Auswirkungen einer Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie für die Schweiz

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Transkript:

Auswirkungen einer Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie für die Schweiz Prof. Dr. Christa Tobler, LL.M. Europainstitute der Universitäten Basel und Leiden (Niederlande) Personenfreizügigkeit und Zugang zu staatlichen Leistungen 6. Mai 2014, Universität Fribourg Prvon. Dr. Christa TOBLER, LL.M. Universities von Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) christa.tobler@unibas.ch r.c.tobler@law.leidenuniv.nl http://www.europa.unibas.ch http://www.europainstituut.leidenuniv.nl Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands)

Thema Fragestellung und Vorgehen Fragestellung: Was würde die Übernahme der Richtlinie 2004/38 ( Unionsbürgerrichtlinie ) ins bilaterale Recht CH EU für den Zugang zu staatlichen Leistungen bedeuten? Beantwortung erfordert eine Unterscheidung von dem, was jetzt schon erfasst wird, und dem, was bisher nicht dazu gehört. Plus: Vergleich mit der Entwicklung im EU-Recht i.s.d. Einflusses der Unionsbürgerschaft/ Unionsbürgerrichtlinie. Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 2

Kontext Das bilaterale Umfeld Unionsbürgerrichtlinie 2004/38/EU als rote Linie des Bundesrats im Zusammenhang mit den institutionellen Fragen (Tafel 21). Die Frage betrifft eines der zahlreichen bilateralen Abkommen, nämlich das Freizügigkeitsabkommen (FZA) (Tafel 8). Dieses übernimmt EU-Recht zur Personenfreizügigkeit, aber nur teilweise (Tafel 26). Es ist bezüglich seines Inhaltes nicht auf dem EU- Stand (Tafel 33), sondern im Vergleich teilweise veraltet. Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 3

Schon jetzt erfasst: gewisse Leistungen Sozialleistungen, Sozialversicherungsleistungen Sozialleistungen nach Art. 9 Anhang I FZA (dazu sogleich mehr) Sozialversicherungsleistungen im Sinne der koordinierenden Gesetzgebung: Das bilaterale Recht umfasst das Koordinationsrecht der EU. Achtung: keine Harmonisierung, nur Koordinierung, kombiniert mit Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit. (Wird hier nicht weiter behandelt). Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 4

Leistungen im Zusammenhang mit Arbeit Sozialleistungen nach Art. 9 Anhang I FZA Abs. 1: Ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger einer Vertragspartei ist, darf aufgrund seiner Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei [...], falls er arbeitslos ist, im Hinblick auf berufliche Wiedereingliederung oder Wiedereinstellung nicht anders behandelt werden als die inländischen Arbeitnehmer. Abs. 2: Ein Arbeitnehmer und seine in Artikel 3 dieses Anhangs genannten Familienangehörigen geniessen dort die gleichen steuerlichen und sozialen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen. Entspricht Art. 7 Abs. 1 und 2 der EU-Verordnung 492/2011 (früher Verordnung 1612/68) + ganz neu die Richtlinie 2014/54. Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 5

Auslegung in der EU Einfluss der Unionsbürgerschaft Vorher enge Auslegung, z.b. Lebon (1987): Zuwandernde Arbeitssuchende haben keinen Anspruch auf Gleichbehandlung bezügl. sozialer Vergünstigungen (andere Arbeitskräfte aber schon). Nachher weitere Auslegung, z.b. Collins (2004): Angesichts der Einführung der Unionsbürgerschaft und der Gleichbehandlung mit Bezug auf die Staatsangehörigkeit ist es nicht mehr möglich, [...] eine Leistung auszunehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats erleichtern soll. Mitgliedstaat darf aber eine tatsächliche Verbindung des Arbeitssuchenden mit dem Arbeitsmarkt dieses Staates verlangen, z.b. durch ein verhältnismässiges Wohnsitzerfordernis. Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 6

Relevanz für die Schweiz? (1) Auslegung nach dem FZA Art. 16 Abs. 2 FZA als Ausgangspunkt: Soweit für die Anwendung dieses Abkommens Begriffe des [EU- Rechts] herangezogen werden, wird hierfür die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen [Union] vor dem Zeitpunkt der Unterzeichnung berücksichtigt. [...]. Bundesgericht: Handhabt die Datumsgrenze nicht formell; grundsätzlich parallele Auslegung (BGE 136 II 5). Aber: unterschiedlicher Kontext kann zu einer unterschiedlichen Auslegung führen (sog. Polydor-Prinzip). Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 7

Relevanz für die Schweiz? (2) Bundesgericht à la Polydor Z.B. BGE 136 II 65: Für die Schweiz nur bedingt massgebend sind [...] die Regeln über die Unionsbürgerschaft. Daran können nur Rechtsfolgen anknüpfen, die dem Sinn und Geist des Freizügigkeitsabkommens entsprechen und diesem zugrundeliegen. Z.B. BGE 139 II 393: Nicht anwendbar sind in der Regel nach dem Stichdatum ergangene Entscheide, soweit die Ausführungen des Gerichtshofs sich auf die Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft und deren Kernbereich beziehen [...]. [D]asselbe gilt für mit der Richtlinie 2004/38/EG neu eingeführte Rechte [...] wie etwa den bedingungslosen Anspruch auf Daueranwesenheit nach ununterbrochenem fünfjährigem (rechtmässigem) Aufenthalt [...] oder das voraussetzungslose Aufenthaltsrecht von bis zu drei Monaten [...]. Also: begrenzte Relevanz; BGer nimmt die Unionsbürgerschaft sozusagen aus. Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 8

Andere Sozialleistungen (1) EU-Recht vor der Unionsbürgerschaft Alte Richtlinien über Nichterwerbstätige (Studierende, Pensionierte, Layabouts ). Schlossen grundsätzlich ein Recht auf Sozialhilfe aus (u.a. keine unangemessene Belastung der Sozialsysteme). Entspricht dem heutigen Stand des FZA: Diverses altes EU-Sekundärrecht (inkl. jenes über Nichterwerbstätige) ist entweder in den Text inkorporiert oder es wird darauf verwiesen. EU trug die Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie an, Schweiz lehnte ab (2011). Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 9

Andere Sozialleistungen (2) Nach der Einführung der Unionsbürgerschaft, aber vor der Unionsbürgerrichtlinie Neue Auslegung des alten Rechts, ähnlich wie Collins. Z.B. Bidar (2005), betr. Studiendarlehen und vor dem Hintergrund der Richtlinie 93/96/EWG: Richtlinie schliesst Studienbeihilfen aus. Diese fallen aber jetzt unter die Vertragsbestimmungen über Unionsbürgerschaft, was ein Recht auf Gleichbehandlung mit inländischen Staatsangehörigkeit zur Folge hat. Das EU-Recht erfordert eine gewisse finanzielle Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten, was aber nicht zu einer übermässigen Belastung führen darf. Die Mitgliedstaaten dürfen deshalb ein gewisses Mass an Integration verlangen. Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 10

Sozialleistungen (3) Neue Rechtsgrundlage mit der Unionsbürgerrichtlinie Art. 24 der Richtlinie, mit zwei Absätzen. Grundsatz der Gleichbehandlung, Abs. 1: Vorbehaltlich spezifischer und ausdrücklich im Vertrag und im abgeleiteten Recht vorgesehener Bestimmungen genießt jeder Unionsbürger, der sich aufgrund dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, im Anwendungsbereich des Vertrags die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats. Das Recht auf Gleichbehandlung erstreckt sich auch auf Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und das Recht auf Aufenthalt oder das Recht auf Daueraufenthalt genießen. Schliesst grundsätzlich auch Sozialleistungen ein, bestätigt durch Abs. 2. Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 11

Sozialleistungen (4) Grenzen der Gleichbehandlung nach Art. 24 Abs. 2 Abweichend von Absatz 1 ist der Aufnahmemitgliedstaat jedoch nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Artikel 14 Absatz 4 Buchstabe b einen Anspruch auf Sozialhilfe oder vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt Studienbeihilfen, einschließlich Beihilfen zur Berufsausbildung, in Form eines Stipendiums oder Studiendarlehens, zu gewähren. Verweisung auf Art. 14 Abs. 4 Buchst. b: Arbeitssuchende und ihre Familienangehörigen dürfen nicht ausgewiesen werden, solange sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und dass sie eine begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden. Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 12

Sozialleistungen (5) Weitere wichtige Vorgaben Erwägung 10 in der Präambel: Allerdings sollten Personen, die ihr Aufenthaltsrecht ausüben, während ihres ersten Aufenthalts die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen. Daher sollte das Aufenthaltsrecht von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen für eine Dauer von über drei Monaten bestimmten Bedingungen unterliegen. Erwägung 16 in der Präambel und Art. 14 Abs. 3: Solange die Aufenthaltsberechtigten die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen, sollte keine Ausweisung erfolgen. Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 13

Sozialleistungen (6) Abgrenzung zwischen verschiedenen Arten von Leistungen EuGH in Vatsouras (2009): Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, sind keine Sozialleistungen im Sinne von Art. 24 der Unionsbürgerrichtlinie. Betrifft u.a. auch finanzielle Leistungen, z.b. job seekers allowance (Vatsouras). Bedeutung? Rechtsgrundlage für Anspruch, und wohl auch die Anwendbarkeit von Art. 24 Abs. 2 AEUV. Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 14

Sozialleistungen (7) Weiterer Anwendungsbereich Die Unionsbürgerrichtlinie hat im Vergleich zum alten Recht einen weiteren Anwendungsbereich. Z.B. Definition der Familienangehörigen: Schliesst auch registrierte Partnerschaften ein, wenn vom Aufnahmestaat als mit der Ehe gleichwertig anerkannt. Z.B. Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen bei Scheidung oder Aufhebung der Ehe oder bei Beendigung der eingetragenen Partnerschaft. Aber: angesichts der Praxis zu Art. 50 des schweizerischen Ausländergesetzes würde dies wohl nichts ändern. Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 15

Zum Vergleich: Fall Dano (1) Sozialtourismus? Gewisse, Aufsehen erregende Fälle (Presse) sind dies m.e. weniger wegen des EU-Rechts als wegen der nationalen Praxis zur Aufenthaltsberechtigung. Kommission veröffentlichte einen Leitfaden zur Verhinderung von Sozialtourismus (2014). Z.B. Rs. C-333/13 Dano, hängig: Die Rumänin Elisabeta Dano lebt mit ihrem Sohn in Leipzig. Sie lebt in der Wohnung ihrer Schwester, welche ihr Lebensmittel gibt. Sie besuchte drei Jahre die Schule, hat keinen Berufsabschluss und war noch nie erwerbstätig. Hat sie Recht auf Sozialleistungen des deutschen Staates (Hartz VI)? Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 16

Zum Vergleich: Fall Dano (2) nach jetzigem bilateralem Recht Frage, ob Frau Dano überhaupt ein Aufenthaltsrecht in der Schweiz hätte. Voraussetzungen in einem solchen Fall: genügend Mittel für Lebensunterhalt und umfassende Krankenversicherung. Vermutlich nein, es sei denn, die Schwester zahle alles. Wenn nein, dann in der Folge auch kein Recht auf Sozialleistungen. Vgl. BGE 2C_390/2013 vom 10. April 2014, betr. langzeitarbeitslose Portugiesin, die jetzt die Schweiz verlassen muss (schriftliche Begründung steht noch aus). Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 17

Zum Vergleich: Fall Dano (3) nach Unionsbürgerrichtlinie Aufenthaltsrecht nach der Unionsbürgerrichtlinie? Tatsache ist, dass Leipzig Frau Dano eine unbefristete Freizügigkeitsbescheinigung für EU-Bürger (!) ausstellte. Frau Dano erhielt bis zu einem gewissen Zeitpunkt bestimmte Sozial(-versicherungs-)leistungen. Und jetzt? Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH. Aufsehen erregende Stellungnahme der Kommission: Keine Automatismen in der Ablehnung (logisch bei Anforderung der nicht unangemessenen in Anspruchnahme; vgl. auch frühere Rechtsprechung, insbes. Brey). Wird EU-rechtlich relevant sein, ob rechtmässiger Aufenthalt vorliegt, auch nur nach nationalem Recht (Trojani)? Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 18

Übernahme durch die Schweiz Formale Aspekte (Übernahmemodus) Übernahme der Richtlinie 2004/38/EU würde eine Anpassung des FZA durch formelle Vertragsänderung erfordern (keine Kompetenz des Gemischten Ausschusses) (Tafel 15). Technik auf der Ebene des Textes des FZA? Falls Integration in den Text: begrenzte Übernahme durch nur teilweise Einfügung? Falls durch Verweisung auf die Richtlinie: Wie im EWR mit carve out betr. Unionsbürgerschaft? Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 19

Zum Vergleich: EWR (1) Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie Hintergrund: Übernahmewunsch der EU, mit dem Argument, die Richtlinie sei eine Weiterentwicklung der alten Gesetzgebung zu Aus- und Einreise, Aufenthalt und Gleichbehandlung. V.a. Liechtenstein wollte die Richtlinie aber erst nicht übernehmen, mit dem (zutreffenden) Argument, die Unionsbürgerschaft sei nicht Teil des EWR-Rechts. EU weigerte sich, einzelne Bestimmungen der Richtlinie als für den EWR nicht relevant zu erklären (d.h. auszunehmen). Als Kompromiss carve out im EWR-Recht: Übernahme durch Beschluss 158/2007 des Gemischten EWR- Ausschusses (ABl. 2008 L 124/20). Lässt allerdings viele Fragen offen... Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 20

Zum Vergleich: EWR (2) Carve out bezüglich Unionsbürgerschaft Präambel des Beschlusses: Das Abkommen beinhaltet nicht den Begriff der Unionsbürgerschaft ; es betrifft nicht die Einwanderungspolitik (gemeint: ausserhalb der EWR- Freizügigkeitsregeln). Art. 1 Abs. 1 (betr. Freizügigkeit der Arbeitskräfte): [...] Die Richtlinie gilt für die Zwecke des Abkommens mit folgenden Anpassungen: a) Die Richtlinie gilt entsprechend für die unter diesen Anhang fallenden Bereiche. Art. 2 Abs. 1, für Anhang V des EWR-Abkommens (betr. (Niederlassung, Dienstleistungen): die Richtlinie gilt in der für die Zwecke des Abkommens angepassten Fassung entsprechend für die unter diesen Anhang fallenden Bereiche. Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 21

Zum Vergleich: EWR (3) Praktische Bedeutung? Text überlässt es bewusst der Rechtsprechung, durch Auslegung die Bedeutung des carve out zu ermitteln. Erster Hinweis (obiter dictum) des EFTA-Gerichtshofs im Hells Angels-Fall (2013): [T]he impact of the exclusions must be assessed on a case-by-case basis and may vary accordingly. In this regard, it must be noted that, as is apparent from Article 1(a) and recital 3 in its preamble, the Directive aims in particular to strengthen the right of free movement and residence of EEA nationals [ ]. The impact of the exclusion of the concept of [Union] citizenship has to be determined, in particular, in cases concerning Article 24 of the Directive which essentially deals with the equal treatment of family members who are not nationals of a Member State and who have the right of residence or permanent residence. Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 22

Relevanz für die Schweiz Ebenfalls Modell des carve out? These: Offensichtlich kann von der Schweiz nicht mehr verlangt werden als von den EWR/EFTA-Staaten. Ein carve out entsprechend dem EWR-Recht würde auch zur Bundesgerichtsrechtsprechung zum bisherigen bilateralen Recht passen. Allerdings: der Bundesrat spricht von einer roten Linie d.h. er will die Richtlinie auf keinen Fall. Falls es doch zumindest teilweise dazu käme: was könnte die Schweiz aus der bisherigen Erfahrung mit dem EWR lernen? Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 23

Zum Schluss: Analyse der Lage Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 24

Danke für Ihre Aufmerksamkeit! Kontakt: christa.tobler@unibas.ch oder r.c.tobler@law.leidenuniv.nl Tafeln: Christa Tobler/Jacques Beglinger, Grundzüge des bilateralen (Wirtschafts-)Rechts. Systematische Darstellung in Text und Tafeln, 2 Bände, Zürich/St. Gallen: Dike 2013 (z.t. aufdatiert) Prof. Dr. Christa TOBLER, LL.M., Universities of Basel (Switzerland) and Leiden (The Netherlands) 25