René Descartes: Meditationes de Prima Philosophia

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Transkript:

René Descartes - Meditationen über die erste Philosophie - S.1 René Descartes: Meditationes de Prima Philosophia 1. Meditation: Woran man zweifeln kann Ziel: Umsturz aller Meinungen, um etwas Festes und Bleibendes zu finden. Methode: irgendein Zweifel an den Grundlagen genügt, um das Ganze zum Einsturz zu bringen. Alle Meinungen kommen von den Sinnen, die Sinne aber können mich täuschen. Nicht einmal zwischen Wach-sein und Träumen vermag ich zuverlässig zu unterscheiden. Die Bilder, die mir im Traum kommen, setzen sich aus Dingen zusammen, die ich aus der Welt habe. Sie bringen daher nichts wirklich Neues. Wenn die Dinge wie im Traum auch nicht wirklich existieren mögen, finden sich doch folgende Eigenschaften immer an ihnen: Ausdehung, Gestalt, Größe und Zahl, Ort und Zeit => Arithmetik und Geometrie scheinen also sicher, wie auch die Aussage 2+3=5 durch nichts erschüttert werden zu können scheint. Vielleicht gibt es aber einen Gott, der mir diese mathematischen Zusammenhänge nur vorgaukelt, der mich so geschaffen hat, daß mir notwendigerweise alles anders vorkommen muß, als es in Wirklichkeit ist, wie ein Computer, der mit einem fehlerhaften Programm immer nur fehlerhafte Ergebnisse liefern kann. Arbeitshypothese: Die Welt und alles, was sich darauf bezieht, ist eine hartnäckige Täuschung. 2. Meditation: Über die Natur des menschlichen Geistes; daß er leichter erkennbar ist als der Körper Weiter geht s auf der Suche nach dem archimedischen Punkt, auf dem alles sichere Wissen aufgebaut ist. Vielleicht ist die einzige sichere Erkenntnis die, daß es nichts Sicheres gibt. Wenn es nun einen täuschenden Gott gibt, oder ob ich vielleicht selber der Urheber meiner Bewußtseinsinhalte bin, so gibt es doch in jedem Falle ein Ich, das entweder getäuscht wird, oder selber Bewußtseinsinhalte produziert. Ich bin also, solange ich denke, daß ich etwas sei. Aber was bin ich? Um diese Frage zu beantworten, schäle ich alle fehlerhaften Annahmen, die ich früher von mir hatte, ab, um so zum Kern der Sache zu kommen. Ich bin ein Mensch, d.h. nach dem natürlichen Bewußtsein ein Körper, durch eine Form begrenzt, mit Ort, Masse, der bewegt und wahrgenommen werden kann. Dazu gehören noch Seelentätigkeiten wie sich ernähren, gehen, empfinden, denken usw. Die Seele ist irgendein feinstoffliches Etwas. Der Körper kann aber kein Ich ausmachen, weil dies mir ja wie im Traum bloß eingegeben sein könnte, damit fallen auch auf den Körper bezogene Tätigkeiten wie gehen, sich ernähren und empfinden weg. Das Denken aber bleibt: ich bin, solange ich denke. Ich bin also ein res cogitans (= ein denkendes Ding), was Geist, Seele, Verstand, Vernunft einschließt. Was ich sonst noch bin, vermag ich mit der Einbildungskraft nicht zu erkennen, weil diese sich ja auf Körperliches bezieht. Nicht von meinem denkenden Ich trennbar sind zweifeln, einsehen, bejahen, verneinen, wollen, nicht wollen, Einbildungen und Empfindungen haben. Dies alles gehört zu mir, das ist sicher, doch über die tatsächliche Wahrheit der Einbildung oder Empfindung kann ich nichts Sicheres sagen. Komischerweise stellen sich mir die anzweifelbaren körperlichen Dinge deutlicher dar als das eigene Ich, das ich doch gewiß erkennen können müßte. Was erkenne ich aber, wenn ich Körper erkenne? Nehmen wir z.b. ein Stück Wachs. Es hat Duft, Farbe, Größe, Gestalt, Klang. Nähert man es aber dem Feuer, so verändern sich diese Eigenschaften alle, und doch bleibt es dasselbe Wachs => Alles

René Descartes - Meditationen über die erste Philosophie - S.2 mit den Sinnen Wahrzunehmende kann nicht das Wachs an sich ausgemacht haben. Auch die ganzen möglichen Formveränderungen des Wachses kann ich nicht in der Einbildung durchgehen, um das Wachs zu bestimmen, genausowenig alle Ausdehnungen des Wachses. Die imaginatio (= Einbildungskraft) kann also das Wesen des Wachses auch nicht erkennen => Allein das Denken kann das Wachs an sich erfassen. Dieses Wachs ist dasselbe, das auch die Sinne wahrnahmen, doch erfaßt werden konnte es nur durch das Denken. Draußen laufen winterlich verhüllte Gestalten herum: allein mein Denken sagt mir, daß dies Menschen sein müssen, die Sinne an sich nehmen nur winterlich verhüllte, sich bewegende Körper wahr. Allerdings folgt aus dem Erfassen des Wachses oder der Menschen an sich eher, daß Ich bin, als daß das Wachs ist, schließlich könnte es ja nur eine Täuschung sein. Die Tätigkeit des Erkennens aber gehört zu mir => das sichere Erkennen des eigenen Ich ist leichter. 3. Meditation: Über das Dasein Gottes Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse: Ich bin ein res cogitans, die Seelentätigkeiten gehören zu mir, aber über die Gewißheit ihres Inhalts kann ich nichts sagen. Was ist eine sichere Erkenntnis? Etwas, was ich so clare et distincte (= klar und deutlich) erkannt habe wie die erste Erkenntnis. Ich meinte früher, Erde, Himmel und Sterne sicher erkannt zu haben, doch jetzt weiß ich nur sicher, daß ich eine Vorstellung von ihnen habe. Das Dasein von Erde, Himmel und Sternen außerhalb meines eigenen Bewußtseins ist unsicher. Ich meinte früher auch, geometrische oder mathematische Erkenntnisse seien sicher. Durch die Hypothese des Betrügergottes haben sich auch diese als anzweifelbar herausgestellt. Um zur Gewißheit zu finden, muß ich also beweisen, daß Gott existiert, und daß er kein Betrüger ist. Alle Gedanken lassen sich in Kategorien einteilen, von denen nur einigen wenigen Bildern, wie z.b. Menschen, Engel, Himmel, Gott,... die Bezeichnung idea zukommt. Bestimmte Seelentätigkeiten wie wollen, fürchten, bejahen, verneinen umfassen neben den Dingen, auf die sie sich beziehen, noch Willen oder Urteil. Die Bilder und der Wille sind an sich, d.h. rein als Bewußtseinsinhalte aufgefaßt, wahr. Die Möglichkeit des Irrtums bezieht sich auf die Meinung, den Bewußtseinsinhalten entsprächen Dinge, die außerhalb meines Ich existierten. Diejenigen Vorstellungen, die eine Möglichkeit zu diesem Irrtum geben, lassen sich in 3 Kategorien einteilen: angeborene Vorstellungen: Einsicht zu haben von den Dingen, Begriffe wie Wahrheit oder Bewußtsein. von außen kommende Vorstellungen: Geräusche zu hören, die Wärme eines Feuers wahrzunehmen usw. von mir selbst gebildete Vorstellungen: Sirenen, Chimären und andere Fabelwesen Es geht zunächst um die von außen kommenden Vorstellungen: aus der Erfahrung, daß das Eintreten dieser Vorstellungen nicht von meiner Willkür abhängt, zog ich den Schluß, daß diese Vorstellungen von Dingen außerhalb meiner selbst herrührten und daß die Vorstellung den entsprechenden Dingen ähnlich sei. So meinte ich z.b. die Vorstellung von Wärme komme von dem Feuer, neben dem ich sitze, und das Feuer sei warm. Jetzt zweifle ich daran, denn es könnte irgendeinen Fehler in mir geben, der diese Vorstellungen erzeugt, im Traum nämlich hängt das Eintreten bestimmter Vorstellungen auch nicht von meiner Willkür ab. Und selbst wenn es stimmen sollte, daß bestimmte Vorstellungen von Dingen außerhalb meiner selbst herrühren, so müssen die Vorstellungen doch nicht den tatsächlichen Eigenschaften der

René Descartes - Meditationen über die erste Philosophie - S.3 Dinge entsprechen. So erscheint die Sonne z.b. sehr klein, während die Mathematiker sagen, sie sei sehr groß. Deshalb gehe ich einen anderen Weg: Die Ideen haben eine Hierarchie. Ihr Platz in der Hierarchie läßt sich nach ihrer objektiven (= vorgestellten) Realität festlegen. Zu den Ideen gehören Gott, die Substanzen (= das Wesen der Dinge) und die Akzidentien (= die Eigenschaften der Dinge). Nach dem Gesetz des natürlichen Lichts der Vernunft muß die Ursache mindestens soviel Realität haben wie die Wirkung => aus Nichts entsteht nichts, aus weniger Vollkommenem nichts Vollkommeneres. Das gilt auch für die Vorstellungen. Die Vorstellungen müssen also von etwas bewirkt werden, das mindestens die gleiche, oder mehr Realität besitzt => meine Vorstellungen sind also Bilder, die möglicherweise schwächer sind als die Dinge, von denen sie herrühren, aber nie stärker => wenn eine Vorstellung so real ist, daß nicht ich die Ursache sein kann, muß etwas außerhalb von mir die Ursache sein, existiert dieses also wirklich. Folgende Vorstellungen nun finden sich: Mitmenschen = ich + Körper Tiere = Körper Engel = ich + Gott Diese drei könnten daher zusammengesetzt (= von mir selbst produziert) sein, scheiden also aus. Körper = klar und deutlich erkenne ich Größe, Ausdehnung, Gestalt, Lage, Bewegung, Substanz, Dauer, Zahl. Verschwommen erkenne ich Farbe, Töne, Gerüche, Geschmack, Wärme usw. Letztere Eigenschaften sind sowieso nicht sicher genug, erstere könnten rein aus mir sein. Also fallen auch die Körper weg. Gott Gott allein bleibt übrig, Gott existiert. Als Gott bezeichne ich eine unendliche, unabhängige, allweise, allmächtige Substanz, der Schöpfer von allem ist. Ich bilde die Vorstellung von Gott ja nicht durch Übersteigerung meiner eigenen Substanz, da das unendliche Sein mehr Realität besitzt als das endliche. Ich bilde sie auch nicht durch Negation meiner Endlichkeit, weil ich nicht negieren könnte, wenn in mir keine Vorstellung von etwas Vollkommenem wäre, mit dem ich meine Endlichkeit vergleichen könnte. Es ist auch nicht die Möglichkeit meines eigenen Vollkommenseins, die mich eine Vorstellung von Gott quasi vorausprojizieren ließe, denn gerade die allmähliche Zunahme ist der sicherste Beweis für die Unvollkommenheit, während Gott von Ewigkeit vollkommen ist. Ich kann mich der Macht dieser Vernunftgründe auch nicht entziehen, indem ich annehme, ich sei immer schon gewesen. Aus der Tatsache, daß ich war, folgt nicht automatisch, daß ich bin, wenn nicht eine Kraft mich im Dasein halten würde. Eine solche Kraft aber finde ich in mir nicht => ich hänge von einem von mir verschiedenen Seienden ab, welches in letzter Ursache Gott ist. Woher habe ich nun die Vorstellung von Gott? Sie kommt nicht aus den Sinnen, ich erzeuge sie nicht aus mir selbst, da ich nichts von ihr wegnehmen und nichts zu ihr hinzufügen kann. Also ist sie angeboren. Gott hat mich mit einer Vorstellung von sich, als sein Ebenbild erschaffen. Ich erkenne Gott durch dasselbe Vermögen, durch das ich mich selbst als sein Abbild erkenne. Dieser Gott existiert und ist vollkommen. Weil er aber vollkommen ist, kann er kein Betrüger sein, da Betrug aus Mangel entsteht. Ich halte jetzt inne in der Lust des Anblicks der unermeßlichen Schönheit des göttlichen Lichts. 4. Meditation: Über das Wahre und das Falsche

René Descartes - Meditationen über die erste Philosophie - S.4 Ein Weg, um von der Gewißheit der Existenz Gottes zur Gewißheit der Existenz der anderen Dinge zu kommen bietet die Tatsache, daß Gott mich nicht täuscht. Er hat mir mein Urteilsvermögen gegeben, das mich bei richtigem Gebrauch aus dem Irrtum führt. Irre ich mich also nie? Ich bin als Geschöpf ein Mittelding zwischen Gott, dem Vollkommenem, und dem Nichts, also habe ich an beidem Anteil, daher kann ich mich täuschen. Irrtum ist daher ein Mangel an unendlicher Einsicht, eine Beraubung von der Erkenntnis, die eigentlich in mir stattfinden könnte. Hat Gott mich also unvollkommen geschaffen? Gottes Gründe sind mir nicht zugänglich, aber wenn man die Gesamtheit der Dinge betrachtet, so kann ein Ding, das für sich betrachtet unvollkommen erscheint, im Zusammenhang höchst vollkommen sein => Gott hätte außerhalb von mir noch vieles schaffen können, also besteht zumindest die Möglichkeit, daß es etwas außerhalb von mir gibt. Meine Irrtümer nun sind zweifach bedingt: durch den Verstand und den Willen (= das Wahlvermögen), wobei der Verstand eigentlich nur auffaßt, also nicht irren kann. Der Wille nun ist unendlich frei beschaffen, so daß er freier nicht gedacht werden kann. Darin erkenne ich meine Gottebenbildlichkeit. Weder göttliche Gnade noch natürliche Erkenntnis schwächen diese Freiheit. Die Indifferenz aber ist die niedrigste Stufe der Freiheit, ein Mangel an Erkenntnis. Sähe ich nämlich immer das Gute, würde ich es tun, ohne in meiner Entscheidung zu schwanken. Die Ursache des Irrtums ist folglich, daß der Wille größer als der Verstand ist. Alles, was der Mensch nicht deutlich erkennt, ist ihm indifferent, er kann sich nicht entscheiden. Wenn ich mich bei dem, was ich nicht klar erkenne, des Urteils enthalte, bewahre ich mich vor Irrtum. Andernfalls kann ich schuldhaft das Falsche urteilen oder das Richtige nur zufällig erraten. Hätte Gott es nicht so einrichten können, daß ich alles frei und richtig erkenne? Nein, denn das All ist vollkommener, wenn die Teile einander unähnlich sind (?). Der Weg des Menschen zur Wahrheit besteht darin, sich des Urteils zu enthalten, wenn die Wahrheit der Sache nicht klar erkannt werden kann. Indem ich den Willen sich nur auf das erstrecken lasse, was der Verstand klar und deutlich aufweist, ist ein Irrtum gänzlich unmöglich, denn jede wahre Auffassung hat etwas Reales und Positives, kommt nicht vom Nichts, und hat somit den wahrhaftigen Gott als Ursache. 5. Meditation: Vom Wesen der materiellen Dinge und nochmals von der Existenz Gottes Ziel: die Zweifel beseitigen, Gewißheit erlangen bzgl. der materiellen Dinge. Ich habe Vorstellungen von den materiellen Dingen: Größe, Teile, Gestalt, Lage, Ort, Bewegung usw. Dann habe ich noch Vorstellungen von Dingen, die vielleicht gar nicht existieren, aber ein unerdichtbares Wesen haben, z.b. mathematische Erkenntnisse. Dies alles ist klar und einsichtig. Zu Gottes Natur gehört das Immersein, so wie die beweisbaren Eigenschaften eines Dreiecks => Gott hat also mindestens die gleiche Gewißheit wie die mathematischen Wahrheiten, ja noch mehr, weil die Existenz Gottes nicht von seinen Eigenschaften zu trennen ist. Die Existenz eines Berges kann ja auch ohne die gleichzeitige Existenz eines Tales nicht gedacht werden. Ich kann Gott nicht anders als existierend denken => Gott existiert, aber nicht, weil ich es denke, sondern weil es so ist. Die Gewißheit aller Dinge hängt von der Gewißheit der Existenz Gottes ab, wie die mathematischen Sätze voneinander abhängen. Die Sinne überlagern oft die sichere Erkenntnis, doch die Erinnerung an die Existenz Gottes bringt die Gewißheit zurück, so daß selbst im Traum alles wahr wäre, was mein Verstand klar und deutlich einsieht. 6. Meditation: Vom Dasein der materiellen Dinge und von der realen Verschiedenheit des Geistes vom Körper

René Descartes - Meditationen über die erste Philosophie - S.5 Als Gegenstand der reinen Mathematik könnten die materiellen Dinge möglicherweise existieren. Auch die Imagination macht dies wahrscheinlich. Der Unterschied zwischen bildlichem Vorstellen und reinem Erkennen wird so deutlich: ein Dreieck kann ich mir denken und bildlich vorstellen, ein Tausendeck aber kann ich nur denkerisch erkennen, mir aber nicht die tausend Seiten vorstellen. Für das bildliche Vorstellen braucht es eine besondere Anstrengung, anders als für das bloße Erkennen. Außerdem ist die Vorstellungskraft für das Wesen meines Ich nicht erforderlich => Ursache muß deshalb etwas außerhalb meines ich sein. Naheliegend ist der Körper die Ursache. Beim reinen Erkennen richtet sich der Geist auf sich selbst, beim bildlichen Vorstellen auf den Körper. Ein Körper ist somit wahrscheinlich existent. Außer den körperlichen Eigenschaften nehme ich noch Farben, Töne usw. mit Hilfe der Sinne wahr - läßt sich daraus ein Beweis für die Existenz des Körpers gewinnen? Die Sinne vermelden mir, ich hätte einen Körper. Dieser befände sich unter andern Körpern, die ihn beeinflußten, entweder angenehm (= Lust) oder unangenehm (= Schmerz). Diese Empfindungen, Affekte und Sinneseindrücke kämen von den anderen Körpern her, so meinte ich, weil ihr Eintreten nicht von meinem Willen abhängig ist; außerdem waren die Eindrücke lebendiger als bei den selbstgemachten Vorstellungen. Sie kämen daher nicht aus mir, sondern von den anderen Dingen. Da die Vorstellungen diesen Empfindungen ähnlich sind, gibt es gar keine Empfindung außer den sinnlich erfaßten. Mein Körper gehört zu mir: ich kann mich nicht von ihm trennen, ich fühle alle Affekte mit und durch ihn, Lust und Schmerz in ihm. Lust ruft Seelenfreude, Schmerz Seelenpein hervor. Auch die verworrenen Gefühle von Durst und Hunger berühren meinen Geist, so daß ich daraus schließe, daß Geist und Körper untrennbar miteinander verquickt sind. Wäre mein Körper vom Geist getrennt, würde ich alles nur schauend und nicht in seelischer Betroffenheit wahrnehmen. Ich habe eine verschiedenartige Wahrnehmung von den mich umgebenden Körpern => sie sind tatsächlich voneinander verschieden, wenn auch die einzelnen Eindrücke vielleicht falsch sind. Die einen können als mir zuträglich, die anderen als mir abträglich erkannt werden, das lehrt mich die Natur. Dennoch kann ich getäuscht werden, z.b. durch optische Täuschungen. Die Natur lehrt mich nur die Lehre Gottes, insofern ich aus Geist und Körper bestehe. Sie lehrt uns flüchten oder Angenehmes erstreben. Die Erkenntnis der Dinge an sich ist aber dem Geist vorbehalten. So kann ich aus der Schmerzempfindung, wenn ich dem Feuer zu nahe bin, nur schließen, daß die Natur mich dies als abträglich erkennen läßt, nicht, daß im Feuer tatsächlich Schmerz sei. Die sinnlichen Wahrnehmungen dienen allein der Anzeige, ob etwas zu- oder abträglich ist. Aber warum irren wir uns manchmal in dem uns gut Tuenden? Manchmal essen Menschen z.b. eine wohlschmeckende Speise, die Gift enthält => Sie wissen ja nicht, daß sie Gift enthält, erstreben also nur das Wohlschmeckende. Wenn aber ein Kranker eine Speise verlangt, die ihm schadet? => Der menschliche Körper ist wie eine Maschine, die, wenn sie falsch eingestellt ist, trotzdem arbeitet, aber mit falschem Ergebnis. So verlangt der Kranke eine Speise, die ohne Krankheit schon richtig wäre, ihm jetzt aber schadet. Wie verträgt sich das aber mit Gottes Güte? Der Körper ist teilbar, der Geist nicht. Der Geist ist auch nicht in jedem Körperteil, denn schließlich kann ich auch noch voll denken, wenn ich einen Fuß verliere. Die Leitung der Empfindungen zum Hirn laufen nach dem Schnurprinzip: A (Fuß) --------- B ----------- C ------------ D (Hirn). Egal, ob einer bei A, B oder C zieht, wird die Schnur bewegt, das Gehirn denkt dann, der Fuß sei betroffen und versucht den Schmerzverursacher am Fuß zu entfernen. Weil die Ursache meist wirklich am Fuß ist, ist eine solche Einstellung vernünftig. Nun kann es aber vorkommen, daß die Ursache krankhafterweise bei B oder C liegt. Man kann diesen Irrtum aber verbessern, indem man mit mehreren Sinnen prüft. Sodann kann ich mit Hilfe des Gedächtnisses feststellen, ob eine Kontinuität zwischen einem Geschehen in der Vergangenheit und dem Schmerz in der Gegenwart besteht und so die Herleitung des Schmerzes prüfen. Das ist im Traum z.b. nicht möglich. Habe ich alle Sinne, Verstand und Gedächtnis benutzt, um die Wahrnehmung zu prüfen, darf ich sie als wahr ansehen, da Gott ja kein Betrüger ist. Dies gilt

René Descartes - Meditationen über die erste Philosophie - S.6 für alle Wahrnehmungen. Leider bleibt den Menschen oft viel zuwenig Zeit für eine solche Prüfung, wodurch der Irrtum in die Welt kommt.