem zur Anerkennung auch immaterieller Schäden 37 sowie zum Ausbau weiterer Haftungstypen, wie namentlich der Gefährdungshaftung, Gehilfenhaftung, Amts- und Organhaftung, Produkthaftung. Derartige jüngere Haftungstatbestände finden sich zumeist in eigenen Gesetzen außerhalb der Kodifikationen des Zivilrechts. b) US-amerikanisches Recht Es wurde festgestellt, die USA hätten perhaps the most complicated legal structure that has ever been devised and made effective in man s effort to govern himself. 38 Was daran wahr ist, erschließt sich dann, wenn man das Nebeneinander von Bundesrecht und Recht der einzelnen Staaten einerseits, sowie die Parallelität von 823 853 BGB befassen sich mit Unerlaubte Handlungen. 249 292 BGB enthalten Regelungen hinsichtlich der Typen, des Inhalts oder Objekts und des Ausmaßes des Schadenersatzes, unabhängig davon, ob die Haftung resultiert ex contractu, ex delicto oder ex lege. Obwohl das preußische ALR (1794) eine Generalklausel hinsichtlich der Schadenersatzhaftung aus unerlaubter Handlung enthält (Part I, Tit. 6, 10 16), weist es gleichzeitig eine außergewöhnlich differenzierte und kasuistische Regelung auf. 34 Il debitore che non esegue esattamente la prestazione dovuta è tenuto al risarcimento del danno, se non prova che l inadempimento o il ritardo è stato determinato da impossibilità della prestazione derivante da causa a lui non imputabile (art. 1218 Codice Civile). 35 Qualunque fatto doloso o colposo, che cagiona ad altri un danno ingiusto, obbliga colui che ha commesso il fatto a risarcire il danno (art. 2043 Codice Civile). 36 Vgl. Ogris, Schaden(s)ersatz (Anm. 28), 1339. 37 Vgl. 253 BGB; art. 2059 Codice Civile. 38 Erwin Nathaniel Griswold, Law and Lawyers in the United States. The Common Law under Stress, Michigan 1964, 3.

182 (2013) Schadenersatz 361 Federal Courts und State Courts mit je eigenem Instanzenzug in der Gerichtsbarkeit andererseits, mit allen sich daraus ergebenden Problemen berücksichtigt. 39 Was im Kodifikationssystem als Zivilrecht bezeichnet wird, u. a. die Haftung aus Vertrag und unerlaubter Handlung, ist in den USA Gegenstand des Common Law und fällt folglich in die Zuständigkeit der 50 Staaten mit ihren eigenen State Courts und eigenen Gesetzen (statutory laws, by-laws). Es gibt kein federal Common Law und folglich kein allen Staaten gemeinsames Zivilrecht. 40 Dies erklärt, warum das Richterrecht (judge made law) auch im Bereich des Schadenersatzes von Staat zu Staat mitunter erheblich divergiert. Die Wurzeln des US-amerikanischen Common Law reichen in das alte englische Recht zurück. Dabei ist heute ein beachtlicher Unterschied zwischen materiellem Recht (substantive law) und Verfahrensrecht oder formellem Recht (adjective law) zu konstatieren: Das materielle Recht trägt im Wesentlichen noch die Prägung des englischen Common Law, hat aber in seiner 200-jährigen Geschichte durchaus auch manche eigene Züge angenommen. Das Verfahrensrecht hingegen, und mit ihm die Methode der Entscheidungsfindung, hat in den USA ihre eigenen Charakteristika entwickelt, die in einigen Punkten der Rechtsfindung im Kodifikationssystem ähnlicher sind als jener in England. 41 Da die Haftung für Schäden als Common Law-Materie ursprünglich von England, und zwar hauptsächlich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 42, rezipiert wurde, ist ein kurzer Blick auf die wesentlichsten Züge des englischen 39 Vgl. Konrad Zweigert, Heinz Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, Tübingen ³1996, 244 245; Dieter Blumenwitz, Einführung in das anglo-amerikanische Recht. Rechtsquellenlehre, Methode der Rechtsfindung, Arbeiten mit praktischen Fällen, München 6 1998, 29 31. 40 There is no federal general common law : U. S. Supreme Court, Erie Railroad Company v. Tompkins 304 U. S. 64 (1938) zitiert nach Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung (Anm. 39), 250; vgl. Blumenwitz, Einführung (Anm. 39), 22. Die Regelung bezieht sich auf alle Angelegenheiten, in denen der Kongress keine legislative Kompetenz besitzt. 41 Vgl. Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. II. Anglo-amerikanischer Rechtskreis, Tübingen 1975, 152. Eine ausgezeichnete und klar strukturierte Einführung in das Common Law präsentiert auch: Tomás J. Aliste Santos, Sistema de Common Law, Salamanca 2013, mit Vorwort von Joaquín Llobell, Common Law, Proceso judicial y ecología de la justicia (13 28); vgl. Joaquín Llobell, Common Law, proceso judicial y ecología de la justicia. Reflexiones de un canoniosta a propósito de un reciente libro, in: Ius Ecclesiae 26 (2014) 169 186. 42 Zu den Gründen für die Übernahme des englischen Common Law vgl. Fikentscher, Methoden des Rechts (Anm. 41), 151 154.

362 Helmuth Pree AfkKR Common Law zu werfen. Roscoe Pound (1870 1964) 43 stellte fest, das Common Law, d.h. die anglo-amerikanische Rechtstradition is essentially a mode of judicial and juristic thinking, a mode of treating legal problems rather than a fixed body of definite rules 44. In a comparison of abstract systems the Common Law is at its worst. In a test of the actual handling of single controversies it has always prevailed. 45 Dies führt zu den Hauptunterschieden zwischen dem englischen und dem kontinentaleuropäischen Rechtsverständnis. Im Unterschied zum kontinentalen Europa hat England im Rechtsdenken zu keinem Zeitpunkt die aristotelische Philosophie, die Scholastik mit Thomas von Aquin oder das Römische Recht übernommen. 46 Auch Naturrechtslehren konnten keinen Einfluss hinterlassen. Kennzeichnend für das englische Rechtsdenken war und ist die Abneigung gegenüber naturrechtlichen Prinzipien, ja gegenüber Abstraktionen und generellen Formulierungen, von welchen die konkreten Entscheidungen deduktiv abgeleitet werden sollten. 47 Iustitia (vgl. Thomas II-II q. 57) war daher niemals die zentrale Idee; anstelle deduktiven Denkens, welches von Prämissen (Normen, Prinzipien) ausgeht, tritt die induktive Methode des reasoning from case to case. Recht ist daher weder in einer metaphysischen Ordnung grundgelegt noch taugen generell-abstrakte Formulierungen zu seiner Erfassung noch besteht Recht zutiefst in einer Willensäußerung. Recht wohnt vielmehr der Lebenswirklichkeit selbst, ganz besonders den zwischenmenschlichen Beziehungen, inne: The central idea in the developed Roman system is to secure and effectuate the will. All things are deduced from or referred to the will of the actor. In our law, by contrast, the central idea is rather relation. Thus in agency, the civilian thinks of an act, a manifestation of the will, whereby one person confers a power of representation upon another, and of a legal giving effect to the will of him who confers it. Accordingly he talks of the contract of mandate. The common lawyer, on the other hand, thinks of the relation 43 Roscoe Pound ist einer der größten Rechtsphilosophen der USA aus der ersten Hälfte des 20. Jh. mit nachhaltigem Einfluss auf das Rechtsdenken ( legal pragmatism, sociological jurisprudence ): Fikentscher, Methoden des Rechts (Anm. 41), 225 236. 44 Roscoe Pound, The Spirit of the Common Law, Boston 1921, 1. 45 Pound, The Spirit of Common Law (Anm. 44), 3. 46 Vgl. Fikentscher, Methoden des Rechts (Anm. 41), 12 42 und 62 95. Roscoe Pound sagt es unverblümt: In the sixteenth century, when the Roman law was sweeping over Europe and superseding the endemic law on every hand, the common law stood firm. The Spirit of Common Law (Anm. 44), 5. Zum Ursprung und zur Entwicklung des englischen Rechts vgl. Cavanna, Storia del diritto (Anm. 22), 479 610 und 686 697 (Bibliographie). 47 Vgl. Fikentscher, Methoden des Rechts (Anm. 41), 223; Aliste Santos, Sistema de Common Law (Anm. 41), 47.

182 (2013) Schadenersatz 363 of principal and agent and of powers, rights, duties and liabilities, not as willed by the parties but as incident to and involved in the relation. He, therefore, speaks of the relation of principal and agent. 48 Mit anderen Worten: Tatsächlich bestehende Beziehungsverhältnisse, wie zwischen Vertreter und Vertretenem, Dienstgeber und Dienstnehmer, Ehemann und Ehefrau, als solche enthalten in sich jene rechtlich relevanten Elemente, von denen das Kodifikationssystem behauptet, sie ergäben sich aus dem (kodifizierten) Recht oder, auf Grundlages dieses Rechts, aus dem menschlichen Willen (z. B. Vertrag). Im Denken des Common Law erscheint folglich das Recht nicht als etwas, das außerhalb der Realität existiert und als Maßstab dienen könnte, an dem die Realität (der Fall) zu messen wäre. Die Idee einer materialen Gerechtigkeit sucht man daher im englischen Recht vergeblich. 49 In kaum zu überbietender Klarheit formuliert Roscoe Pound: Behind the characteristic doctrines and ideas and technique of the common-law lawyer there is a significant frame of mind. It is a frame of mind which habitually looks at things in the concrete, not in the abstract; which puts its faith in experience rather than in abstractions: It is a frame of mind which prefers to go forward cautiously on the basis of experience from this case or that case to the next case, as justice in each case seems to require, instead of seeking to refer everything back to supposed universals. It is a frame of mind which is not ambitious to deduce the decision for the case in hand from a proposition formulated universally It is the frame of mind behind the sure-footed Anglo- Saxon habit of dealing with things as they arise instead of anticipating them by abstract universal formulas. 50 Eine Folge davon ist, dass ein Common Law-Gericht für die Findung seiner Entscheidung ein äußerst weites Spektrum von Überlegungen und Gründen heranziehen kann, ohne darin von abstrakten gesetzlichen Tatbeständen oder Prinzipien, wie dem der Gerechtigkeit, beschränkt zu werden. Das Common Law war außerdem bis in die Neuzeit nie eine an den Universitäten gelehrte und wissenschaftlich betriebene Disziplin. 51 Es waren vielmehr die Praktiker selbst in England allen voran die vier Inns of Court welche für die Ausbildung des Nachwuchses sorgten und diesem seine Erfahrungen weitergaben. Auch dies steht in krassem Gegensatz zur Rechtsentwicklung in Kontinental-Europa, wo sowohl das Römische als auch das kanonische Recht an 48 Pound, The Spirit of the Common Law (Anm. 44), 21 f. 49 Vgl. Fikentscher, Methoden des Rechts (Anm. 41), 70. 50 Roscoe Pound, What Is the Common Law? In: The future of Common Law (1937) 3, 18 19, zitiert nach Zweigert, Kötz, Rechtsvergleichung (Anm. 39), 253. 51 Der erste Lehrstuhl für englisches Recht wurde erst 1758 in Oxford errichtet. Vgl. Zweigert,Kötz, Rechtsvergleichung (Anm. 39), 246 f.

364 Helmuth Pree AfkKR den Universitäten, seit es diese Institution gibt, gelehrt und weiterentwickelt wurde. 52 Das kanonische Recht war zwar auf der britischen Insel während der gesamten Periode der Entwicklung des Common Law (ab dem 13. Jahrhundert) präsent z. B. im Bereich der kirchlichen Gerichtsbarkeit, blieb aber ohne nennenswerten Einfluss auf das Common Law. 53 2. Der Primat des Verfahrens Die historische Entwicklung hatte fast zwangsläufig ein massives Übergewicht des prozessualen Elements über das materiell-rechtliche, des Verfahrens über die subjektiven Rechte, zur Folge (remedies precede rights). 54 Dies lässt sich auch für das US-amerikanische Recht behaupten. In Amerika, so hält Roscoe Pound fest, we have a machinery of justice devised to keep down the judicial personality which has made legal procedure in some sort an end in itself 55. Das ist nach wie vor ein Charakterzug des amerikanischen Rechtswesens, obwohl dieses Unterschiede zwischen den einzelnen Staaten aufweist. 52 Vgl. Cavanna, Storia del diritto (Anm. 22), 125 134. 53 Der Court of Chancery als Gerichtshof der Krone ( equity trials ) übernimmt zu einem gewissen Maß kanonisches Recht, vor allem die Idee der aequitas canonica manchmal auch conscience genannt um unangemessene oder unbillige Entscheidungen der Common law-gerichte aufzuheben oder zu korrigieren. Darüber hinaus war das kanonische Recht immer schon das Recht für und in Kirchentribunalen gewesen. Vgl. Javier Martínez Torrón, Diritto Canonico e common law, in: Il Diritto Ecclesiastico 102 (1991) I. 576 605; Marco Ventura, Diritto Canonico e diritti comuni in Europa, in: Quaderni di Diritto e politica ecclesiastica 2 (1993) 415 439; Alessandro Albisetti, Ermeneutica giurisprudenziale, Diritto Canonico e Common Law, in: Il Diritto Ecclesiastico (2001) 403 412; zur Entwicklung der equity : Cavanna, Storia del diritto (Anm. 22), 530 546. Vgl. Pound, The Spirit of Common Law (Anm. 44), 60 84. 54 Fi ke nts ch er, Methoden des Rechts (Anm. 41), 452 457, 462 und 465, beschreibt die Common law-methode als methodenorientiert und tatsachenbewußt (462), d. h. als konzentriert auf Methoden, Verfahren und auf eine spezielle Sensibilität für die Fakten eines Falles. Methodisch hält sich das Common Law eng an den Fall und arbeitet nahezu prämissenlos (452). 55 Pound, The Spirit of Common Law (Anm. 44), 57 58. El proceso se orienta fundamentalmente a la resolución del conflicto entre las partes y en menor medida a la búsqueda de la verdad : Aliste Santos, Sistema de Common Law (Anm. 41), 265.

182 (2013) Schadenersatz 365 Schadenersatzprozesse eine Materie des Common Law werden durch ein Geschworenengericht (jury trial) entschieden: 56 Die Jury entscheidet sowohl über den Sachverhalt (Beweiswürdigung) als auch über die Anwendbarkeit von Präjudizien oder gegebenenfalls legal rules oder principles auf den Fall und entscheidet über die Höhe des zu entrichtenden Schadenersatzes. 57 Im Hinblick auf die große Zahl der Geschworenen (zwölf, einheitlich in allen Staaten) wird jeder Zivilprozess in einer einzigen Gerichtssitzung abgehandelt und entschieden. Diese kann gegebenenfalls mehrere Tage oder auch Wochen andauern. Das hat zur Folge, dass jede Partei einerseits bereits vor Beginn des gerichtlichen Verfahrens alle Beweise und Argumente auf das Sorgfältigste vorbereitet haben, andererseits auch die Argumente und Beweise der Gegenseite genau kennen muss. Nur in Ausnahmefällen (bei Vorliegen schwerwiegender Gründe) ist eine Unterbrechung des Verfahrens möglich, z. B. um zu einem Punkt neue Beweise zu sammeln. Die Anwälte jeder Seite müssen sich ihrer Zeugen vergewissern und sie daher entsprechend vorbereiten aus europäischer Perspektive eine unzulässige Zeugenbeeinflussung. Die Rolle des Richters ist weitestgehend passiv. Er wacht über die Einhaltung der Verfahrensregeln, überlässt aber das Austragen des Rechtsstreits den Parteien selbst (und deren Anwälten): das sogenannte adversary procedure-prinzip. 58 Das Hauptmerkmal dieses adversary-systems bildet das Vorverfahren (pretrial stage, discovery), zwischen Klageerhebung und eigentlichem Verfahren: ein im Wesentlichen außergerichtlich von den Parteien geführtes Ermittlungs- und Beweiserhebungsverfahren, eine court-mandated production of information from 56 Das Recht auf ein Geschworenen-Verfahren ist garantiert im VII. Amendment der U. S.-Verfassung für Common Law-Gerichte (im Gegensatz zu Equity-Gerichten), vorausgesetzt, dass der Streitwert 20 US-Dollar übersteigt. In den meisten Bundesstaats- Gerichten werden Equity-Fälle nicht von Geschworenen entschieden: Vgl. Dan B. Dobbs, Handbook on the Law of Remedies. Damages-Equity-Restitution, St. Paul/Minnesota 1973, 8; Dirk Brockmeier, Punitive damages, multiple damages und deutscher ordre public, Tübingen 1999, 7 f.; Aliste Santos, Sistema de Common Law (Anm. 41), 165 167, 265. 57 Vgl. Zweigert, Kötz, Rechtsvergleichung (Anm. 39), 269. 58 Zu den charakteristischen Merkmalen der Common Law-Verfahren, vor allem in den USA, vgl. Zweigert, Kötz, Rechtsvergleichung (Anm. 39), 265 270; Aliste Santos, Sistema de Common Law (Anm. 41), 261 266 und 268 272, der den ideologischen Hintergrund des Adversary Procedure -Systems mit folgenden Worten beschreibt: Bien es cierto que la naturaleza adversial que caracteriza los procesos civiles en el common law estadounidense expresa la profunda interiorización de la ideología liberal en la concepción de la justicia civil estadounidense y los valores del individualismo y la libertad de elección tan queridos, arraigados y tan característicos de la cultura anglo-americana (262).

366 Helmuth Pree AfkKR other parties and non-party witnesses. 59 Discovery produces information about the merits of the lawsuit and permits parties to make informed judgments about the strength of their and their opponent s positions und führt dazu, dass de facto die meisten Verfahren in diesem Stadium enden. 60 Grundsätze, Verfahren und zulässige Mittel und Maßnahmen dieses discovery sind in den Federal Rules of Evidence (aus dem Jahr 1938, novelliert 1970), namentlich in den rules 26 37 niedergelegt. Gemäß rule 26 (b) (1) ist es jeder Partei auch ohne Einschaltung des Gerichtes gestattet, Ermittlungen zu führen regarding any matter, not privileged, that is relevant to the claim or defense of any party. 61 Die Parteien sind verpflichtet, gewisse Informationen auszutauschen (required disclosures), wie etwa Benennung von Zeugen und einschlägiger Dokumente, und können im Nachhinein weitere Informationen, sofern diese von Relevanz sind, für claims and defenses 62 anfordern; das Gericht seinerseits kann, wenn ihm die Position einer Partei als fundiert erscheint, eine breitere Erhebung über alles, was für den Gegenstand des Verfahrens relevant ist, anordnen. 63 Am Ende der discovery hat jede Partei ein sehr genaues Bild über die Fakten- und Beweislage sowie über die Argumente der anderen Seite. This expansive and intrusive approach to pre-trial discovery, followed in most American courts in civil cases, is remarkable and unusual. In most court 59 Joseph W. Glannon, Civil Procedure. Examples and Explanations, New York 5 2006, 361. Aber: Despite the aim of a party-governed discovery process, anyone involved in the process should be able to invoke the court s assistance in a situation of need, in order to remedy either abuse or recalcitrance : Kev in M. Cl ermo nt, Principles of Civil Procedure, St. Paul/MN 2005, 65. 60 Stephen C. Yeazell, Civil Procedure, New York 6 2004, 407. 61 Die Privilegien gewähren Schutz für Informationen von bestimmten Quellen, z. B. Schutz vor Selbstbeschuldigung (in einem Kriminalverfahren), Anwaltsgeheimnis (betreffend den Austausch von Informationen zwischen Anwalt und Klient in einem bestimmten Fall), Schutz des Amtsgeheimnisses. Vgl. Glannon, Civil Procedure (Anm. 59), 364 385; Yeazell, Civil Procedure (Anm. 60), 414 416. 62 Die Rules garantieren, innerhalb bestimmter Grenzen, die folgenden sechs Haupttypen von Aufklärungsmitteln: Oral Depositions; Written Depositions; Interrogatories; Production of Documents and Such; Physical and Mental Examination; and Expert Information : Clermont, Principles of Civil Procedure (Anm. 59), 62 f. und 68 71. Im Normalfall bringt sich der Richter im Vorermittlungsverfahren nicht direkt selbst ein ( does not directly participate in the exchange herself ): Glannon, Civil Procedure (Anm. 59), 362. 63 Vgl. Clermont, Principles of Civil Procedure (Anm. 59), 58; Yeazell, Civil Procedure (Anm. 60), 416 435.

182 (2013) Schadenersatz 367 systems around the world, the development of the case rests primarily in the hands of the judge. 64 In allen soeben angedeuteten Elementen unterscheidet sich das Common Law-Verfahren erheblich vom Zivilprozess kontinentaleuropäischer Prägung, der keine Jury kennt, das Verfahren in mehrere zeitlich auseinanderliegende Abschnitte gliedert und dem Richter die aktive Rolle der Prozessleitung, auch hinsichtlich der Beweisaufnahme, zuweist, und bei dem das Hauptaugenmerk nicht auf dem Verfahren, sondern auf der materialen Richtigkeit des Ergebnisses liegt. Im Common Law hängt die Entscheidung ungleich stärker als im kontinentaleuropäischen Verfahren von unvorhersehbaren Momenten ab, vor allem aber stärker vom Prozessrecht als vom materiellen Recht. Dazu kommt, dass der Kläger sich zu Beginn auf eine Klageart bzw. Verfahrensweise (remedy) festlegen muss, die er nachher nicht mehr ändern kann 65, und die daher in hohem Maße präjudiziell wirkt. 3. Das Prinzip des Stare decisis In der Konsequenz des Common Law-Systems selbst ist es angelegt, dass nicht das Gesetz, sondern das durch die Richter geschaffene Recht die primäre und entscheidende Rechtsquelle darstellt. Das Prinzip des stare decisis 66 mit den 64 Glannon, Civil Procedure (Anm. 59), 362. Aliste Santos sieht den Hauptunterschied zwischen dem Adversary-System in den USA und dem Zivilverfahren in den Europäischen Rechtssystemen, die auf der Tradition des Römischen Rechts basieren, in einer komplett unterschiedlichen ideologischen Basis, nämlich in der concepción ideologica profundamente liberal e individualista que domina el modelo procesal estadounidense más preocupado por la satisfacción de la controversia que por la búsqueda procesalmente ordenada y limitada de la verdad : Sistema de Common Law (Anm. 41), 262. 65 Vgl. Dobbs, Law of Remedies (Anm. 56), 14. Die election doctrine bezieht sich nur auf die Verfahrensform des Anspruchs, nicht auf das materielle Recht, d. h.: the plaintiff who announces that he will sue for damages instead of suing for rescission has limited his remedy to the damages claim; but the plaintiff who announces that he will sue for breach of warranty has not in any way limited the substantive theories on which he can base his case, and he can, if procedural rules affecting amendment and joinder permit it, add claims for fraud, negligence or strict liability in tort, all based on the same facts. (ebd., 16). Bezüglich der Rechtsmittel im Allgemeinen und die Implikationen der Wahl von Rechtsmitteln und hinsichtlich der Basis der election doctrine : Do bb s, Law of Remedies (Anm. 56), 13 23. 66 Vgl. Pound, The Spirit of Common Law (Anm. 44), 181 184; Zweigert, Kötz, Rechtsvergleichung (Anm. 39), 253 259; Blumenwitz, Einführung (Anm. 39),

368 Helmuth Pree AfkKR Worten Benjamin Nathan Cardozos the every day working rule of our law 67 findet in England ebenso wie in den USA Anwendung. Die zugrundeliegende Idee ist nach Roscoe Pound: The doctrine of precedents means that causes are to be judged by principles reached inductively from the judicial experience of the past, not by deduction from rules established arbitrarily by the sovereign will. In other words, reason, not arbitrary will is to be the ultimate ground of decision. 68 Grob gesagt besagt das Prinzip: Innerhalb einer bestimmten Jurisdiktion (z. B. eines Staates) entfalten die rechtskräftigen Entscheidungen der höheren Gerichte Bindewirkung gegenüber den rangniedrigeren Gerichten; dabei spielt das Alter der Vorentscheidungen keine Rolle. Die Bindewirkung bezieht sich nur auf die ratio decidendi der für die Entscheidung maßgebliche Gedanke im Unterschied zu den obiter dicta. 69 Die ratio decidendi erhält früher oder später eine abstrakte Fassung aufgrund von möglichen Neuformulierungen durch Gerichte, Gelehrte usw. und im Hinblick auf ihre Verwendbarkeit in künftigen Fällen. Diese abstrakte Fassung wird rule genannt in England gelegentlich auch principle. Die rules in ihrer Gesamtheit bilden das Common Law. 70 Die Art 24 45; Fikentscher, Methoden des Rechts (Anm. 41), 81 86 und 256 262; Günter Hager, Rechtsmethoden in Europa, Tübingen 2009, 107 109. Die Doktrin wird in Common Law- wie auch in Equity -Gerichten angewandt. 67 Das Zitat ist entnommen aus: Fikentscher, Methoden des Rechts (Anm. 41), 242. 68 Pound, The Spirit of Common Law (Anm. 44), 182 f. 69 Vgl. Fikentscher, Methoden des Rechts (Anm. 41), 86 95; Blumenwitz, Einführung (Anm. 39), 32 43. Nichtsdestotrotz ist eine Entscheidung, die einen bindenden Präzedenzfall nicht berücksichtigt, nicht ungültig. Der Präzedenzfall bleibt solange in Kraft, wie er nicht von einer späteren Entscheidung desselben oder eines höheren Gerichts oder durch ein Gesetz verworfen wird. 70 Vom theoretischen Standpunkt aus betrachtet, gibt es zwei hauptsächliche Denkweisen: Die erste setzt das Gesetz mit den Entscheidungen der Gerichte gleich; Statuary Law ist ebenso eine spezielle Art von Gesetz, das von Richtern gemacht wird und das nur in den Grenzen interpretiert und angewandt werden darf, die durch Gerichtsentscheidungen gesetzt werden; dies ist die Sichtweise des pragmatism auf philosophischer Basis von Skeptizismus oder Nihilismus (ohne Anerkennung von absoluten Werten). Diese Theorie wurde beispielsweise von Oliver Wendell Holmes vertreten. Nach der zweiten Theorie besteht das Gesetz aus rules und principles. Diese Meinung vertritt Benjamin Nathan Cardozo, der die Entwicklung der U.S.-American Case Law Method nachhaltig beeinflusste. In England wurde diese Position von John William Salmond vertreten. Vgl. Fikentscher, Methoden des Rechts (Anm. 41), 251. Nach Aussage von Cardozo (in seinem Buch The Nature of the Judicial Process, 1921), gibt es drei maßgebliche Ebenen von Gesetz: (1) der Präzedenzfall (jeder Präzedenzfall enthält eine rule); (2) das Prinzip, das mehreren Präzedenzfällen entnommen

182 (2013) Schadenersatz 369 und Weise der Auffindung einer ratio decidendi für einen anstehenden Fall sowie möglicher Unterschiede zwischen den Fällen (distinguishing), stellt das methodische Herzstück des Case Law-Systems dar. 71 Im Vergleich mit England ist die Bindewirkung der Präjudizien in den USA zumindest aus zwei Gründen deutlich reduziert: (1) die große Zahl verschiedener Jurisdiktionen (Bund, 50 Staaten) im Unterschied zum zentralisierten System in England. Die State Courts eines Staates sind nicht an die Präjudizien aus anderen Staaten gebunden; es hat sich ein gesunder Wettbewerb um die Entwicklung der tragfähigsten rules gebildet. (2) In Rechtstheorie und Methode hat das US-amerikanische Recht seit dem 19. Jahrhundert begonnen, sein Eigengepräge zu entwickeln, welches in einzelnen Punkten dem kontinentalen Denken näher kommt als dem englischen. Alles in allem erweist sich der Spielraum der Gerichte in den USA als erheblich weiter als in England. Die eher formale Methode des overruling wurde inzwischen ergänzt und teilweise ersetzt durch die weniger förmlichen Formen der transformation (Neuformulierung einer rule) und des overriding (Unterscheidung der rules durch das distinguishing). 72 Das US-amerikanische Rechtssystem erweist sich demnach als in besonderem Maße flexibel, sowohl was die Entwicklung der rules als auch das Rechtssystem als Ganzes betrifft. 73 wurde; mit anderen Worten: the ratio decidendi of more than one rule ; (3) die Gesellschaft in ihrer aktuellen Existenz (die Lebensumstände, die gesellschaftlichen Institutionen etc.). Die Regeln zusammen mit den Prinzipien formen das gesamte Gesetzeskorpus. Nach Cardozo existieren pre-established truths of universal and inflexible validity nicht im Common Law: The Nature of the Judicial Process, 20 zitiert nach Fikentscher, Methoden des Rechts (Anm. 41), 242. Im Gegensatz zur englischen Tradition existiert nach Cardozo eine Beziehung zwischen einer Norm (rule or principle) und dem Fall oder dem zu lösenden Problem: Die Norm muss auf den Fall angewendet werden. In dieser Hinsicht kommt Cardozo der kontinentaleuropäischen Rechtsmethode sehr nahe. Der größte Unterschied zwischen der englischen und der US-amerikanischen Methode ist: Wenn es keinen Präzedenzfall gibt, muss der Richter sich an die Prinzipien halten (U.S.); in England muss der neue Fall nach Brauch/Gewohnheit und in Analogie zu Präzedenzfällen behandelt werden: Fikentscher, Methoden des Rechts (Anm. 41), 63 64. 71 Vgl. Fikentscher, Methoden des Rechts (Anm. 41), 86 103. 72 Vgl. Hager, Rechtsmethoden (Anm. 66), 107. 73 Vgl. Fikentscher, Methoden des Rechts (Anm. 41), 465.

370 Helmuth Pree AfkKR II. Der Schadenersatz im US-amerikanischen und kontinentaleuropäischen Recht im Vergleich 1. Vorbemerkung Das Deliktsrecht (law of torts 74 ) des Common Law umfasst eine größere Anzahl ziviler Delikte mit Ausnahme des breach of contract wie z. B. Diffamierung, arglistige Täuschung, Belästigung, Betrug, Verleitung zum Vertragsbruch, Einschüchterung, Fahrlässigkeit (negligence 75 ). Diese Klagetypen (causes of action) bestehen unabhängig nebeneinander; jeder von ihnen schützt ein bestimmtes Interesse und hat seine eigene rechtliche Struktur. 76 Zur Durchsetzung im Verfahren stehen mehrere rechtliche Abhilfen (remedies) zu Gebote, hauptsächlich: damages remedies (Schadensausgleich in Geld); restitutionary remedies (auf Rückgabe gerichtet); coercive remedies (mit gerichtlichem Zwang bewehrter Befehl etwas zu tun oder zu unterlassen); declaratory remedies (auf Feststellung von Rechten, z. B. in einer Urkunde, gerichtet). 77 Der folgende Vergleich beschränkt sich auf damages remedies im Rahmen deliktischer Schädigungen (torts), und klammert mithin Schäden aus dem Grunde des breach of contract aus. Es ist in der Eigenart des Deliktsrechts des Common Law begründet, dass die mannigfaltigen Formen von zivilen Vergehen nicht auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können. Jedes Delikt unterliegt in seinem Tatbestand wie auch in seiner Umsetzung eigenen Anforderungen und Ausnahmen und ermöglicht je eigene Einreden. All das, zusammen mit den charakteristi- 74 Unter tort ist zu verstehen: a civil wrong, other than breach of contract, for which a remedy may be obtained, usually in the form of damages; a breach of a duty that the law imposes on persons who stand in a particular relation to one another, in: Henry Campbell Black (Hrsg.), Black s Law Dictionary 8 2005, 1247. 75 Negligence (Fahrlässiges Verhalten) ist eine der wichtigsten Arten von Delikten und anzuwenden auf Schäden, die nicht absichtlich verursacht wurden. Die Haftung für Schäden bei fahrlässigem Verhalten erfordert: (1) der Beklagte (der den Schaden verursacht hat) hat eine Sorgfaltspflicht gegenüber der Personengruppe, zu der die geschädigte Partei gehört; (2) Verstoß (Verletzung) gegen diese Pflicht; (3) der Schaden oder die Rechtsverletzung muss sich aus dem Verstoß ergeben: In order to support an action for damages for negligence the complainant has to show that he has been injured by the breach of a duty owed to him in the circumstances by the defendant to take reasonable care to avoid such injury : Lord Atkin in Donoghue v. Stevenson (1932) Law Reports, A.C. 562, 579 (zitiert aus Zweigert, Kötz, Rechtsvergleichung [Anm. 39], 611). 76 Vgl. Zweigert, Kötz, Rechtsvergleichung (Anm. 39), 607. 77 Vgl. Dobbs, Law of Remedies (Anm. 56), 1 2.

182 (2013) Schadenersatz 371 schen Zügen des US-amerikanischen Rechtssystems, führt insgesamt zu einer derartigen Komplexität, dass es ein US-amerikanisches Schadenersatzrecht als eine einheitliche Regelungsmaterie in Wahrheit nicht gibt. Im Gegensatz dazu statuieren die europäischen Kodifikationen die Schadenersatzpflicht generalklauselartig, in Gestalt genereller Normen und systematisch geordneter Regelungskomplexe. Rechtswidrige Schädigungen jeder Art können grundsätzlich unter Anwendung dieser generellen Regeln erfasst werden. Dennoch mussten und müssen auch im System der Kodifikation zahllose Detailfragen, welche das Gesetz nicht berücksichtigt hat, durch die Rechtsprechung geklärt werden. Die Art und Weise, wie das US-amerikanische Recht auf Rechtsverletzungen reagiert, erweist sich als offen und überaus flexibel sowie anpassungsfähig an neue Herausforderungen. Die europäischen Generalklauseln sind zwar einerseits flexibel, insofern sie scheinbar jede Art von Schadenszufügung erfassen, enthalten aber andererseits ein ausgesprochen statisches Element, insofern die Kriterien der Durchsetzbarkeit ein für alle Mal fixiert sind. Es liegt daher nahe, die schadenersatzrechtlichen Grundstrukturen der beiden Rechtskreise getrennt voneinander darzustellen. 2. Das Recht des Schadenersatzes und die es prägenden Grundgedanken a) US-amerikanisches Recht Das US-amerikanische Schadenersatzrecht unterscheidet grundlegend zwischen compensatory damages (auch: actual damages), welche den erwiesenen Schaden bzw. Verlust auf Seite des Geschädigten ausgleichen 78, und punitive damages (auch: exemplary, added oder aggravated damages), d. h. Beträge, die zusätzlich zur 78 Vgl. Black (Hrsg.), Black s Law Dictionary (Anm. 74), 333 335. Compensatory damages können sein: special damages (erlitten durch ein besonderes/bestimmtes Unrecht; sie müssen eigens geltend gemacht und bewiesen werden); general damages (es wird von Rechts wegen vermutet, dass sich solche Schäden aus dem Typus des eingeklagten Unrechts ergeben, wie Verlust an Freude, Unannehmlichkeiten; diese brauchen nicht speziell geltend gemacht, behauptet oder bewiesen werden) oder consequential damages (ergeben sich nicht direkt aus einem schädlichen Verhalten, sondern nur indirekt).