Vorlesung 2. Deutsche Rechtlautung

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Transkript:

Vorlesung 2. Deutsche Rechtlautung 1. Der Begriff der Aussprachenorm und der Orthoepie Die Aussprachenorm ist die geregelte Sprechtätigkeit einer Sprachgemeinschaft. Sie ist eine konkrete Erscheinungsform der Sprachnorm im allgemeinen. Die Sprachnorm ist ein gesellschaftlich festgelegter und anerkannter Gebrauch von sprachlichen Ausdrucksmitteln in der Sprechtätigkeit einer Sprachgemeinschaft. Der Sprachnorm liegen zwei Aspekte zugrunde: der innere und der äußere. Der innere Aspekt der Sprachnorm besteht darin, dass die Norm nur jene Spracherscheinungen wählt, die das System der Sprache zuläßt. Die Spracherscheinungen, die zum System der Sprache im Widerspruch stehen, können nicht als Norm gelten. Der äußere Aspekt der Norm besteht darin, dass die ausgewählten Spracherscheinungen von der Gesellschaft unbedingt anerkannt und festgelegt (kodifiziert) werden sollen. Die Kodifizierung erfolgt in Form von Wörterbüchern, Grammatiken, Nachschlagewerken etc. Das Problem der Norm steht besonders akut, wenn das Sprachsystem Varianten von Spracherscheinungen zuläßt. Die Norm muss sich in diesem Fall für die Sprachvariante entscheiden, die als mustergültig gelten soll. Der Begriff Orthoepie stammt aus dem Griechischen ( orthos -richtig; epos die Rede ) und dient als Bezeichnung der sprachwissenschaftlichen Teildisziplin, die aus der Vielzahl der im sprachlichen Verkehr vorkommenden Aussprachevarianten diejenigen ermittelt, die für die Literatursprache als vorbildlich gelten. Die Orthoepie hat die Aufgabe zur Vereinheitlichung und Durchsetzung der literatursprachlichen Normen der betreffenden Sprache beizutragen. Die orthoepische Norm des Deutschen (die allgemeine deutsche Standardaussprache ) wird durch folgende wesentliche Züge charakterisiert: 1) die Aussprachenorm ist eine Gebrauchsnorm, die der Sprechwirklichkeit nahe kommt; 2) sie ist schriftnah, d.h. sie wird durch das Schriftbild bestimmt; 3) sie ist überregional, d.h. sie enthält keine typisch landschaftliche Aussprachenorm; 4) sie ist einheitlich, d.h. Varianten werden ausgeschaltet oder auf ein Mindestmass beschränkt; 5) sie ist deutlich, d.h. die Standardaussprache wird in allen Situationen gebraucht, in denen man sich nicht der Mundart bedient. Als Vorbild der Verwendung der deutschen Standardaussprache dienen drei Massenmedien: Rundfunk, Fernsehen und Film. Sie werden sprecherzieherisch ausgebildet, so dass sie mit ihrem Sprechen gültige Kriterien für die Ausbildung der Artikulations- und Hörgewohnheiten der Menschen schaffen. Die Aussprachenorm wird im Kommunikationsprozess mehr oder weniger mit Varianten realisiert, obgleich sie im Großen und Ganzen stabil ist. Der eigentliche Sprachgebrauch, der so genannte Usus, unterscheidet sich von der Norm dadurch, dass er stets eine bestimmte Anzahl nicht traditioneller oder sogar nicht korrekter Realisierungen enthält, von denen allerdings manche ziemlich stabil sein können (z.b. Gebürge statt Gebirge ; interezant statt interessant ). Der Gebrauch der Standardaussprache ist gegenwärtig, weit verbreitet und nimmt immer wieder zu, vor allem bei den mittleren und jüngeren Generationen. Die deutsche Standardaussprache wird jetzt im offiziellen Verkehr und beim Umgang mit Fremden allen anderen Existenzformen der Sprache vorgezogen. In der mündlichen Kommunikation der Sprachträger kommt es trotzdem oft zur Vermischung sprachlicher Elemente aus allen Existenzformen der Sprache mit mehr oder weniger starkem dialektalem Einschlag. In der gewöhnlichen Unterhaltung, im

ungezwungenen Gespräch herrscht die Umgangslautung vor. Die Umgangslautung ist durch die Artikulation, den Lautbestand und die Intonation mit der Mundart eng verbunden. Jede Mundart hat ihren bestimmten Klang, der in der Rede, Melodie und Satzrhythmus unmittelbar zuhören ist. Die Besonderheiten der Intonation sind für jeden Vertreter einer anderen Mundart ohrenfällig. Umgangslautung und Mundart unterscheiden sich voneinander durch ihr Verhältnis zur orthoepischen Norm. Für die Mundart haben die allgemeine orthoepische Norm und die Schrift keine Bedeutung: die Mundart hat sich außerhalb und ohne Einfluss der Standardaussprache und der Schriftsprache entwickelt. Die Umgangslautung wie die Umgangssprache im Allgemeinen setzt die Standardaussprache voraus und sie ist von der Schriftsprache abgeleitet. Die Deutschen beherrschen also mindestens zwei sprachliche Varianten, von denen in der Regel eine die Umgangssprache ist. Die gesprochene Umgangssprache beeinflusst in der letzten Zeit den schriftsprachlichen Standard. 2. Die Entstehung der deutschen Aussprachenorm Die Herausbildung der deutschen Aussprachenorm und die deutsche Ausspracheregelung sind im Zusammenhang mit der politischen, ökonomischen und kulturellen Entwicklung des Landes zu betrachten. Die Grundlage der Aussprachenorm der meisten Nationalsprachen bildeten bis zum 20-ten Jahrhundert die Aussprache der Hauptstadt des Landes. So galt die Moskauer Aussprache als Aussprachenorm für die russische Sprache, die Londoner Aussprache als die Norm für die englische Sprache, die Aussprache der Hauptstadt Frankreichs Paris war als Aussprachenorm für die französische Sprache anerkannt. Der Werdegang der Literatursprache in Deutschland und die Regelung der deutschen Aussprachenorm ging einen langen historischen Weg. Die deutsche Sprache, wie jede andere, ist nicht einheitlich: Neben der Literatursprache, die traditionell als Hochdeutsch (oder Hochsprache) bezeichnet wird, besteht diese aus mehreren Dialekten (Mundarten), die nur in bestimmten Regionen gesprochen, verstanden und selten auch geschrieben werden. Die deutschen Dielekte bilden drei große Gruppen: 1) Niederdeutsch im Norden des Landes, 2) Mitteldeutsch in Mitteldeutschland und 3) Oberdeutsch im Süden. Da Mittel- und Oberdeutsch viele gemeinsame Züge haben, werden sie zu einer größeren Gruppe vereinigt, die gewöhnlich als Hochdeutsch bezeichnet wird. (Beachten Sie die Zweideutigkeit des Terminus Hochdeutsch: Zu einem bezeichnet er die Gruppe der südlichen Dialekte, die vor allem im deutschen Hochland gesprochen werden, zum anderen wird so die deutsche Literatursprache (Schriftsprache) genannt, weil ihr Konsonantismus viele gemeinsame Züge mit dem der süddeutschen Dialekte hat.) Vor allem unterscheiden sich die deutschen Dialektgruppen durch ihre Aussprache, z.b. durch ihren Konsonantismus: Im Norddeutschen spricht man ik, maken, dorp, dat, appel, pund, im Mittel- und Oberdeutschen ich, machen, Dorf, das, Apfel, Pfund. Ebenso große Unterschiede weisen die Dialektgruppen im Vokalismus, Lexik und Grammatik auf. Die dialektale Zersplitterung der deutschen Sprache blieb lange erhalten, da die Einheit Deutschlands erst 1871 erreicht worden war. Bis zu dieser Zeit war Deutschland in mehr als 360 Länder und Fürstentümer geteilt, die politisch, sozial und kulturell recht schwach miteinander verbunden waren. Die zahlreichen Grenzen isolierten die einzelnen Regionen des Landes voneinander und das führte zur Konservation der Dialekte, so dass die Leute, die verschiedene Dialekte sprachen, einander schlecht

verstehen konnten. Keine der deutschen Großstädte wie Berlin, München, Dresden, Weimar war zur Hauptstadt erhoben. Die Sprechweise dieser Städte konnte nicht als Muster der Aussprache für ganz Deutschland dienen. Vom 15-ten bis zum 18-ten Jahrhundert spielte Obersachsen (Ostmitteldeutsch) unter den deutschen Ländern in politischer, ökonomischer und kultureller Hinsicht die führende Rolle und hier, im hochdeutschen Sprachgebiet bildete sich die einheitliche Sprachnorm vor allem die Schriftsprache o. Literatursprache heraus. Einen bedeutenden Beitrag zur Herausbildung der hochdeutschen Schriftsprache leistete der Reformator Martin Luther, der die Bibel aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzte. Die werdende einheitliche hochdeutsche Sprachnorm verbreitete sich in ostmitteldeutschen Städten und erhob sich somit über die Mundarten. Unter Hochdeutsch verstand man dabei das Musterdeutsch, das war keine gesprochene, sondern eine geschriebene Sprache. Die neue Sprachnorm erhielt in verschiedenen Gegenden bestimmte dialektale Färbungen, obwohl die Schrift fast überall bereits gleich war. Es wurden immer noch die einzelnen Mundarten gesprochen. In der 2-ten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschleunigte die Industrialisierung Deutschlands ihr Tempo, immer neue Eisenbahnlinien verbanden die deutschen Länder miteinander und so festigte sich auch das Gefühl der Zusammengehörigkeit der deutschen Bevölkerung. Diese Entwicklung verursachte die Auswanderung großer Volksmassen aus ihren angestammten Siedlungsgebieten in Städte. Die breite kulturelle und wissenschaftliche Öffentlichkeit Deutschlands sah in dieser Situation die Notwendigkeit einer Regelung der Aussprache (also, Festlegung der orthoepischen Norm). Zur Zeit der Ausspracheregelung im 19-ten Jahrhundert gewann Norddeutschland an politischer und ökonomischer Bedeutung. Die Aussprache des Niederdeutschen, das nach dem Bodenrelief des norddeutschen Tieflands genannt wurde, war reiner und hatte mehr lautliche Vorteile. Sie war auch schriftnah, d.h. sie stimmte mit der Rechtschreibung überein. So bildete die Aussprache des Norddeutschen die Grundlage für die Aussprachenorm. Die deutsche Literatursprache ist also der Form nach Hochdeutsch, der Aussprache nach Norddeutsch. Die Regelung der deutschen Aussprachenorm machte eine komplizierte Entwicklung durch. Eine allgemein gültige Ausspracheweise wurde zuerst auf dem Theater gepflegt. Schon vor etwa zweihundert Jahren hatte sich in deutschen Theatern eine Aussprachetradition herausgebildet, die frei von Dialektismen (Provinzialismen) war und als besonders rein galt. Sie wurde von Schauspielern sorgfältig gepflegt, die ja an einer allgemein verständlichen Aussprache interessiert waren und deshalb jede dialektale Beschränktheit ablehnten. Bereits 1803 versuchte J.W.Goethe das Problem der einheitlichen Aussprache zu lösen, indem er seine berühmten "Regeln für die Schauspieler" schrieb. Dort erforderte er eine vollständig reine Aussprache, auf der Bühne dürfen keine Provinzialismen vorkommen. Als Ende des 19. Jahrhunderts das Problem der Ausspracheregelung besonders aktuell wurde, befassten sich auch viele bedeutende Wissenschaftler damit: Wilhelm Viёtor, Theodor Siebs, Eduard Sievers, Karl Luick und andere. Sie machten den ersten Schritt auf dem Wege der Kodifizierung der deutschen Aussprache, indem sie die deutsche Bühnenaussprache studierten und Regeln für ihre Vereinheitlichung aufstellten. Man hatte dafür die Aussprache der führenden Schauspieler beobachtet und in phonetischer Umschrift aufgezeichnet, so dass die auf statistischer Basis aufgestellten Ausspracheregeln einen beschreibenden Charakter hatten, denn man wollte vor allem den bestehenden Gebrauch feststellen und nicht willkürliche oder subjektive Regeln formulieren. Das Ergebnis dieser mühevollen Arbeit war der erste Versuch, die normative deutsche Aussprache aufzustellen, die als deutsche Hochlautung bezeichnet wurde

und die in dem von Theodor Siebs 1898 herausgegebenen Buch Deutsche Bühnenaussprache begründet und beschrieben wurde. Das Werk von Siebs hatte einen Riesenerfolg und wurde mehrmals neuaufgelegt. Das Buch diente als praktische Anleitung für Schauspieler, weil es außer Ausspracheregeln noch ein Verzeichnis der Wörter enthielt, die beim Sprechen Schwierigkeiten bereiteten. Th. Siebs und andere Fachleute sahen ein, dass die deutsche Bühnenaussprache nicht nur für Schauspieler von Nutzen war. Alle Berufssprecher brauchten eine praktische Anleitung. Mit der Zeit traten die Mängel und Unzulänglichkeiten der siebsschen Norm mehr und mehr zu Tage. Vor allem entsprach sie nicht mehr den veränderten sozialen und kulturellen Verhältnissen, sie war mehr und mehr zu einem historischen Phänomen geworden. In der Mitte des 20. Jahrhunderts war man zur Einsicht der Notwendigkeit gekommen, die siebssche Norm zu revidieren und den neuen sozialen und kulturellen Verhältnissen anzupassen. In der damaligen DDR wurde unter der Leitung von Prof. Hans Krech eine Kommission geschaffen, die 1959 in Halle zusammentrat, um Probleme einer erlernbaren und allgemein realisierbaren Aussprachenorm zu beraten. Als Grundlage für die revidierte Aussprachenorm wurde die Sprache des Hör-und Fernsehfunks gewählt, die praktisch allgegenwärtig ist und einen ganz breiten Geltungsbereich hat. Sie kann von jedem erlernt und beherrscht werden und ist unter den heutigen Bedingungen eine allgemein anerkannte Aussprachevariante beim mündlichen Verkehr. Die auf diese Grundlage ausgearbeitete Norm wurde von ihren Schöpfern Standardaussprache genannt, die den traditionellen Begriff Hochlautung nun ersetzen sollte. 3. Die gegenwärtigen deutschsprachigen Aussprachewörterbucher und ihre Charakteristik Die Standardaussprache wurde in einer Reihe von Aussprachewörterbüchern fixiert. Derzeit gibt es in Deutschland einige deutschsprachige Aussprachewörterbücher: 1)Die Aussprache des Schriftdeutschen von Wilhelm Viёtor; 2)Das Aussprachewörterbuch von Th.Siebs; 3)Das Aussprachewörterbuch von H.Krech; 4)Das Aussprachewörterbuch von U.Stötzer; 5)Das Aussprachewörterbuch von Max Mangold. Das Werk "Die Aussprache des Schriftdeutschen" (Leipzig 1885) von W. Viёtor gilt bis heute in Deutschland. Es erlebte insgesamt fünf Auflagen. Das Aussprachewörterbuch von Th.Siebs erlebte 15 Auflagen bis Anfang des Krieges und vier Auflagen nach dem Krieg. Dabei wurde der Titel des Wörterbuchs mehrmals geändert: "Deutsche Bühnenaussprache" "Deutsche Bühnenaussprache" mit dem Untertitel "Hochsprache" "Hochsprache" mit dem Untertitel "Bühnenaussprache". Die letzte 19. Auflage trägt den Titel "Deutsche Aussprache: Reine und gemäßigte Hochlautung mit Ausspracheregeln" (1969). Es wird schon keine Bühnenaussprache mehr proklamiert, sondern "gemäßigte Hochlautung".In der Ex-DDR wurden zwei Aussprachewörterbücher herausgegeben: 1)Wörterbuch der deutschen Aussprache und 2)Großes Wörterbuch der deutschen Aussprache. "Das Wörterbuch der deutschen Aussprache" erschien unter Leitung von Hans Krech erstmalig 1964. Es erlebte vier Auflagen mit Verbesserungen. 1982 erscheint "Großes Wörterbuch der deutschen Aussprache" von Eva-Maria Krech. Außerdem wurde dreimal das Duden-Aussprachewörterbuch von Max Mangold

herausgegeben. Die letzte eine völlig neue Auflage erschien 1990 (Duden. Aussprachewörterbuch: Wörterbuch der deutschen Standardaussprache). In den letzten 15-20 Jahren ist der Trend zu einer Liberalisierung der Aussprachenormen zu verzeichnen. Die letzten Aussprachewörterbücher von Krech und Mangold haben sich von "allgemeiner deutscher Hochlautung" distanziert. Anstatt der "elitären Hochlautung" proklamieren sie schon die Standardaussprache, die im grunde genommen keinen verbindlichen Charakter hat, Aussprachevarianten zuläßt und für alle Menschen zugänglich ist. Die Gegenwartsaussprachewörterbücher haben anhand zahlreicher experimenteller und theoretischer Untersuchungen endlich Regeln aufgesetzt, die die bis jetzt strittigen phonetischen Erscheinungen betreffen: 1. die vokalische und konsonantische Realisation des R-Lautes; 2. Aspiration von stimmlosen Konsonanten p,t,k; 3. Assimilation von stimmhaften Konsonanten nach der Stimmlosigkeit; 4. Aussprachevariationen je nach dem Redestil. In Österreich und in der Schweiz gelten im allgemeinen bis jetzt die Siebsschen Aussprachenormen mit manchen Abweichungen, die im "Österreichischen Beiblatt zu Siebs" und in der "Aussprache des Hochdeutschen in der Schweiz" kodifiziert sind. Diesbezüglich kann man mit gewissem Recht behaupten, daß die deutsche Schweiz und Österreich ihre eigenen nationalen Aussprachenormen entwickelt haben.